Das Parlament: Frau Connemann, die Enquete "Kultur in Deutschland" musste wegen der anstehenden Neuwahlen zum Deutschen Bundestag ihre Arbeit vorzeitig beenden. Geht nicht vieles von Ihrer Arbeit durch die plötzlich verkürzte Legislaturperiode verloren?
Gitta Connemann: Es besteht die Gefahr, dass einiges unserer Arbeit verloren geht. Das vorzeitige Ende der Enquete-Kommission hat uns hart getroffen. Unser Auftrag war es, die Situation von Kunst und Kultur in Deutschland zu beschreiben und darauf aufbauend gesetzgeberische oder administrative Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Die Bestandsaufnahme hatten wir nahezu abgeschlossen. Wir wären jetzt in die entscheidende Phase eingetreten, die Erkenntnisse auszuwerten und politische Schlussfolgerungen zu formulieren. Eine prekäre Situation: Wir waren kurz vor dem Ziel und stehen nun doch mit fast leeren Händen da. Wir haben eine große Menge Material erarbeitet und können es jetzt nicht mehr auswerten. Eine Ausnahme ist der Zwischenbericht zum Staatsziel Kultur. Dies alles sind aus meiner Sicht starke Argumente dafür, die Kommission nach der Wahl wieder einzusetzen, um die Arbeit abzuschließen. Ob sich unsere Mühen dann gelohnt haben werden, liegt dann nicht mehr allein in unserer Hand. Das Sekretariat der Enquete-Kommission wird jedenfalls die verbleibende Zeit bis zur Neukonstituierung nutzen und die Arbeit der Kommission in einem Tätigkeitsbericht dokumentieren, den wir auch öffentlich machen werden.
Das Parlament: Der Zwischenbericht war zwar nicht so umfangreich, es geht aber um Wesentliches: nämlich Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Warum ist dieses aus Ihrer Sicht zwingend erforderlich?
Gitta Connemann: Im Land der Dichter und Denker, im Land von Bach und Beethoven gibt es bislang kein staatliches Bekenntnis zur Kultur. In den 90er-Jahren wurde der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, nämlich Tier- und Umweltschutz, als Staatsziele aufgenommen. Schutz und Förderung von Kultur als ideelle Lebensgrundlage sind aber bis heute im Grundgesetz nicht positiv verankert - ein untragbarer Zustand. In dem Zwischenbericht geht es daher um einen einzigen Satz: "Der Staat schützt und fördert die Kultur." Wir empfehlen, in einem neuen Artikel 20b dieses Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen. So kurz der Satz, so weit reichend die Wirkung: Zwar kann ein Staatsziel Kultur leider freiwillige Leistungen nicht in Pflichtaufgaben umwandeln. Es könnte jedoch dazu beitragen, das Bewusstsein für Deutschland als Kulturstaat und die aus diesem Anspruch erwachsende Verantwortung zu schärfen. Und es könnte die Kommunen in ihrem Kulturgestaltungsauftrag unterstützen und bekräftigen, das einmal erreichte kulturelle Niveau zu erhalten. In Verbindung mit entsprechenden Vorschriften in den Landesverfassungen versprechen wir uns am Ende eine Berücksichtigung bei politischen und verwaltungsrechtlichen Ermessensentscheidungen, auch wenn diese Empfehlung an den drängenden finanziellen Problemen der Kommunen kurzfristig nichts ändern wird.
Das Parlament: Vor gut einem Vierteljahrhundert gab es den letzten "Bericht der Bundesregierung über die wirtschaftliche und soziale Lage der künstlerischen Berufe", jetzt auch wieder eines der Themen in der Enquete. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen über die kreativen Berufsgruppen und ihre Existenzbedingungen von heute?
Gitta Connemann: Zu sehr bedenklichen. Das durchschnittliche Jahreseinkommen eines freiberuflich arbeitenden Künstlers beträgt 11.144 Euro. Diese Zahl ist alarmierend. Die momentanen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erschweren das Leben als Künstler. Aus dieser Situation ergibt sich die Verantwortung des Staates, Rahmenbedingungen zu schaffen, die künstlerischer Arbeit, Produktion und Verwertung zuträglich sind. Als ein Beispiel sei die soziale Absicherung für Künstlerinnen und Künstler genannt. Trotz hohen Ausbildungsniveaus und Qualifikation fehlt es häufig an einer ausreichenden Altersvorsorge. Aufgrund einer Empfehlung der letzten "Künstlerenquete" wurde die Künstlersozialversicherung eingeführt und zu ihrer Durchführung die Künstlersozialkasse (KSK) gegründet. Dieses System ist in Europa einmalig. Wir haben uns deshalb in unseren Beratungen einstimmig für die Erhaltung dieses Systems ausgesprochen. Allerdings ist sich die Kommission auch bewusst, dass sich die Situation in den letzten 20 Jahren verändert hat. In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Leistungsempfänger deutlich erhöht. Die Einnahmensituation ist demgegenüber rückläufig. Das System muss auf seine Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit kritisch überprüft werden, um es zukunftssicher zu machen. Die Kommission hat sich bemüht, Reformansätze zu formulieren, die das System der KSK an die geänderten Bedingungen anpasst. Wir brauchen langfristig weitere Säulen, damit das Gebäude tragfähig bleibt wie unter anderem die private Altersversorgung.
