Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 37 / 12.09.2005
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Christian Meier

Wie konnte das passieren?

Die USA nach der schlimmsten Naturkatastrophe ihrer Geschichte

"Das ist so schlimm, so schlimm. Das hätte nicht passieren dürfen." Wenn eine TV-Ikone wie die Moderatorin Oprah Winfrey solche Sätze über die Flutkatastrophe im Gefolge des Hurrikans "Katrina" im Süden der Vereinigten Staaten sagt, dann horcht die Nation auf. Winfrey berichtete für ihre Sendung aus der überfluteten Stadt New Orleans, besuchte mit dem Bürgermeister den Superdome, der mehr als zehntausend Menschen mehrere Tage als Fluchtunterkunft diente und ließ sich mit einem Hubschrauber über die verwüstete Landschaft fliegen. Immer mehr US-Bürger fragen sich mittlerweile mit Winfrey: Wie konnte das passieren?

Drei Horrorszenarien waren es, auf die sich Amerikaner in der Vergangenheit im Geiste vorbereitet haben: ein Anschlag auf New York, ein Erdbeben in San Franzisko und eine Sturmflut in New Orleans. Alptraum Nummer eins wurde am 11. September 2001 schreckliche Wahrheit. Nummer zwei liegt knapp hundert Jahre zurück, könnte sich aber jederzeit wiederholen. Und Nummer drei entwickelt sich zu der schlimmsten Naturkatastrophe, der die Vereinigten Staaten jemals ausgesetzt waren.

Das Krisengebiet in den Staaten Mississippi, Louisiana und Alabama bietet ein Bild der Zerstörung, nachdem der Hurrikan am 28. August seinen Höhepunkt erreichte und einen Tag später Dämme in New Orleans brachen. Hunderttausende Einwohner mussten evakuiert werden, viele von ihnen haben ihre Häuser verloren. Diejenigen, die keine Zuflucht bei Verwandten oder Freunden außerhalb des Gefahrengebietes gefunden haben, sind obdachlos. Geschätzte hunderttausend Einwohner hielten sich bei Ankunft von "Katrina" noch in der Stadt auf, ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Sie waren zur Flucht zu arm, weil sie kein Auto besitzen, zu schwach oder zogen es vor, in ihren Häusern zu bleiben.

Die Opfer des Hurrikans werden nun hauptsächlich von benachbarten Bundesstaaten aufgenommen, mit Texas als einem der größten Auffangbecken. In der gesamten Nation werden Bürger gebeten, Flutopfer zu beherbergen.

Mittlerweile geht das Wasser zurück und in immer mehr Regionen funktionieren Strom und Telefon wieder. Was jedoch in den am heftigsten betroffenen Gebieten zum Vorschein kommt, wenn das Wasser vollständig abgepumpt ist, ist nur schwer vorstellbar. Am vergangenen Mittwoch wurde bekannt, dass allein der Staat Louisiana 25.000 Leichensäcke geordert hat. Die offizielle Zahl der Todesopfer in dem Bundesstaat liegt dagegen immer noch bei rund 100. Die Federal Emergency Management Agency FEMA, die staatliche Koordinierungsstelle der Rettungsarbeiten, hat die Medien aufgefordert, keine Bilder von Leichen zu druck-en, um nicht die Würde der Toten zu verletzen. Tom Rosenstiel von der Journalistenschule der Columbia University sagte dazu in einem Interview, es gehe der FEMA mehr um die Kontrolle von Bildern als um Menschenwürde.

Vor allem das weiterhin überflutete New Orleans ist zu großen Teilen nicht mehr bewohnbar, die endgültige Räumung wurde angekündigt. Die Abpumparbeiten haben begonnen, allerdings kommt es jetzt zu Feuerausbrüchen wegen beschädigter Gasleitungen. Bis zu zehntausend Bürger halten sich noch in der Stadt auf, manche davon wollen sich gegen eine mögliche Zwangsevakuierung wehren. Während die örtliche Polizei darauf hinweist, dass Zwangsräumungen erlaubt seien, da Kriegsrecht gelte, hielten sich Landes- und Bundesregierung mit solchen Äußerungen zurück. Man werde die Menschen nicht gegen ihren Willen aus ihren Hausern drängen, sagte ein Vertreter der Nationalgarde. Wissenschaftler warnen hingegen eindringlich vor Seuchengefahren und appellierten an Politiker, New Orleans so schnell wie möglich zu räumen.

