Die Wahl ist ein wesentliches Element des demokratischen Verfassungsstaates. Alle wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger haben die Möglichkeit, ihr Votum abzugeben. Am 18. September wählen die Deutschen zum 16. Mal den Bundestag. Es sind nach 1972 und 1983 die dritten vorgezogenen Wahlen auf Bundesebene. Das ist ein Zeichen für die große Stabilität der zweiten deutschen Demokratie. Anders war dies in der Weimarer Republik, der ersten Demokratie in Deutschland. Keine einzige Legislaturperiode dauerte die volle Zeit.
Im Jahr 1972 tobte in der Bundesrepublik eine konfliktreiche Auseinandersetzung um die neue Ostpolitik. Die Union verzeichnete "Überläufer" aus den Reihen der Regierungsparteien. Der Versuch Rainer Barzels, Willy Brandt mit Hilfe des Konstruktiven Misstrauensvotums zu stürzen, schlug fehl. Ihm fehlten zwei Stimmen. Aber auch Brandt mangelte es bei der anschließenden Abstimmung über den Haushalt an einer Mehrheit. Allerdings ratifizierte der Bundestag danach die Ostverträge. Der Kanzler musste die Vertrauensfrage stellen, da anders die Patt-Situation nicht zu beseitigen war. Die vorgezogenen Wahlen bescherten der SPD, der zum ersten Mal stärksten Partei, und ihrem Koalitionspartner FDP einen Triumph.
Im Laufe des Jahres 1982 spitzten sich die Konflikte innerhalb der sozial-liberalen Koalition zu. Bundeskanzler Helmut Schmidt trat die Flucht nach vorn an, gab das Ende der Koalition bekannt und fand sich zu sofortigen Neuwahlen mit Hilfe der Vertrauensfrage bereit. Doch wählten Union und FDP stattdessen Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 mit Hilfe des Konstruktiven Misstrauensvotums zum Bundeskanzler. Kohl teilte die Position, dass die neue Regierung einem Wählervotum nicht ausweichen dürfe, stellte am 17. Dezember die Vertrauensfrage und verlor sie wie gewünscht. Bundespräsident Karl Carstens löste das Parlament auf, machte damit den Weg für Neuwahlen im März 1983 frei, welche die Union klar gewann. Zuvor hatte das von Mitgliedern des Bundestages angerufene Bundesverfassungsgericht mit sechs zu zwei Stimmen die Parlamentsauffösung als rechtens erachtet.
Nach der Wahlniederlage am 22. Mai dieses Jahres in Nordrhein-Westfalen - damit war die letzte rot-grüne Koalition auf Landesebene abgewählt - sah Bundeskanzler Gerhard Schröder keine sichere Kanzlermehrheit mehr und suchte mit der Neuwahl eine Abstimmung über seine Reformpolitik zu ermöglichen. Der Weg zu diesen führte nur über die komplizierte Prozedur der Vertrauensfrage. Am 1. Juli stellte Gerhard Schröder die Vertrauensfrage. Er begründete diese mit seiner nicht mehr vollen Handlungsfähigkeit. 151 Parlamentarier votierten mit Ja - vor allem aus den Reihen der SPD -, 148 enthielten sich und 296 stimmten mit Nein - alle Unions- und FDP-Abgeordneten sowie die Fraktionslosen Martin Hohmann, Gesine Lötzsch und Petra Pau.
Auflösung des Parlaments
Bundespräsident Horst Köhler versagte sich in seiner Fernsehansprache vom 21. Juli nicht dem Wunsch Schröders, löste das Parlament auf und setzte Neuwahlen für den 18. September an. Er sprach die gewaltigen Aufgaben der Deutschen an: Arbeitslosigkeit, kritische Lage der Haushalte, Krise der föderalen Ordnung, demografische Probleme. Die Begründung für seinen Schritt orientierte sich eng am Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983.
