Wozu heute noch ein marxistisches Wörterbuch? Zweifellos umweht das Unternehmen des linken Argument Verlags eine gehörige Portion Nostalgie. Denn anstatt den Marxismus wirklich einer historisch kritischen Betrachtung zu unterziehen, was allein die auch durch die realpolitischen Ereignisse überholte theoretische Spreu von erhaltenswerten Ansätzen und interessanten Perspektive trennen könnte, konzentrieren sich die Artikel eher darauf, angesichts moderner Abweichungen an die reine Lehre des Schulgründers zu erinnern.
Unter dem Stichwort Imperium verteidigt das Wörterbuch Karl Marx gegen das von Michael Hardt und Antonio Negri im Jahr 2000 herausgebrachte Manifest "Empire". Dieses belebte vor allem nach dem 11. September 2001 die Globalisierungsdebatte, indem es auf marxistische Ansätze zurückgreift, diese aber mit Theorien von Foucault und Deleuze weiterdenkt. Der Artikel umreißt knapp aber treffend die Thesen von Hardt/Negri, um sie dann nicht nur mit der vielfältigen Kritik zu konfrontieren, der sich die beiden Autoren ausgesetzt sahen. Vielmehr verweist der Aufsatz darauf, dass doch Marx im Gegensatz zu manchen landläufigen Meinungen beinahe das meiste schon gesagt hätte.
Nach Negri/Hardt tritt an die Stelle der alten, miteinander konkurrierenden imperialistischen Mächte eine supranationale Macht, nämlich die USA, die versuchen, einen globalen Rechts- und Friedenszustand herzustellen, in dem sie selbst eine so dominante wie integrierende Rolle einnehmen. Im Gegensatz zur vorherrschenden Auffassung, Marx hätte keine Theorie der internationalen Beziehungen geschrieben, fänden sich gerade in seiner "Deutschen Ideologie" viele Ansätze, die das Geflecht imperialistischer internationaler Beziehungen besser als Negri/Hardt erklären würden.
Sehr lange Artikel setzen sich mit den Stichworten herrschende Klasse, herrschaftsfreie Gesellschaft und Herrschaft auseinander. Zunächst wird Herrschaft im Sinne von Marx auf die Eigentums- und Produktionsverhältnisse zurückgeführt. Unter ökonomischen Ausbeutungsbedingungen müssen die Produzenten unbezahlte Mehrarbeit leisten, gründen darin letztlich die Herrschafts- und Knechtschaftsbeziehungen. Im weiteren sucht der Artikel nach einer Definition von Herrschaft, die sich als institutionalisierte asymmetrische Machtstruktur einer hierarchischen Ordnung präsentiert, die Marx primär ökonomisch begründet.
Doch der Artikel greift auch auf Moses zurück, auf Aristoteles, auf Max Weber und Hannah Arendt. Aber die historische Betrachtung lenkt über die Frühsozialisten den Blick wieder zu Marx und Engels, denen allein sechs Seiten gewidmet werden - durchaus brauchbare Darstellungen. Darüber hinaus gelangt der Weg natürlich zu Lenin, Rosa Luxemburg, schließlich zu Gramsci und Althusser, um dann ausführlich auf die linken Diskussionen der 68er-Zeit und auf die Debatten um den Eurokommunismus einzugehen.
Man vergleiche das Wörterbuch mit anderen Lexika: Im "Handbuch philosophischer Grundbegriffe" von 1973 wird das Thema Herrschaft längst nicht so ausführlich abgehandelt. Zunächst geht es um das Phänomen der Anerkennung von Herrschaft, dann um die damit verbundene Entfremdung, die Fragwürdigkeit des Begriffs selbst und die mit Herrschaft sich immer stellende Frage der Freiheit und der Autonomie. Die von Jürgen Mittelstraß 1984 herausgegebene "Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie" erläutert Herrschaft in erster Linie aus der Perspektive Max Webers und der Frage, wie und warum einem Befehl gehorcht wird.
Einen breiten Raum nimmt im Marxismus-Wörterbuch das Thema Individuum ein. Verschiedene Artikel widmen sich den Stichworten Individualismus, Individualität, individuelle Reproduktion und Individuum. Im Vergleich dazu kennt das Handbuch philosophischer Grundbegriffe nur das Stichwort Individuum, während die "Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie" daneben auch die Stichworte Individualethik, methodologischer Individualismus, Individualität enthält.
Das Wörterbuch führt das Individuum zunächst - im Anschluss an Marx - im Gegensatz zum gesellschaftlich Allgemeinen von Kapital und Arbeit ein: Der Einzelne verliert zunehmend seinen Bezug zu den gesellschaftlichen Kollektiven und präsentiert sich als atomisiertes Subjekt, das letztlich seinen Weltbezug und seine Einbindung in die Gemeinschaft zurückerobern muss.
Natürlich erläutert der Artikel auch den historischen Werdegang des Begriffs von der griechischen Antike, über die Aufklärung, um schließlich in die genauere Betrachtung des jungen Marx einzusteigen: Der Gegensatz von Individuum, Staat und Gesellschaft, der ausführlich im Sinne der marxistischen Ökonomie von Ausbeutungsverhältnissen erläutert wird, gipfelt demnach im Ziel einer klassenlosen Gesellschaft, in der nach Marx erst die individuelle Entfaltung aller Menschen möglich werden soll.
Die neomarxistische Debatte verläuft zu Jürgen Habermas' kommunikativem Handeln, das die postkommunistisch längst verflossene Solidarität wenigstens ansatzweise retten soll. Damit wird der Niedergang marxistischen Denkens in den Individualisierungsprozessen der Gegenwart nicht übergangen, aber vor der Überhöhung des Individuums gewarnt und die Aktualität des jungen Marx beschworen, der die Spannung zwischen Individuum und Kollektiv bereits adäquat erkannt habe.
Natürlich enthält jeder Artikel eine ausführliche und nützliche Bibliografie und ein Verzeichnis von benachbarten Stichworten. War der Marxismus eine der großen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts, so hilft das Wörterbuch, ihn nach seinem Ende aus sich selbst heraus zu verstehen. Nicht dass es dem Verständnis des jeweiligen Themas nicht förderlich wäre: Doch der postideologischen Welt der Gegenwart entspricht wohl eher Max Webers Postulat der wissenschaftlichen Sachlichkeit und weniger der Blick eines bestimmten Weltbildes.
Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.)
Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus.
Argument Verlag, Hamburg 2004/2005; Band 6/I Hegemonie bis Imperialismus, 864 Spalten, 79,- Euro; Bd. 6/II Imperium bis Justiz, 899 Spalten,79,- Euro