Im Volksmund heisst New Orleans auch "The Big Easy" - das mitunter harte Leben im Mississippi-Delta ließ sich im Vergnügungsviertel French Quarter immer ein wenig leichter ertragen, das Lebens-Tempo war langsamer, entspannter. Doch die Stadt, die 1718 von französischen Siedlern gegründet und 1803 im "Louisiana Purchase" von den USA erworben wurde, gibt es nicht mehr. Gewiss, die Amerikaner werden ein neues New Orleans aus den Trümmern aufbauen, zu ausgeprägt ist ihr "pioneer spirit", bei Niederlagen nicht klein bei zu geben und auch bei widrigen Bedingungen durchzuhalten. Und nicht zuletzt ist New Orleans mit rund einem Viertel der Öl- und Naturgasproduktion und einem Drittel des nationalen Fischfangs ein Wirtschaftsstandort.

Doch nach ersten Schätzungen werden voraussichtlich nur etwa die Hälfte der halben Million Einwohner nach New Orleans zurückkehren. Denn wer die Möglichkeit hat, in einer anderen Region weiterzuleben und kein Haus zurücklässt, wird seine Chance nutzen. Das Schulsystem gilt als eines der schlechtesten der Vereinigten Staaten. Verbrechens- und Armutsrate sind überdurchschnittlich hoch. Das neue New Orleans wird und muss darum ein anderes sein.

Beobachter sind besonders entsetzt, wie langsam die Hilfsaktionen in Gang kamen und wie wenig organisiert sie voran gehen. Die "New York Times" berichtete am vergangenen Donnerstag auf der Titelseite, wie ein verwesender Leichnam mehrere Tage lang mitten in der Stadt liegen gelassen und selbst von Angehörigen der Nationalgarde ignoriert wurde. Autos würden verkehrswidrig durch die Strassen fahren, Feuer unkontrolliert brennen, handgeschriebene Schilder drohten Plünderern mit Erschießung. "Willkommen im New Orleans der Post-Apokalypse", schrieb die "Times".

"Katrina" entfacht ein soziales Problem ungeahnter Größenordnung. In der Mehrzahl sind es besonders arme und schwarze Bürger, die am härtesten von der Katastrophe betroffen sind. John Edwards, im vorigen Jahr demokratischer Vize-Präsidentschaftskandidat, sagte: "Die Menschen, die am meisten unter ,Katrina' leiden sind die, die jeden anderen Tag auch am meisten leiden."

Das Rassenproblem im Süden der USA, das in der Nation noch immer unter der Oberfläche des täglichen Lebens spürbar ist, wird von der Flut wieder hochgespült. Rasse und Klasse sind im Land nach wie vor untrennbar miteinander verbunden. Laut "New York Times" sind von den 28 Prozent der Bevölkerung New Orleans, die als arm gelten, 84 Prozent schwarz.

Es war kein Geheimnis, das New Orleans schon immer wenig geschützt gegen Wind und Wasser war. Darum ist es um so erstaunlicher, das eine massive Hilfe mit Wasser, Lebensmitteln und Medizin die Stadt nicht vor Freitag erreichte, vier Tage nach dem Dammbruch. Tagelang saßen Flutopfer auf den Dächern von Häusern, bis sie von Helfern in Hubschraubern gerettet wurden, oder harrten unter menschenunwürdigen Umständen in Unterkünften aus.