Den beiden Klagen der Bundestagsabgeordneten Jelena Hoffmann (SPD) und Werner Schulz (Bündnis 90/Grüne) gab das Bundesverfassungsgericht nicht statt. Es mochte nicht dem Kanzler, dem Parlament und dem Präsidenten eine schallende Ohrfeige erteilen, zumal alle Parteien Neuwahlen wünschten.
Nach der absoluten Mehrheitswahl im Kaiserreich wurde in der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, ein reines Verhältniswahlsystem eingeführt. Nach 1945 ist ein heftiger und bis heute noch andauernder Streit darüber entbrannt, ob und inwiefern das reine Verhältniswahlsystem den Untergang der Weimarer Republik herbeigeführt oder doch zumindest beschleunigt hat. Wer dies bejaht, nennt die Parteienzersplitterung, die extremen Pluralismus begünstigt, die Desintegration gefördert und die Radikalisierung nicht gebremst habe; die unpersönliche Listenwahl mit ihrer Tendenz zur Verstärkung der ohnehin erheblichen Parlamentsverdrossenheit; die fehlenden institutionellen Regelungen zur Bekämpfung von Splitterparteien. Gegner einer solchen Auffassung wenden ein, damit werde dem Wahlsystem überhöhte Bedeutung zugemessen und die Vielfalt des Ursachenbündels für den Untergang der Demokratie ignoriert. Das Parteiengefüge wäre wohl kaum durch ein Mehrheitswahlsystem grundlegend umgeformt worden.
In der Tat sind diese Argumente schwerlich von der Hand zu weisen. Im übrigen beeinträchtigte nicht so sehr die Vielzahl der Parteien die Funktionsfähigkeit der Weimarer Demokratie als vielmehr die mangelnde Koalitionswilligkeit der großen Parteien untereinander. Vor allem aber ist der Hinweis auf die Mehrheitswahl unhistorisch, da die Einführung dieses Wahlverfahrens in der Weimarer Republik nicht ernsthaft zur Diskussion stand.
In deutlichem Kontrast zur Beständigkeit des Wahlsystems in der Bundesrepublik stehen die verschiedenen Reformbestrebungen. Sie blieben gleichwohl ohne Erfolg. Der Parlamentarische Rat, der sich eingehend mit dem Wahlrecht befasst hatte, lehnte eine Verankerung des Wahlsystems in der Verfassung ab, um seine Änderung nicht zu erschweren. Im Parlamentarischen Rat konnte sich die Union, die ein relatives Mehrheitswahlsystem einführen wollte, gegen die SPD und gegen die kleineren anderen Parteien nicht durchsetzen. Das erste Wahlgesetz galt ebenso nur für eine Legislaturperiode wie das nächste. Im Jahre 1953 scheiterte der Versuch der Koalition unter Führung der Union insbesondere an Protesten der öffentlichen Meinung, eine Art "Mischsystem" zu verabschieden - der nach dem damaligen Innenminister genannte Lehr'sche Gesetzentwurf. Das von der CDU/CSU und der DP im Jahre 1956 initiierte Projekt des so genannten "Grabenwahlsystems" schlug ebenso fehl. Die eine Hälfte der Abgeordneten sollte mittels relativer Mehrheitswahl gewählt werden, die andere nach dem Verhältnisprinzip. Die FDP verließ unter anderem deswegen die Koalition. Das neue Wahlgesetz von 1956 hatte definitiven Charakter und gilt im Wesentlichen noch heute.
