Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 45 / 07.11.2005
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Eckhard Jesse

Entwarnung ist ebenso wenig angebracht wie Alarmismus

Die Gründe für das bessere Abschneiden rechtsextremer Parteien im Osten sind vielfältig

Dass im Osten eine linke Flügelpartei wie die PDS oder "Die Linkspartei", so der neue Name, besser abschneidet als im Westen, bedarf keiner großen Begründung, allenfalls wegen der Höhe des Erfolgs. 40 Jahre "realer Sozialismus" gehen nicht spurlos vorüber. Der "Antifaschismus", die Staatsdoktrin der DDR, wirkt nach. Bei der Bundestagswahl 2005 lag die Linkspartei im Osten mit 25,4 Prozent als zweitstärkste Partei sogar knapp vor der CDU.

Viel erklärungsbedürftiger hingegen ist das bessere Abschneiden der Rechtsaußenparteien im Osten und das ebenso stärkere Ausmaß an rechter subkultureller Gewalt. Schließlich hatte sich die DDR auf ihren Antifaschismus etwas zugute gehalten, galt er doch für viele als eine Art Leitbild.

Dem Erklärungsversuch geht die Faktenanalyse voraus - bezogen zum einen auf den organisierten Rechtsextremismus (Erfolge der Parteien bei Wahlen), zum anderen auf den unorganisierten (subkulturelle Gewalttaten). Damit sind wesentliche Bereiche des (Rechts-)Extremismus eingefangen, wenn auch nicht alle. Außer Acht bleiben intellektuelle Bestrebungen, die den demokratischen Verfassungsstaat zu delegitimieren suchen.

Zum ersten Punkt: Anfangs fielen die Erfolge der rechtsextremistischen Parteien in den neuen Bundesländern nicht höher aus - im Gegenteil. Allerdings änderte sich das mit dem Jahre 1998: Die Deutsche Volksunion (DVU) Gerhard Freys zog auf Anhieb mit 12,9 Prozent in den Landtag Sachsen-Anhalts ein. Im Land Brandenburg erreichte sie 1999 5,3 Prozent, dann folgten 6,1 Prozent bei der nächsten Wahl im Jahr 2004.

Auch der Einzug der NPD in den Landtag Sachsens im Jahre 2004 mit 9,2 Prozent auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die Hartz IV-Gesetzgebung löste Entsetzen aus. In den letzten Jahren trat unter dem Vorsitzenden Udo Voigt eine Radikalisierung der Partei ein, nicht zuletzt durch den Zulauf von Mitgliedern verbotener Vereinigungen. Ihr neues strategisches Konzept, das vor allem auf den Osten zielt, stützt sich seit 1997 auf drei Säulen: auf die Schlacht um die Köpfe, die Schlacht um die Straße sowie die Schlacht um die Wähler. Mit der "Schlacht um die Köpfe" ist die Programmatik gemeint, mit der "Schlacht um die Straße" die Massenmobilisierung, mit der "Schlacht um die Wähler" die Wahlteilnahme. Nach dem Erfolg in Sachsen fügte Voigt auf dem Parteitag in Leinefelde im Oktober 2004 eine weitere Säule hinzu: den "Kampf um den organisierten Willen". Darunter versteht er die Bündelung aller Kräfte des "nationalen Lagers" - von der Deutschen Volksunion bis zu den "Freien Kameradschaften". Selbst wenn manches großspurige Propagandagetöse nicht der Wirklichkeit entspricht, so sind die aggressiven Rechtsextremisten in keinem Land Deutschlands so stark wie in Sachsen, wo sie in der Sächsischen Schweiz über eine gewisse gesellschaftliche Verankerung verfügt.

Bei den drei letzten Bundestagswahlen schnitten die rechtsextremistischen Parteien im Osten (1998: 5,0 Prozent; 2002: 1,7 Prozent, 2005: 4,0 Prozent) besser als im Westen ab (1998: 2,8 Prozent; 2002: 0,9 Prozent; 2005: 1,7 Prozent). So gewann die NPD bei der letzten Wahl in den neuen Bundesländern 3,6 Prozent der Stimmen, im Westen nur 1,1 Prozent. Hingegen weist der Osten keine größere Organisationsdichte im Bereich de Rechtsextremismus als der Westen auf. Die einstige "Organisationsgesellschaft" ist eine Gesellschaft geworden, die eher durch Vereinzelung geprägt ist als durch einen hohen Organisationsgrad.

Das Wahlverhalten in den neuen Bundesländern unterscheidet sich von dem in den alten. Es gibt mehr Nicht- und Wechselwähler, wiewohl selbst dort die Stammwählerschaft aufgrund des starken Nachlassens der gewerkschaftlichen und der konfessionellen Bindung erodiert. Die Parteibindung in den neuen Bundesländern ist wegen der fehlenden Tradition geringer. Die starke Säkularisierung hemmt nicht die Wahl rechtsextremistischer Parteien. Von der Unzufriedenheit mit der Regierung profitiert zunehmend nicht die "Opposition im System", sondern die "Opposition zum System".

