Im Frühsommer erlebte Frankreich mit der Ablehnung des Verfassungsvertrags ein europapolitisches De-saster wie schon 50 Jahre zuvor, als die französische Nationalversammlung die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ablehnte und damit die Integration der Außen- und Sicherheitspolitik um Jahrzehnte verzögerte. Vor diesem Hintergrund kommt das Buch von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet zur rechten Zeit, um die französische Europapolitik zu erklären.
Wichtigstes politisches Ziel von Charles de Gaulle war es, Frankreich seinen Rang in der Weltpolitik zu bewahren beziehungsweise neu zu erobern und die nationale Unabhängigkeit zu garantieren. Den europäischen Integrationsprozess musste er dennoch unterstützen, wenn auch auf intergouvernementaler Basis, da Frankreich in der Agrarpolitik vom europäischen Integrationssprozess stark profitierte.
Schwerpunktmäßig befasst sich die Autorin mit der Europapolitik Mitterrands und Chiracs. Dabei wird deutlich herausgearbeitet, dass Frankreich unter Mitterrand sehr stark auf Europa zugegangen ist. Für die Autorin hat Mitterrand im Verlauf seiner 14-jährigen Amtszeit die französische Europapolitik auf tiefe Weise geprägt. Nach seiner Wandlung "vom Saulus zum Paulus" im Jahr 1983 praktizierte Mitter-and eine aktive Europapolitik, die auf der engen deutsch-französischen Zusammenarbeit fußte. Die Regelung des britischen Beitragsproblems, die Süderweiterung um Spanien und Portugal 1986 und die Einheitliche Europäische Akte 1986/87 waren europapolitische Erfolge, die auch die Handschrift des französischen Präsidenten trugen.
In den Jahren 1989/90 arbeitete Mitterrand auf eine stärkere Einbindung der Bundesrepublik in den damals noch westeuropäischen Integrationsprozess hin, damit eine Hinwendung Deutschlands zum Osten und "damit die Lockerung seiner Bindung im Westen" vermieden werden konnte. Als Chiffre dafür steht "Maastricht", also der Vertrag über die Europäische Union mit der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion. Das Referendum über den Maastrichter Vertrag konnte Mitterrand nur knapp gewinnen, spaltete es Frankreich doch bereits Anfang der 90er-Jahre.
Zum Nachfolger Mitterrands wurde 1995 nach zwei Niederlagen Jacques Chirac gewählt. "Eine gewisse Verunsicherung (ergriff) die europäischen Hauptstädte, insbesondere Bonn", denn man war sich nicht sicher, welche Europapolitik Frankreich nun praktizieren würde. Hatte Chirac in gaullistischer Manier 1978 im Appell von Cochin noch vehement das supranationale Europa abgelehnt und sich als gaullistischer Erbe dargestellt, so erfolgte die europapolitische Bekehrung bereits nach wenigen Monaten, nachdem sie bei Mitterrand noch zwei Jahre gedauert hatte.
Zunächst suchte Jacques Chirac mit seinen nächsten Helfern - Premierminister Juppé, Außenminister de Charette und Europaminister Barnier - europapolitische Reformen im französischen Interesse auf intergouvernementaler Basis zu entwickeln. Französische Interessen schienen im Vordergrund vor europäischen zu stehen. So wehrte sich Chirac vehement gegen die Bestellung des Niederländers Wim Duisenberg zum Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) für die volle Amtszeit von acht Jahren. Auf der Gipfelkonferenz von Nizza im Dezember 2000 verteidigte Chirac, obwohl er zu jener Zeit die EU-Präsidentschaft ausübte, nachdrücklich französische Interessen.
Nach der Präsidentschaftswahl von 2002 und der Überwindung der Kohabition wurde auch das deutsch-französische Tandem wieder aktiv und fand zu seiner früheren Harmonie zurück. So sieht die Verfasserin den Irak-Krieg als Katalysator deutsch-französischer Gemeinsamkeiten, die sich in der Vorbereitung des Europäischen Konvents ebenfalls zeigten.
Dennoch bewertet sie den deutsch-französischen Gleichklang im Irak-Krieg zwiespältig. Einerseits habe er zur Spaltung Europas beigetragen, "andererseits jedoch hat dieser Schulterschluss Deutschland und Frankreich wieder in ihre angestammte Motorenrolle hineinkatapultiert, mit beachtlichen Impulsgebungen sowohl für die konkrete Ausgestaltung des Konvententwurfs als auch für das gemeinsame Projekt ,Europe Puissance'".
Insgesamt konstatiert Müller-Brandeck-Bocquet zu recht, dass Frankreich in all den Jahren des Aufbaus der europäischen Integrationsgemeinschaft nur dann zu weit reichenden Integrationsschritten mit Souveränitätsverzicht bereit gewesen ist, wenn zentrale nationale Interessen auf dem Spiel standen.
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
Frankreichs Europapolitik.
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005; 295 S., 29,90 Euro