D a s Publikum gibt es eigentlich gar nicht. Diese Gruppe aus Menschen, die Unterhaltung, Zerstreuung, Anregung und Auseinandersetzung bei kulturellen Veranstaltungen diverser Art sucht, ist eine schwer zu definierende Spezies. Im "Jahrbuch für Kulturpolitik", herausgegeben vom Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, haben es 44 Autoren und Autorinnen das Publikum auf die Bühne geholt. Insofern korrespondiert der Band mit dem kulturpolitischen Bundeskongress, der sich Ende Juni in Berlin mit dem gleichen Thema befasste.
Der Band bietet eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich ein differenziertes Bild über diesen wichtigen Part des Kulturbetriebes zu machen. Autoren aus Wissenschaft, Politik und kultureller Praxis zoomen diese Klientel heran, die nicht einfach zu gewinnen und zu binden sind. Das müssen Kulturinstitutionen in Zukunft immer stärker leisten, wollen sie ihre Existenz sichern. Insofern spricht der Band alle an, die für sich die Frage beantworten müssen: "Wo bitte geht es zum Kulturpublikum?"
Vermittlungsinstanz
Fünf Schwerpunkte lassen die freie Wahl, sich dem Thema anzunähern. Im ersten Abschnitt steht die kulturpolitische Dimension im Mittelpunkt. Danach folgen Ergebnisse der empirischen Publikumsforschung von Zeitbudget- und Mediennutzungsstudien bis zu Untersuchungen in einzelnen Sparten. Der dritte Abschnitt beantwortet die Frage, wie sich Publikum zusammensetzt. Ausgangspunkt sind die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die kulturelle Infrastruktur. Im Zentrum stehen dabei konkrete Studien zu einzelnen Einrichtungen und gesellschaftlichen Gruppen mit besonderem Augenmerk auf Kinder und Jugendliche. Wie Publikum gewonnen und vor allem gebunden werden kann, zeigen Beispiele im vierten Teil. Drei Beiträge zu Methoden der Besucherforschung runden das Schwerpunktthema ab.
Kulturstaatsministerin Christina Weiss plädiert vor allem dafür, dass sich Kulturpolitik stärker als Vermittlungsinstanz begreifen muss, damit Künste in die Gesellschaften wirken können, und dass dafür neue Orte und Strukturen geschaffen werden. Ausgehend vom "Education Project" der Berliner Philharmoniker und des "Audience Development Program" in Großbritannien zeigt Birgit Mandel von der Universität Hildesheim strukturelle Schranken in der deutschen Kulturpolitik auf, die hier einen ähnlichen Ansatz erschweren. Diese sieht sie besonders in der "Autonomie der Künste" als höchstem kulturpolitischen Gut, in der kulturpolitischen Angebots- statt Nachfrageorientierung und in einer weitgehenden Beschränkung kultureller Bildung auf Kinder und Jugendliche.
Wer Publikum gewinnen will, muss sich auf einen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit einlassen. Christa-Maria Ridder von der Zeitschrift "Media Perspektiven" greift Entwicklung und Struktur der Nutzung von Massenkommunikationsmedien auf, setzt diese in Beziehung zu kulturellen Aktivitäten und geht besonders auf die starke Angebotserhöhung in vielen Bereichen und den dadurch gestiegenen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit ein.
Der Aspekt, dass die deutsche Gesellschaft eine multiethnische ist und auch ein anderes Kulturpublikum hervorbringt, somit eine andere Kulturpolitik erfordert, ist lange vernachlässigt worden. Rolf Graser, Geschäftsführer des "Forums der Kulturen Stuttgart", schreibt über "Migranten als Kulturpublikum" aus dem Blickwinkel praktischer Erfahrungen.
Vorbild Kino
Es ist immer mit Risiken verbunden, einzelne Beiträge eines Jahrbuchs herauszugreifen. Doch wer mit gutem und erfolgreichem Beispiel vorangeht, sollte erwähnt werden. Michael Kaufmann, Intendant der Philharmonie Essen, berichtet von den Aktivitäten zur Kundengewinnung und -bindung der alt-neuen Essener Philharmonie. Er vermittelt bewusst, welche Rolle die Beschäftigten und ihre innere Überzeugung von der Publikumsarbeit spielen. Wie Kino sein Publikum ansprechen kann, schildert Meinolf Thies, Geschäftsführer von zwei Filmtheatern und einer Beratungs- und Betriebsgesellschaft. Er zeigt, welche neuen Marketing- und Managementformen notwendig sind, um auf ein verändertes Freizeitverhalten und andere Lebenszeitrhythmen erfolgreich zu reagieren.
Das Jahrbuch ist eine spannende tour d'horizon mit Stimmen, Positionen und Bewertungen aus Wissenschaft, kultureller Praxis und Politik. Ein Serviceteil mit Literaturangaben, Webadressen, einer Chronik kultureller Ereignisse des Jahres 2004, Ergebnissen der Kulturstatistik und Kontaktadressen sind hilfreich für weitere Recherchen. Gefördert wurde der Band mit Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen
Gesellschaft (Hrsg.)
Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, Band 5.
Thema: Kulturpublikum
Klartextverlag, Essen 2005; 544 S., 19,90 Euro