Im Kreuzfeuer der Kritik steht der FEMA-Chef Michael D. Brown. In einem Interview bekannte Brown, er habe lange Zeit nichts von 20.000 Flutopfern im Kongresszentrum von New Orleans gewusst. Präsident George W. Bush billigte Brown trotzdem vor TV-Kameras zu: "Brownie, du hast verteufelt gute Arbeit geleistet." Ein Kommentar, für den seinerseits Bush von vielen Seiten Spott auf sich zog. Michael Chertoff, Chef des Departments für Homeland Security, das nach dem 11. September für nationale Sicherheitsangelegenheiten eingerichtet wurde, wollte seinerseits keine Versäumnisse eingestehen.

Niemand habe voraussehen können, dass die Dämme brechen könnten, gab Präsident Bush der verdutzten Presse zu Protokoll. Tatsächlich befürchteten Experten Dammbrüche in der Region schon seit den 60er-Jahren. Für Verwirrung sorgten auch Bushs Ausführungen vor Medienvertretern, der republikanische Senator Trent Lott werde sein "fantastisches" Haus wieder aufbauen. Er freue sich bereits darauf, auf Lotts neuer Veranda zu sitzen. Angesichts abertausender Obdachloser wurden Bushs Bemerkungen als geschmacklos gewertet.

Bush selbst musste kurze Zeit später einräumen, dass die Resultate der Hilfsaktionen "nicht akzeptabel" seien und schickte mehrere tausend zusätzliche Soldaten in die Region. Gleichzeitig kritisierte der Präsident, Verantwortliche in den Bundesstaaten hätten Fehler begangen. Louisianas demokratische Senatorin Mary Landrieu drohte Bush daraufhin einen Schlag auf seine Nase an.

Der US-Präsident reiste nach der Überschwemmung zwei Mal in das Katastrophengebiet. Bushs Umfragewerte waren bereits vor "Katrina" denkbar schlecht, so dass Krisenmanagement in eigener Sache dringend geboten war. Eine Umfrage der "Washington Post" in der vergangenen Woche ergab folgendes Bild: 46 Prozent der US-Bürger attestieren Bush, er habe die Krise im Griff. 47 Prozent denken, er habe nicht angemessen gehandelt. Als Commander-in-Chief ist Bush auch gleichzeitig Oberbefehlshaber der Truppen. Seinen Bürgern sagte der Präsident: "Diese Nation wird sich wieder aufrichten."

Bush hat den Kongress um 51,8 Milliarden Dollar für Krisenhilfe angefragt und sie am vergangenen Donnerstag bewilligt bekommen. Ein Paket von 10,5 Milliarden für Soforthilfe hatte er bereits vorher unterzeichnet. Schon jetzt rechnen Experten mögliche Kosten des Wiederaufbaus aus und kommen auf mindestens 200 Milliarden Dollar. 400.000 Arbeitsplätze seien gefährdet, das Wirtschaftswachstum werde in der zweiten Jahreshälfte voraussichtlich um ein Prozent sinken. Die Folgen für die Ölindustrie sind schwerwiegend, innerhalb einer Woche haben sich die Benzinpreise im Land verdoppelt.

Nachdem sie sich anfänglich zurückgehalten haben, kritisieren Vertreter der Demokraten immer schärfer Bushs Vorgehensweise. Sie werfen der Regierung vor, nicht ausreichend auf Terroranschläge und andere Katastrophenfälle vorbereitet zu sein. "Unsere Verletzbarkeit wurde offengelegt", sagte die Kongressabgeordnete Nancy Pelosi. Bushs letztjähriger Rivale John Kerry sagte in einer Erklärung: "Was wir hier sehen, ist die Ernte von vier Jahren kompletter Vermeidung, wirklich Probleme lösen und wirklich regieren zu wollen und stattdessen Manipulation und Ideologie zu bevorzugen."

Das Mega-Thema nationale Sicherheit, ein zentrales Anliegen der Bush-Regierung, wendet sich damit gegen den Präsidenten. George W. Bush, der sich immer wieder als Anführer einer angegriffenen Nation inszeniert hat, wird nun ausgerechnet ein Mangel an "Leadership" vorgeworfen.