Verliefen die abtastenden und informellen Gespräche zwischen der Union und der SPD nach der "Spiegel"-Affäre im Jahre 1962 zwecks Einführung einer Großen Koalition und eines mehrheitsbildenden Wahlsystems noch ergebnislos, so standen Ende 1966 die Zeichen für eine Änderung des Wahlsystems gut. Die Große Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger wollte ein mehrheitsbildendes Wahlsystem installieren. Doch die Reform scheiterte am Widerstand von Teilen der öffentlichen Meinung, der FDP und vor allem auch der SPD, die einerseits befürchtete, "ewiger Verlierer" zu werden, und andererseits ihren möglichen Koalitionspartner, die FDP, nicht vor den Kopf stoßen wollte. Die letzte Wahlsystemdiskussion 1967/68 wurde so intensiv wie erregt geführt. Im März 1968 trat Bundesinnenminister Paul Lücke von seinem Amt zurück, weil die SPD auf ihrem Nürnberger Parteitag desselben Monats das Thema "Wahlrechtsreform" vertagt hatte.
Seit dieser Zeit hat die Thematik jegliche Aktualität verloren, und eine Änderung des Wahlsystems ist in politischen Kreisen nicht mehr erwogen worden. Das geltende Verhältniswahlsystem ist unumstritten. Vergleicht man die Haltung der Parteien zur Wahlrechtsfrage, so hat die Union mit ihrer guten Ausgangsposition wenig anzufangen gewusst und die sich ihr bietenden Chancen zugunsten eines zumindest partiell mehrheitsbildenden Systems nicht genutzt. Die SPD, zunächst aus weltanschaulichen Gründen, unabhängig von der Interessenlage, auf die Verhältniswahl fixiert, lockerte später ihre Haltung zur Wahlsystemfrage - bedingt durch ihre dauernde Erfolglosigkeit sowie durch die Relativierung des mechanischen Gleichheitsgedankens. Das finessenreiche Taktieren zur Zeit der Großen Koalition war in mancher Hinsicht eine Meisterleistung insbesondere Herbert Wehners. Wie immer das Wahlergebnis ausgefallen wäre - eine absolute Mehrheit für die Union einmal außer Acht gelassen -, die SPD hätte stets an der Regierung beteiligt werden müssen. Die Präferenz der Liberalen für die Verhältniswahl war keineswegs von vornherein ausgemacht, weil bei ihnen in der Vergangenheit die geeignete Führungsauslese ein wesentliches Beurteiligungskriterium für den jeweiligen Wahlmodus gebildet hatte. Doch schon bald überlagerten die existentiellen Interessen alle anderen Erwägungen. Bei den Wahlgesetzen von 1949, 1953 und 1956 war die FDP das sprichwörtliche "Zünglein an der Waage". Auch später ging der Kelch einer Wahlrechtsreform an ihr vorüber.
Alle Parteien berücksichtigten bei der Wahlrechtsgestaltung ausgiebig die eigenen - tatsächlichen oder vermeintlichen - Interessen. Wahlrechtsfragen sind zumeist Machtfragen. Bestimmten Interessenkonstellationen demnach den jeweiligen Verlauf der Debatten, die immer dann ausbrachen, wenn sich die Möglichkeit für eine Änderung abzeichnete, so kontrastierte damit eine geradezu stereotyp an den Tag gelegte Überparteilichkeitsideologie, der sich die Parteien zu eigen machten und mit der sie Interessen der anderen als "egoistisch" einzustufen beliebten.
Das Wahlrecht gilt vielfach als eine staubtrockene Materie. Dabei ist das gar nicht der Fall. Das Wahlsystem wandelt Stimmen in Mandate um. Es liegt auf der Hand, dass das Wahlergebnis stark vom Wahlsystem abhängt. Bei einer relativen Mehrheitswahl - gewählt ist, wer im Wahlkreis die meisten Stimmen erreicht - käme es zu einer Alleinregierung von CDU/CSU oder SPD. Die anderen Parteien könnten nur wenige oder gar keine Direktmandate erreichen, wobei freilich folgender Umstand zu berücksichtigen ist: Die Zahl der Wahlkreise würde sich verdoppeln und deren Größe sich halbieren.
