Das Bundesverfassungsgericht hält daran fest, dass ein Bundeskanzler eine Vertrauensabstimmung ab-sichtlich verlieren darf, um so zu Neuwahlen zu kommen. "Eine politische Lage der Instabilität" reiche aus, hatten die Karlsruher Richter 1983 entscheiden, als der damalige Kanzler Helmut Kohl über eine Vertrauensfrage zu Neuwahlen kam. "Da bewegen wir uns nicht von runter", sagte Verfassungsrichter Udo Di Fabio, der das jetzt anstehende Urteil als Berichterstatter vorbereiten wird.
Durch das Festhalten des Bundesverfassungsgerichts an seiner Rechtsprechung von 1983 sinken die Chancen der Bundestagsabgeordneten Werner Schulz (Grüne) und Jelena Hoffmann (SPD) die vorgezogenen Bundestagswahlen am 18. September diesen Jahres doch noch zu stoppen. Beide hatten gegen die Auflösung des Bundestages durch Bundespräsident Horst Köhler geklagt. Die beiden Abgeordneten halten die von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) absichtlich verlorene Vertrauensabstimmung für einen Verstoß gegen das Grundgesetz. "Die rot-grüne Mehrheit steht hinter dem Kanzler wie eine deutsche Eiche", sagte Jelena Hoffmann in der mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsgericht. Werner Schulz verwies darauf, dass der Bundeskanzler keinerlei Beweise für das mangelnde Vertrauen der Parlamentsmehrheit vorgelegt habe.
Die Verfassungsrichter machten in der mündlichen Verhandlung jedoch deutlich, dass sie dem Bundeskanzler bei der Vertrauensfrage einen Beurteilungsspielraum zugestehen und verwiesen auf das Urteil aus dem Jahre 1983. Danach hat der Bundespräsident bei einem Auflösungsantrag des Bundeskanzlers dessen Einschätzungskompetenz zu beachten. Das Staatsoberhaupt dürfe deshalb die Auflösung nur ablehnen, wenn ganz eindeutig eine andere politische Situation vorliegt. Horst Köhler hatte in seiner Fernsehansprache zur Auflösung des Bundestages am 21. Juli aber ausdrücklich darauf verwiesen, dass er keine andere Lagebeurteilung sieht, die der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist.
Der Prozessvertreter des Bundespräsidialamtes, der Bonner Staatsrechtsprofessor Joachim Wieland, nannte vor dem Bundesverfassungsgericht noch einmal die von Bundeskanzler Schröder angeführten Argumente für die instabile Lage: nur drei Stimmen Mehrheit, eine stetig wachsende Verunsicherung bei den Abgeordneten durch die Niederlagen bei den Landtagswahlen sowie ein "Erpressungspotential" in der Fraktion durch linke Abweichler. Diese Punkte habe der Bundespräsident in einer Gesamtschau für plausibel befunden und daher den Bundestag aufgelöst.
Die Anwälte der beiden klagenden Abgeordneten verwiesen auf die, den Beurteilungsspielraum des Kanzlers eingrenzenden Punkte aus dem Urteil von 1983: Danach müssten die politischen Kräfteverhältnisse die Handlungsfähigkeit der Regierung so beeinträchtigen, dass eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht mehr sinnvoll verfolgt werden kann. Besondere Schwierigkeiten in der laufenden Legislaturperiode reichen daher nicht aus, um das Parlament aufzulösen. Auch der Wunsch aller politischen Parteien nach Neuwahlen, sei alleine kein genügender Grund, für ein vorzeitiges Ende der Legislaturperiode.
Der Prozessvertreter des Abgeordneten Schulz, der Mannheimer Staatsrechtsprofessor Wolf-Rüdiger Schenke, kritisierte aber auch das Urteil aus dem Jahr 1983: "Der damals dem Kanzler eingeräumte Ermessensspielraum geht zu weit. Es kann nicht sein, dass die Einschätzung des Kanzlers überhaupt nicht mehr zu widerlegen ist", sagt Schenke in der mündlichen Verhandlung. Der Anwalt von Jelena Hoffmann, Hans-Peter Schneider, verlangte von Schröder sogar Beweise: "Wenn der Kanzler behauptet, er sei einem Erpressungspotential von linken Abgeordneten ausgesetzt, dann muss er auch Namen nennen."
Dieser Forderung schlossen sich die Verfassungsrichter zwar nicht an, machten aber das Dilemma deutlich: Man befinde sich in einem komplexen Geflecht fremder Einschätzungen und müsse nun klären, inwieweit man in die Beurteilungsspielräume von Bundeskanzler und Bundespräsident eindringen dürfe bzw. müsse, so der Vorsitzende des für den Prozess zuständigen 2. Senats des Verfassungsgerichts, Winfried Hassemer. Zudem sei die Einschätzung des Bundeskanzlers, er habe keine gesicherte Mehrheit mehr, nur schwer überprüfbar: "Sollen wir in eine Beweisaufnahme eintreten", fragte rhetorisch Verfassungsrichter Udo Di Fabio.
Aus den Stellungnahmen der übrigen Mitglieder des 2. Senates wurde aber auch deutlich, dass das Verfassungsgericht den Beurteilungsspielraum des Kanzlers eingrenzen möchte. Die vorgetragenen Argumente für das fehlende Vertrauen der Parlamentsmehrheit in den Kanzler überzeugen ihn nicht, sagte Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch. Der ehemalige Justizminister von Thüringen verwies darauf, dass es das "übliche politische Geschäft sei", mit knapper Mehrheit zu regieren. "Wo liegt die Beeinträchtigung der hier allein interessierenden Mehrheit im Bundestag", fragte Jentsch.
Auch der Verfassungsrichter Rudolf Mellinghoff äußerte sich in der mündlichen Verhandlung kritisch zu den von Bundeskanzler Schröder angestrebten vorzeitigen Neuwahlen: Diese Form der Parlamentsauflösung sei kaum kontrollierbar und könne durch das Bundesverfassungsgericht nicht eingegrenzt werden. Dieses Argument wurde von den beiden klagenden Abgeordneten dankbar aufgegriffen. Sie forderten den Beurteilungsspielraum des Kanzlers zumindest enger zu fassen.
Ein solches Urteil des Verfassungsgerichts oder aber entsprechende abweichende Stellungnahmen einzelner Richter sind nach Ansicht von Experten denkbar. Dass der Zug in Richtung Neuwahlen juristisch kaum noch zu stoppen ist, machen aber auch zwei andere aktuelle Entscheidungen der Karlsruher Richter deutlich: Die Anträge mehrerer kleiner Parteien, die sich durch die kurzfristige Wahlansetzung benachteiligt fühlten, lehnte das Gericht bereits am Tag vor der mündlichen Verhandlung im schriftlich Verfahren auf nur zwei DIN4-Seiten ab.