Das Parlament: Die Enquete sollte auch ein Signal an Künstler und Kulturschaffende, an Kulturvermittler und die Öffentlichkeit sein, dass auch die Bundesparlamentarier die Kultur wieder mehr im Blick haben. Welche Signale sind angekommen?
Gitta Connemann: Das Signal ist in der Kulturszene nach meinem Eindruck sehr deutlich wahrgenommen worden. Dies war auch an den großen Erwartungen, die an die Kommission gerichtet wurden, zu erkennen. Auf besonders großes Interesse sind wir in der Öffentlichkeit vor allem mit den Themen gestoßen, die die Menschen unmittelbar betreffen. Als wir in einer Anhörung die Zukunft der Künstlersozialkasse auf den Prüfstand gestellt haben, hat das für sehr große Aufmerksamkeit unter den betroffenen Künstlern und Journalisten gesorgt. Großes Echo fand auch unsere Anhörung zu einer Musikquote im Radio. Denn eine erhebliche Veränderung des täglichen Radioprogramms spürt jeder sofort. Das von uns in Auftrag gegebene Gutachten zu möglichen Strukturreformen in Theatern und Opern ist verständlicher Weise in den betroffenen Häusern sehr aufmerksam verfolgt worden, schon deshalb, weil sie durch einen Fragebogen an der Bestandsaufnahme des Ist-Standes beteiligt wurden. Hier weiß ich auch von vielen Diskussionen auf der Verbandsebene. Viele dieser Themen werden auch nach dem Ende der Enquete-Kommission auf der Tagesordnung bleiben.
Das Parlament: Enqueten geben unter anderem Gutachten in Auftrag, um dem Parlament Handlungsempfehlungen geben zu können. Wann ist mit diesen Gutachten zu rechnen, und was passiert mit den Ergebnissen?
Gitta Connemann: Die Vergabe von Gutachten an externe Experten war eines unserer wichtigsten Instrumente. Wir haben unter anderem Gutachten zur Entwicklung einer Bundeskulturstatistik, zur Situation der kulturellen Erwachsenenbildung, zur Weiterentwicklung der Alterssicherungssysteme für Künstler und Kulturberufler oder zu Förderkriterien staatlicher Kulturfinanzierung im Ausland vergeben, um nur einige zu nennen. Nach dem Sommer werden diese Gutachten alle vorliegen. Wir sind in der Enquete-Kommission jedoch nur zum Teil dazu gekommen, sie auch auszuwerten. Sollte es eine neue Enquete-Kommission "Kultur" geben, kann sie mit dieser Expertise weiter arbeiten, wenn sie es denn möchte. Allerdings wäre dies ihre souveräne Entscheidung, der ich nicht vorgreifen möchte. Sollte die Enquete-Kommission wider Erwarten nicht neu eingesetzt werden, werden die Gutachten ohne Auswertung durch die Politik veröffentlicht werden.
Das Parlament: Sie haben eine umfangreiche Themenpalette abgearbeitet, von der Kulturstatistik über die kulturelle Bildung bis hin zur Musikquote und zur kulturellen Förderung, um nur einige zu nennen. Welche Themen haben für Sie Priorität, wenn es jetzt um die politischen Konsequenzen geht?
Gitta Connemann: Alle von uns behandelten Themen sind wichtig, sonst wären sie nicht in den Einsetzungsauftrag der Enquete-Kommission aufgenommen worden. Gleichwohl haben wir einige Schwerpunkte gesetzt, mit denen wir uns besonders befasst haben und die eine Schlüsselrolle für die Bestandssicherung und die Weiterentwicklung der Kultur in Deutschland spielen. Einige möchte ich nennen:
Im Bereich der Ordnungspolitik müssen wir an einigen Stellschrauben drehen, ich denke an das Steuer-, Haftungs- und Gemeinnützigkeitsrecht. Nehmen wir zum Beispiel das Jährlichkeitsprinzip: Es verpflichtet den Zuwendungsempfänger, die empfangenen Gelder bis zum Ablauf des jeweiligen Haushaltsjahres auszugeben. Wir dagegen wollen weg vom jahresbezogenen Zuwendungsbescheid, hin zum mehrjährigen Zuwendungsvertrag als Förderinstrument. Die zu fördernde Kulturinstitution würde dadurch mittelfristige Planungssicherheit erhalten und vom bloßen Kostgänger des Staates zu dessen Vertragspartner aufgewertet, der auf gleicher Augenhöhe mit ihm verhandeln kann. Das klingt jetzt sehr technisch, aber genau das ist das ,täglich Brot' der Kulturpolitiker und -politikerinnen.