Die PDS erzielte 1990 ein einziges Direktmandat, 1994 und 1998 jeweils vier und 2002 nur zwei Direktmandate. Die FDP gewann nur 1990 ein einziges Direktmandat (von den Jahren 1949, 1953 und 1957 abgesehen), und die Grünen erlangten lediglich bei der letzten Bundestagswahl ein Direktmandat. Das jeweilige Wahlsystem bestimmt nicht nur das Parteiensystem, sondern ändert auch das Wahlverhalten. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Ein Teil der bisherigen Wähler der FDP, der Grünen oder der PDS würde "ihrer" Partei den Rücken kehren, damit die Stimme nicht in den "Papierkorb" wandert.
Historische Erfahrungen
Das Grundgesetz hat mannigfache Folgerungen aus der leidvollen historischen Erfahrung gezogen. Am wenigsten gilt dies für das Wahlrecht. Zwar wurde es nicht wieder in der Verfassung verankert, um seine Änderung zu erleichtern, aber diejenigen, die in den Bundestagsdebatten an Weimar erinnerten, konnten sich nicht durchsetzen, sieht man einmal davon ab, dass einerseits durch die Kandidatenaufstellung und die Schaffung von Einerwahlkreisen der in der Weimarer Republik vehement beklagten Anonymität der Liste jedenfalls zum Teil abgeholfen wurde wie andererseits der Parteienzersplitterung aufgrund der Sperrklausel. Es ist insofern eine Paradoxie, als damit die Anhänger der Verhältniswahl, die sich nicht vom Weimarer Trauma leiten lassen wollten, viel stärker die Weimarer Erfahrungen rezipierten als ihre Gegner. Denn seinerzeit wurde, was viele übersehen, mehr gegen das Listenwahlsystem gewettert als gegen die Verhältniswahl.
Gemäß Artikel 38 Grundgesetz wählen die Bürger die Abgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl. Eine Wahlpflicht besteht nicht. Wahlberechtigt ist (aktives Wahlrecht), wer das 18. Lebensjahr vollendet hat. Durch das 1975 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters beginnt die Volljährigkeit mit der Vollendung des 18. Lebensjahres - und damit auch das Recht, gewählt zu werden (passives Wahlrecht).
Erst- und Zweitstimme
Jeder Wähler hat zwei Stimmen. Mit der Erststimme votiert er für den Wahlkreiskandidaten, mit der Zweitstimme für die Landesliste einer Partei. Dabei kann der Wähler die beiden Stimmen aufteilen ("Stimmensplitting"). Nach dem Anteil an den Zweitstimmen wird ermittelt, wie viele Mandate jeder Partei zustehen (1. Zuteilungsverfahren). Die gesamten Mandate einer Partei sind auf deren Landeslisten zu verteilen, wobei die in den Wahlkreisen errungenen Mandate abgezogen werden (2. Zuteilungsverfahren). Hier ist gewählt, wer die meisten Stimmen (Erststimmen) auf sich vereinigt hat (relative Mehrheit). Die verbleibenden Mandate erhalten die Kandidaten entsprechend ihrer Reihenfolge auf der Landesliste (3. Zuteilungsverfahren).
Wie aus dieser Erläuterung hervorgeht, handelt es sich beim Wahlsystem - entgegen einer offenbar unausrottbaren Meinung - nicht um ein "gemischtes Wahlsystem", sondern um ein Verhältniswahlrecht. Ein "gemischtes Wahlsystem" ist es lediglich insoweit, als jeweils die Hälfte der Abgeordneten über die Liste und direkt gewählt wird. Maßgebend für die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag ist die Zweitstimme. Das Verhältniswahlprinzip erfährt nur durch die Fünf-Prozent-Klausel und mögliche Überhangmandate eine Einschränkung.