Republikaner wehren sich ihrerseits gegen das "blame game" der Demokraten, das Suchen nach Verantwortlichen für eigene politische Zwecke. Inzwischen haben die zwei Kammern des Kongresses, das House of Representatives und der Senat, die Bildung einer gemeinsamen Kommission angekündigt, die die Reaktion der Regierung auf "Katrina" untersuchen soll. "Amerikaner verdienen Antworten", sagte der republikanische Senator Bill Frist. "Wir müssen alles tun, was wir können, um von dieser Tragödie zu lernen, das System zu verbessern und alle unsere Bürger zu schützen." Eine gemeinsame Untersuchung der Kammern ist eine Seltenheit. Politiker auf Seiten der Demokraten kritisieren allerdings, dass sie voraussichtlich nicht in die Untersuchung einbezogen werden.

Als eine Ursache des schlechten Krisenmanagements der Regierung wird immer wieder genannt, dass der Krieg im Irak die Zahl der im Land verfügbaren Nationalgarden in den betroffenen Bundesstaaten um mehr als ein Drittel reduziert habe. Filmregisseur Michael Moore ("Fahrenheit 9/11") hat umgehend einen offenen Brief an den Präsidenten verfasst ("Dear Mr. Bush"), in dem er ihm Untätigkeit und Ignoranz vorwirft. Am Tag nach dem Höhepunkt des Wirbelsturms sei Bush aus seinem Urlaub nach San Diego geflogen, um dort eine Party zu feiern.

Als weiterer Grund, der zur Überschwemmung geführt habe, gilt das nicht ausreichende Budget für Dammsicherungen. Eine weitere Ursache dürfte auch der Raubbau an der Natur im Delta sein. Weite Teile des Sumpflandes um die Stadt wurden beseitigt, um die Schifffahrts-Industrie zu stärken. Damit wurde die Region anfälliger für Überschwemmungen.

Im Hintergrund der Debatte um die Verantwortlichkeit für die mangelhaft durchgeführten Hilfsaktionen steht auch die grundsätzliche Frage nach dem Einfluss des Staates. Während Republikaner in der Vergangenheit für "weniger Staat" eintraten - Bush ist ein Befürworter von umfangreichen Steuersenkungen - glauben Demokraten an die Verantwortung des Staates, besonders gegenüber sozial benachteiligten Bürgern.

In diesem Zusammenhang gehen Beobachter davon aus, dass "Katrina" auch einen Einfluss auf die Anhörung von Richter John G. Roberts haben könnte. Roberts soll nach dem Willen von Präsident Bush Nachfolger des verstorbenen Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes, William H. Rehnquist, werden. Roberts wird als Verfechter eines schmaleren, in seiner Rolle eingeschränkteren Staates gesehen. Nach "Katrina" ist es wahrscheinlich, dass sich Demokraten bei der Befragung von Roberts auf diese Punkte konzentrieren werden.

Auch wenn eine Naturkatastrophe wie "Katrina" grundlegende Unterschiede zu einem Terrorangriff aufweist, müssen in beiden Fällen rasch Entscheidungen getroffen werden, die über Wohl und Wehe eines Landes entscheiden. Darum erstaunt es nicht, dass nun vielfach Parallelen zum 11. September gezogen werden. Während sich im Nachhall des Terrors auf New York rasch der Stolz der Amerikaner auf ihr Land durchsetzte, stehen nun Schande, Enttäuschung und Wut an oberster Stelle der Gefühlsskala. Die mangelhafte Antwort der Regierung auf "Katrina" wirft viele Fragen auf und versetzt die Nation in einen Zustand der Unsicherheit und Hilflosigkeit.

Die Präsidentschaft des George W. Bush entwickelt sich mit dieser neuerlichen Tragödie nach dem 11. September und dem Irak-Krieg zu einer der unruhigsten nach dem Zweiten Weltkrieg. Terror, Krieg und Flut - nicht für alle Katastrophen kann Bush verantwortlich gemacht werden. Doch auf alle muss er eine Antwort finden.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.