Eine immer größere Bedeutung erhält das private Engagement für die Kultur. Wie können wir die Stiftungsbereitschaft steigern, wie die Motivation der Bürger, sich ehrenamtlich zu engagieren? Das Verfahren einer Stiftungsgründung muss vereinfacht werden, Bürokratie abgebaut und von staatlicher Seite ein "Service aus einer Hand" für den Stiftungsgründer angeboten werden. Allerdings muss man vor der Illusion warnen, privates Engagement könne die staatliche Kulturförderung ersetzen. Amerikanische Verhältnisse werden wir in Deutschland niemals bekommen können und wollen.
Große Chancen für die Zukunft sehe ich auch in der Kulturwirtschaft. Schon lange hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Kultur ein wachsender Wirtschafts- und Standortfaktor ist. Nehmen Sie nur den Arbeitsmarkt Kultur: 780.000 Erwerbstätige arbeiten in Deutschland in Kulturberufen. Das ist mehr als in der deutschen Automobilindustrie! Umgekehrt kann auch die Wirtschaft von den Kulturschaffenden eine Menge lernen, zum Beispiel kreativ und innovativ zu denken. Kulturelle Kompetenz ist eine Schlüsselqualifikation, auch und gerade in Zeiten verschärften internationalen Wettbewerbs und der Globalisierung.
Schließlich liegt mir die kulturelle Bildung besonders am Herzen. Sie führt an vielen Orten ein Schattendasein. Wenn gespart wird, dann zuerst in diesem Bereich. Und das ist nicht nur ein Vergehen an Kindern und Jugendlichen, die häufig in ihren Familien nicht mehr mit Kunst, Musik, Geschichte vertraut gemacht werden. Damit haben sie wenig Chancen, einen Zugang zu den elementaren Gütern der Menschheit zu erhalten, Kreativität, Phantasie zu entwickeln. Damit schaden wir auch der Entwicklung unseres Landes. Wir haben kein Öl, das wir fördern könnten. Unsere Rohstoffe sind Wissen und Kreativität. Dazu bedarf es nicht nur der Unterrichtung in kognitiven, sondern auch in kulturellen Fächern. Dazu bedarf es sicher eines Ausbaus der Zusammenarbeit von Schule und außerschulischen Kultureinrichtungen, gerade im Rahmen der neuen Ganztagsschule. Es wäre zudem zu überlegen, ob staatliche Fördermittel für Kultureinrichtungen davon abhängig gemacht werden, dass kulturelle Bildungsangebote vorgehalten werden.
Ein besonderes persönliches Anliegen ist mir im übrigen die Förderung der Breitenkultur.
Das Parlament: Mit dem Begriff Breitensport können viele etwas anfangen. Mit der Breitenkultur dagegen noch nicht, eher wohl mit der Hochkultur. Muss in Deutschland der Kulturbegriff weiter gefasst werden, um der Kultur mit allen ihren Facetten gerecht zu werden?
Gitta Connemann: Unbedingt! Ein Kulturbegriff, der nur die Staatsoper oder die Nationalgalerie in den Blick nimmt, ist nicht mehr zeitgemäß, so wichtig diese Leuchttürme auch sind. Aus zwei Gründen: Erstens erreicht die Breitenkultur viel mehr Menschen als die Hochkultur und sie wird von den Menschen gelebt. Die Menschen ?konsumieren' Kultur nicht nur, sie erschaffen sie aktiv selbst. Breitenkultur bedeutet Teilhabe der Bürger. Zweitens ist sie insbesondere im ländlichen Raum, in dem wir keine Leuchttürme haben, für das kulturelle Leben unverzichtbar. Auf die Breitenkultur verächtlich herabzublicken, wäre ein Zeichen von Arroganz. Wir brauchen beides: Die kulturellen Spitzenleistungen eines Gerhard Richter oder Sir Simon Rattle und die Kreismusikschule oder den Heimatverein. Breitenkultur ist für mich Bürgerkultur.
