Die historische Räumung von 25 jüdischen Siedlungen im Gaza-Streifen und im Norden der Westbank haben ein politisches Erdbeben in Israel ausgelöst. Dabei ist es möglich, dass dessen Initiator, Premierminister Ariel Scharon, sein erstes Opfer sein wird und in der politischen Wüste landet. Eine Spaltung der regierenden Likud-Partei und vorgezogene Neuwahlen stehen möglicherweise bevor.
Die kommenden zwei Wochen werden die politische Karriere Scharons und auch den Kurs des israelisch-palästinensischen Konfliktes bestimmen: Spätestens am 15. September wird Brigadegeneral Aviv Kochavi als letzter Israeli den Gaza-Streifen verlassen und symbolisch den Grenzübergang Kissufim abschließen. Damit wird nach 38 Jahren die israelische Präsenz in Gaza beendet. Am 26. September wird der Parteikongress des Likud-Blocks über vorgezogene Parlamentswahlen abstimmen - gegen den ausdrücklichen Willen der Partei und des Regierungschefs Scharon. Der populärste israelische Premier seit Jahren, inzwischen auch international geschätzt, muss jetzt um sein Überleben in der eigenen Partei kämpfen. Scharons Gegner, die unter den 3.000 Delegierten des Likuds die Mehrheit stellen, wollen auf dem Parteikongress Scharons Rivalen Benjamin Netanjahu zum Spitzenkandidaten des Likuds küren. "Wir möchten Scharon stürzen, um zu beweisen, dass er den Preis für die Räumung zahlt", sagt Yuval Porat, Berater des Siedlerrates. "Wir möchten klar machen, dass, wer Verrat am Land Israel begeht, den Likud verlassen muss", erklärt der Siedler Shevach Stern, Mitinitiator des Putschplans.
Scharons Macht in der Partei, die er 1973 mitgegründet hat, wackelt. Daran ist er zum Teil selbst Schuld. Hätte er, so wie Netanjahu seinerzeit, für die direkte Wahl des Ministerpräsidenten gestimmt, wäre seine Wiederwahl heute so gut wie sicher. (Zwischen 1992 und 2001 wurde der Ministerpräsident direkt vom Volk gewählt). 54 Prozent der Israelis würden heute Scharon wählen, nur 21 Prozent Netanjahu. Sogar die Mehrheit der Likud-Wähler ist für Scharon. Aber das spielt gar keine Rolle. Denn Scharon initiierte die Rückkehr zur Parteienwahl, und der Parteikongress wählt den Spitzenkandidaten und verabschiedet die Kandidatenliste für die kommenden Parlamentswahlen. Die Parteifreunde fühlen sich von Scharon verraten, weil er gegen die Mehrheit der Delegierten die Räumung der Siedlungen durchsetzte. So befürworten 44 Prozent der Likudmitglieder Netanjahu, nur 38 Prozent Scharon. Unter den Delegierten ist Scharons Position noch wackeliger: Zwei Drittel von ihnen sind gegen ihn.
In einer neuen Umfrage unter den Delegierten landete Scharon nur auf Platz zwölf: Nur 43 Prozent wollen ihn im nächsten Parlament sehen. Die zehn populärsten Likud-Politiker sind demnach Scharons heftigste Gegner. Der beliebteste ist Uzi Landau, der vor kurzem in einem Parlamentsausschuss Scharon als "einen korrupten Lügner, der die Korruption in Israel zum neuen Höhepunkt brachte", beschimpfte. Die persönliche Attacke in Anwesenheit Scharons war beispiellos sogar für die nicht besonders zimperliche israelische Politik.