Parteien, die weniger als fünf Prozent der Stimmen oder nicht mindestens drei Direktmandate erreichen (Alternativklausel), werden an der Mandatsvergabe nicht beteiligt. Die Stimmen, die solche Parteien erhalten, fallen unter den Tisch, kommen damit indirekt den Bundestagsparteien zugute. Die vom Bundesverfassungsgericht für rechtens erklärte Fünf-Prozent-Klausel - ausgenommen sind Parteien nationaler Minderheiten wie der bei den schleswig-holsteinischen Landtagswahlen kandidierende Südschleswigsche Wählerverband - soll die Funktionsfähigkeit des Parlaments sichern und eine Zersplitterung des Parteiensystems verhindern. Für die PDS war diese Klausel von besonderer Brisanz. 1990 galt eine gesonderte Sperrklausel für Ost und West. Es genügte, entweder im Osten (hier erreichte die PDS 11,1 Prozent) oder im Westen des Landes (hier bekam sie nur 0,3 Prozent) die Hürde zu nehmen. 1994 gelangte die PDS nur deshalb in den Bundestag, weil sie vier Direktmandate gewann und damit die Fünf-Prozent-Marke umgehen konnte. 1998 schaffte sie mit 5,1 Prozent den Sprung über die Hürde, nicht jedoch 2002 (4,0 Prozent). Die zwei gewonnenen Direktmandate durfte sie aber behalten.
Überhangmandate können dann entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erringt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil zustehen. Diese gehen ihr also nicht verloren. Ausgleichsmandate für die anderen Parteien sind nicht vorgesehen. Spielten Überhangmandate früher kaum eine Rolle, so ist es seit der deutschen Einheit anders.1990 erreichte die CDU sechs, 1994 zwölf, 2002 eines; die SPD bekam 1994 vier, 1998 13 und 2002 vier. Diese Überhangmandate erleichterten bei den letzten drei Bundestagswahlen die Regierungsbildung.
Neuzuschnitt der Wahlkreise
Vor der Bundestagswahl 2002 wurde die Zahl der Mandate von 656 auf 598 verringert und damit die Zahl der Wahlkreise von 328 auf 299. Ein genereller Neuzuschnitt der Wahlkreise war die Folge. Vor dieser Wahl wurden 38 Wahlkreise neu abgegrenzt. Bayern erhielt einen Wahlkreis mehr, Thüringen einen weniger. Nach dem Wahlgesetz soll die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises nicht um mehr als 15 Prozent vom Durchschnitt abweichen; liegt die Differenz bei mehr als 25 Prozent, ist ein Neuzuschnitt zwingend. Andere Reformen sind jetzt nicht angefallen.
Die kleinen Parteien hatten es angesichts der verkürzten Fristen diesmal besonders schwer, die Unterschriften für die Landeslisten zusammen zu bekommen (mindestens jeden 1.000. Wahlberechtigten, höchstens 2.000 Wahlberechtigte). Ließ der Bundeswahlausschuss nach Prüfung der Satzung 34 Parteien zu, scheiterte bei den Landeswahlausschüssen eine Reihe von Parteien (wegen der fehlenden Unterschriften). So wurden in Rheinland-Pfalz nur 10 von 16 Listen zugelassen, in Hessen 12 von 19. Die Linkspartei, auf deren Listen zahlreiche Mitglieder der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" kandidieren, kann in allen Bundesländern antreten.
Wer die Pro- und Kontra-Argumente bei der Wahl-systemfrage in der Bundesrepublik abwägt, macht es sich zu einfach, die Forderung nach einem mehrheitsbildenden Wahlrecht von vornherein als völlig verfehlt anzusehen. Schließlich würde auf diese Weise das ohnehin überdehnte konkordanzdemokratische Element (faktische Allparteienregierungen, nicht jedoch im Bundesrat; Politikverflechtung) eingeschränkt und die vorherrschende Tendenz zur Verwischung der Verantwortlichkeiten zumindest abgeschwächt. Die jeweilige Hauptregierungspartei könnte ihre Haltung nicht mehr mit der tatsächlichen oder auch nur vorgeschobenen Rücksichtnahme auf den kleinen Koalitionspartner begründen.