Das Parlament: Wann ist der Bund denn überhaupt gefragt, wenn es um die Kultur geht. Kultur ist schließlich Ländersache?
Gitta Connemann: Es ist richtig, dass die Kultur in erster Linie Sache der Länder, noch mehr aber der Kommunen ist. Das entspricht der guten deutschen föderalen Tradition. Es lag der Enquete-Kommission auch fern, daran zu rütteln. Aber wichtige Rahmenbedingungen werden vom Bund gesetzt, zum Beispiel im Arbeits-, Steuer-, Vereins-, Stiftungsrecht. Wenn es beispielsweise darum geht, dass Künstler eine angemessene Vergütung ihrer kreativen Leistungen erhalten, ist dies eine Frage des Urheberrechts und berührt damit eine Zuständigkeit des Bundes. Der Bund muss beispielsweise Regeln dafür setzen, dass das Downloaden von Musik aus dem Internet nicht in einem völlig rechtsfreien Raum geschieht. Das ist aber noch nicht alles: Die Verantwortung für die Auswärtige Kulturpolitik und für die Hauptstadtkultur liegt beim Bund. Und es ist auch richtig, dass der Bund sich seit der Deutschen Einheit an der Erhaltung der reichen Kulturlandschaft der neuen Länder beteiligt, womit diese allein überfordert wären.
Das Parlament: Weil Kultur Ländersache ist, haben Sie Delegationsreisen innerhalb Deutschlands gemacht. Sie haben aber auch die USA, die Niederlande und Großbritannien besucht. Haben Sie Erkenntnisse mitgebracht, die auf Deutschland übertragbar sind?
Gitta Connemann: Wir haben festgestellt, dass die deutsche Kulturlandschaft in ihrer Reichhaltigkeit und Vielfalt weltweit selbst als vorbildhaft gilt. Bei allen berechtigten Sorgen um ihren Erhalt sollte man dies nicht vergessen. Ich nenne nur die deutsche Theaterlandschaft oder die derzeit führende Rolle junger deutscher bildender Künstler auf dem amerikanischen Markt. Dennoch konnten wir in allen besuchten Ländern interessantes Neues kennen lernen. In Großbritannien ist in vorbildlicher Weise die Vergabe öffentlicher Mittel für Kultureinrichtungen an die Verpflichtung geknüpft, Angebote zur kulturellen Bildung zu unterhalten. In den Niederlanden werden Kultureinrichtungen für vier Jahre am Stück öffentlich gefördert; sie haben also vier Jahre Planungssicherheit. Erst danach müssen sie sich wieder um neue Gelder bemühen, werden dann aber auch evaluiert. Auf unserer USA-Reise haben wir erfahren, dass ein professionelles Einwerben von Spenden (Fundraising) für Kultureinrichtungen ein Rezept sein kann, in Zukunft weniger von staatlicher Finanzierung abhängig zu sein. Allerdings fließen auch dort die Spenden nicht von allein. Es ist ein professionelles Management zu organisieren, um die Geldgeber zu umwerben. Die USA sind auch vorbildlich bei der Integration kultureller Bildung in die Museumsarbeit. Hierfür werden bestimmte Mittelkontingente fest verankert.
Das Parlament: Wie sehen Sie die Perspektiven für die Kultur, die vorrangig von Städten und Gemeinden finanziert wird? Schließlich sind die Kassen leer und Kultur ist eine freiwillige Leistung.
Gitta Connemann: Die Sicherung von Perspektiven für die Kultur ist in der Tat eine besonders große Herausforderung für die Kommunen. Da die Kultur nicht zu den gesetzlichen Pflichtaufgaben gehört, muss der Stadtkämmerer zunächst die Ausgaben für die Unterhaltung der Gemeindestraßen oder die Müllabfuhr aufbringen. Die Kultur, also der Erhalt der Stadtbibliothek oder die Unterstützung der Musikschule, kommt ganz am Schluss. Damit sich das ändert, werben wir für das Staatsziel Kultur. Es gibt auch Überlegungen, Mindeststandards einer kulturellen Grundversorgung zu formulieren. Das hieße: Diese und jene kulturellen Angebote müssten in jeder Kommune vorgehalten werden. Jedoch sind die Diskussionen über das Für und Wider auch in der Kulturszene, unter den Kulturschaffenden noch in vollem Gange, waren es auch in der Kommission. Als größte Aufgabe bleibt, die Finanzsituation der Kommunen generell zu verbessern, damit diese die Aufgaben aus eigener Kraft wahrnehmen können. Das ist das A und O. Diese Aufgabe geht weit über die Zuständigkeiten der Kulturpolitik hinaus.