Wie groß das Misstrauen gegenüber Scharon in seiner Partei ist, zeigt eine Initiative des Ministers Israel Katz, die Parteiverfassung zu ändern, um jedem Likud-Abgeordneten, Minister und auch dem Premierminister zu verbieten, ohne Zustimmung des Parteikongresses und der Parteimitglieder jüdische Siedlungen zu räumen. Die Delegierten wollen sich nicht nur dafür rächen, dass Scharon gegen ihren Willen als erster Premier jüdische Siedlungen räumen ließ. Sie wollen auch jedem Likud-Politiker klar machen: Wer Gebiete des Landes Israel räumt, begräbt auch seine politische Karriere. Ein Teil des Hasses der Delegierten ist nicht politisch, sondern persönlich motiviert, und richtet sich gegen Scharons Sohn Omri, der sie nicht genug hofierte. Omri Scharon fungierte als Vertrauter seines Vaters und wird jetzt wegen illegaler Finanzierung des Wahlkampfs seines Vaters angeklagt.
Die Macht der Likud-Delegierten ist grenzenlos. Sie verlangen Stellen für sich und ihre Verwandten und Freunde, sie wollen politische Hilfe für ihre Unternehmen und Geld für ihre Unterstützung bei den nächsten innerparteilichen Wahlen. "Ich habe Angst, ihre Forderungen abzulehnen", sagte Anfang September ein erfahrener Likud-Parlamentarier. "Ich fürchte mich vor diesen Menschen, die nur an sich selbst denken und mich erpressen. Manchmal frage ich mich, ob ich in einer Demokratie lebe." Auf die Frage des Reporters, ob er ihn namentlich zitieren dürfe, sagte er: "Wollen Sie mich abschlachten? Nicht einmal Scharon würde seine Meinung über die Delegierten sagen."
In der vergangenen Woche feierte eine Delegierte die "Bar Mitzwa", - eine Art jüdische Konfirmation - ihres Sohnes. Noch bevor der 13-Jährige beim Festakt auftauchte, warteten bereits alle Likud-Minister und Abgeordnete auf den Jungen. Sie kamen früh, damit sie weiter zur Hochzeit des Sohnes eines anderen Delegierten fahren konnten, von dort zur Hauseinweihung eines dritten und zur Trauerkundgebung eines vierten. Bei empfindlichen Abstimmungen sitzen Delegierte - manche von ihnen vertreten bekannte Kriminelle - in Parlamentsausschüssen und sorgen dafür, dass "ihre" Abgeordnete richtig abstimmen.
Scharon versucht nicht, die Delegierten im Nachhinein für die Räumung zu gewinnen. Er attackiert den Siedlerrat und die Extremisten, "die mich aus dem Amt vertreiben wollen" und kämpft nicht mit zionistischen, sondern mit zynischen Argumenten: Wer vorgezogene Wahlen und seinen Sturz als Parteivorsitzenden betreibe, verkürze die Regierungszeit des Likuds um 15 Monate und gefährde die Chancen der Partei bei den kommenden Wahlen. Sein Kalkül ist einfach: Die Minister und Abgeordneten lieben ihre Posten mehr als Eretz Israel. Sie lesen auch die jüngsten Umfragen, wonach der Likud unter Scharon 36 Mandate (von insgesamt 120) bekommt, unter Netanjahu hingegen nur 30 Mandate.
Gleichzeitig gibt Scharon zu verstehen, dass er im Fall einer Niederlage in seiner Partei den Likud verlassen und mit seinen Anhängern, darunter Vizepremier Ehud Olmert, eine gemäßigtere Likud-B Partei gründen werde. Diese kann laut Umfragen 18 Mandate bekommen und zusammen mit der Arbeitspartei und mit Duldung der Linksparteien oder der Ultraorthodoxen eine Minderheitsregierung bilden.
Noch vor dem Parteikongress wird Scharon am 15. September vor der UN-Vollversammlung einen Höhepunkt seiner Karriere feiern. Geplant ist eine Begegnung mit dem pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf, dem jordanischen König Abdullah, mit US-Präsident George W. Bush, dem russischen Präsident Wladimir Putin, dem UN-Generalsekretär Kofi Annan, dem britischen Premierminister Tony Blair und dem chinesischen Premier Wen Jiabao. Geheime Kontakte werden mit dem König von Marokko und den Präsidenten Indonesiens und Tunesiens vorbereitet, berichtete eine israelische Zeitung. Das erste öffentliche Treffen zwischen Musharraf und dem israelischen Außenminister Schalom machte vielen Israelis klar, dass Scharons Politik Israel internationale Anerkennung verschafft. Je größer Scharons Erniedrigung vor dem Parteikongress, desto leichter wird es für Scharon sein, den Likud zu verlassen. Selbst wenn er als Spitzenkandidat doch gewählt würde, werden die rechtsradikalen Delegierten eine Liste mit mehrheitlich rechtsradikalen Parlamentariern wählen, die möglicherweise nach den Wahlen gegen Scharon agieren und ihm die Mehrheit im Parlament verweigern werden.