Doch sprechen zwei Argumente entscheidend gegen eine Änderung des Wahlsystems: Erstens geriete eine Reformbestrebung in den Ruch der Manipulation zuungunsten der kleinen Parteien, zumal das bestehende Wahlsystem bisher ohne gravierende Mängel ist. Gerade die lange Existenz des Wahlsystems hat ein Maß an Legitimität geschaffen, das nicht ohne Not zerstört werden sollte. Zweitens konnte das Verhältniswahlsystem in mancher Hinsicht die gemeinhin dem Mehrheitswahlsystem zugeschriebenen Wirkungen erfüllen: Es besteht mehr oder weniger ein bipolares Parteiensystem; der Wähler weiß vor der Wahl Bescheid, wer mit wem eine Koalition eingeht, entscheidet somit faktisch über die Regierung; eine Ideologisierung oder gar Radikalisierung der Parteien ist ebenso weitgehend ausgeblieben wie Koalitionsquerelen nur selten eine Rolle spielen. Man kommt nicht um folgende Paradoxie herum: Die Verhältniswahl hat sich bewährt, weil viele der Forderungen seitens der Befürworter der Mehrheitswahl trotz des geltenden Wahlsystems in Erfüllung gegangen sind.
Während das Wahlsystem nicht revidiert wurde, kam es zu einzelnen Änderungen, die nicht unmittelbar die Umsetzung von Stimmen in Mandate betrafen. Zu den wichtigsten gehören die Einführung des Zweistimmensystems im Jahre 1953, die Etablierung der Briefwahl im Jahre 1956, die Senkung des Wahlalters im Jahre 1970, die Ersetzung des d'Hondtschen Höchstzahlensystems durch das Verfahren Hare/Niemeyer (1985) sowie die Gewährung des Wahlrechts für im Ausland lebende Deutsche (1985 für einen Teil, seit 1998 für alle).
Wahlrecht von Geburt an?
Mancher Reformvorschlag ist nicht in die Tat umgesetzt worden. Dazu gehört etwa die Einführung des Ausländerwahlrechtes. Eine Reform, die in den meisten Bundesländern gilt, sollte im Sinne einer größeren Kontinuität der Politik im Bund nicht verschoben werden: die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre. Besonderes Aufsehen fand in der letzten Wahlperiode eine überfraktionelle Bundestagsinitiative "Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an". Sie beklagt die demografische Entwicklung, will eine kinderfreundlichere Gesellschaft und eine verbesserte Familienpolitik. Die Abgeordneten, die den Antrag eingebracht haben, darunter sehr prominente (unter anderem Rainer Eppelmann, Cornelia Pieper, Werner Schulz, Hermann Otto Solms, Wolfgang Thierse, Antje Vollmer), wollen den Eltern treuhänderisch Stimmen für deren Kinder geben, soweit sie nicht das 18. Lebensjahr überschritten haben. Kritiker machen geltend, eine Einschränkung des Wahlrechtsgrundsatzes "gleich" ("one man, one vote") verbiete sich. Der demokratische Verfassungsstaat basiere auf Zählwertgleichheit. Ein "Familienwahlrecht" hingegen entspreche faktisch einem Pluralwahlrecht. Außerdem müsse die Wahl höchstpersönlich vonstatten gehen, eine Delegation sei untersagt.
Am Wahltag fiebern die Wahl- und Parteibürger dem Ausgang entgegen. Vielleicht geben wahlrechtliche Eigenheiten wie die Regelung zur Sperrklausel oder zu den Überhangmandaten den Ausschlag. Der Teufel steckt im Wahlrechtsdetail. Der Ausgang der letzten drei Bundestagswahlen war knapp. Bei den Neuwahlen 1972 und 1983 profitierte jeweils die Richtung, die sie angestrebt hatte: 1972 die SPD, 1983 die Union. Diesmal auch?