Ob Scharon im Likud bleibt, werden auch die Palästinenser bestimmen. Wenn sie Raketen aus dem Gazastreifen abfeuern, wird der Hardliner Netanjahu, der bereits Scharon "einen Linken" nennt, der mit dem einseitigen Rückzug die Terroristen ermuntere, siegen. Auch ein Angriff auf die abziehenden israelischen Truppen oder ein Rückzug, der mit einer Flucht endet, würde für Israel und für Scharon fatale Folgen haben. Bisher hat die Palästinenserbehörde die Ruhe einigermaßen bewahrt und mit den israelischen Sicherheitsbehörden sehr eng zusammengearbeitet. Der Selbstmordanschlag in Beer Sheva am 28. August wurde aber nicht verhindert und die Terrorinfrastruktur nicht aufgelöst. Am 5. September wurden bei einer Explosion in Gaza vier Palästinenser getötet und rund 30 verletzt. Hamas-Aktivisten versuchten, in einem Wohnblock Bomben herzustellen.
Auch die Palästinenserbehörde bereitet sich auf die Parlamentswahlen im Januar 2006 vor. Über zwei Millionen Dollar investiert sie in die Feierlichkeiten zur Befreiung Gazas. Die UN-Fördergelder für die Bekämpfung der Armut in einem Gebiet, in dem jeder Zweite arbeitslos ist und unterhalb der Armutsgrenze lebt, werden stattdessen in Festivals, Feuerwerke und Pilgerfahrten in die geräumten Siedlungen fließen. 350.000 T-Shirts mit der Aufschrift "Sieg und Befreiung" sowie mit dem Konterfei Arafats werden verteilt, Tausende kleine Fähnchen in den Nationalfarben bereitgestellt. Die Palästinenser fordern aber Arbeit, keine Almosen. Bei einer Demonstration in Chan Yunes warfen Jugendliche Brandflaschen auf palästinensische Polizisten, die das Feuer eröffneten und 16 Landsleute verletzten. Der Neffe des im vergangenen Jahr verstorbenen Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat und Ex-Sicherheitschef Mussa Arafat wurde von Unbekannten erschossen.
Im Mittelpunkt des Kampfs im Likud steht unter anderem der Bau tausender Wohnungen im so genannten E1-Gebiet zwischen Jerusalem und der großen Siedlung Maale Adumim. Scharon hat unter amerikanischem Druck die Bauarbeiten eingefroren, Netanjahu verspricht sie fortzusetzen, auch um den Preis einer Auseinandersetzung mit den USA. Damit will er die Westbank in zwei Gebiete teilen und einen Palästinenserstaat verhindern. Zurzeit kommt Washington Scharon zur Hilfe und versucht, europäischen Druck für weitere Räumungen in der Westbank zu verhindern. Die Bush-Regierung wird auch nicht die Räumung aller illegalen Vorposten fordern, wie in der Road-Map vorgesehen, was Scharon angesichts seiner innerparteilichen Probleme nicht realisieren kann. Scharon seinerseits wird keine neuen Bauprojekte im umstrittenen E1-Gebiet zwischen Jerusalem und Maale Adumim zulassen, um Washington nicht zu verärgern.
Ein friedlicher Gaza-Streifen und demokratische Wahlen für das palästinensische Parlament im Januar werden wiederum für die USA umso wichtiger, je mehr die irakische Demokratisierung im Chaos und Blutbad versinkt.