Zum zweiten Punkt: In der ersten Hälfte der 90er-Jahre beging eine jugendliche rechtextremistische Subkultur - oft unter Alkoholeinfluss und in der Clique - eine Vielzahl gewalttätiger Ausschreitungen gegen Fremde, im Osten deutlich mehr als im Westen. Vor allem martialisch auftretende Skinheads taten sich dabei unrühmlich hervor. Die Verstöße gegen die Menschenwürde sorgten in der öffentlichen Meinung für Furore, wodurch Nachahmungstaten nicht ausgeblieben sind.

Zwar milderte sich diese Form diffuser rechtsextremistischer Gewalttätigkeit, doch ist sie in den neuen Bundesländern gleichwohl verbreiteter als in den alten, etwa dreimal so hoch. Den neuesten Daten zufolge wohnt fast die Hälfte der gewaltbereiten Rechtsextremisten im Osten. Die höhere Aggressivität gegen Fremde ist ein Zeichen für eine insgesamt höhere Fremdenfeindlichkeit, wie dies Umfragen belegen, erklärbar wohl damit, dass manche Ostdeutsche Fremde als Konkurrenten empfinden, obwohl es im Osten weitaus weniger Ausländer gibt ("Fremdenfeindlichkeit ohne Fremde").

Die Gründe für den insgesamt höheren Grad des Rechtsextremismus sind zum einen die Erblast des "realen Sozialismus", zum andern die Folge der schwierigen Transfomation, die Verwerfungen hervorruft. Die beiden Ursachen bedingen zum Teil einander. Die DDR, keine weltoffene Gesellschaft, schirmte die Bevölkerung weitgehend vor dem Einfluss von außen ab. Toleranz und Liberalität gegenüber anderen Kulturen konnten so nicht gedeihen. Bereits in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre verschafften sich rechtsextremistische Kräfte rabiat Gehör. Die These, sie seien eine Folge des Kapitalismus, war offenbar unhaltbar.

Schließlich ist die urplötzliche Transformation von einer Diktatur in eine Demokratie mit gravierenden Umbrüchen und Identitätsverlusten behaftet. Manche Ostdeutsche sehnen sich in ihrer Hoffnungslosigkeit und Desorientierung nach einem Staat, der Arbeitsplätze schafft und soziale Sicherheit verbürgt. Gleichheitsdenken überlagert Freiheitsdenken. Antikapitalismus ist in den neuen Bundesländern gefragt. Ihn bedienen auf je unterschiedliche Weise die Linkspartei wie die NPD. Da manche ihr Leben als entwertet ansehen, fehlt ihnen das Zutrauen zur demokratischen Institutionenordnung. Rechtsextremistische Gruppierungen sind im Osten in aller Regel nicht antikommunistisch orientiert, sondern antikapitalistisch. Sie sehen im Westen, in den USA und in der Globalisierung ihren Hauptfeind, setzen sogar auf "nationale Sozialisten". Das gilt für Parteien wie für "freie Kameradschaften" gleichermaßen. Jugendmilieus, die sich vom Staat verlassen fühlen, sehen den Sündenbock in noch schwächeren Kräften.

Offenkundig ist "der" Osten noch nicht demokratisch voll konsolidiert. Diese These läuft nicht auf eine Schelte der Bevölkerung hinaus, die oft mit anderen, weitaus schwerwiegenderen Herausforderungen konfrontiert ist als die im Westen. Wer die Motive verstehbar zu machen versucht, will sie nicht rechtfertigen. Der Demokratieaufbau (mit hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Verunsicherung) steht nicht unter annährend so guten Vorzeichen wie der im Westen nach 1945, als wirtschaftliche Prosperität politische Stabilität bald förderte.

Das Ausmaß rechtsextremistischer Bestrebungen ist eine Mischung von Angebots- und Gelegenheitsstrukturen. Während die Angebotsstrukturen (zum Beispiel das Fehlen eines charismatischen Führers) den Rechtsextremismus eher schwächen, erhöhen manche Gelegenheitsstrukturen im Osten das Aufkommen rechtsextremistischer Erfolge. Daher gibt es weniger intermediäre Kräfte. Die Schwäche gesellschaftlicher Vorfeldorganisationen, etwa der Gewerkschaften oder der Kirchen, begünstigt die mangelnde Widerstandskraft gegenüber fremdenfeindlichen Ressentiments.

Wer die Daten unaufgeregt analysiert und die Entwicklung im internationalen Vergleich betrachtet, sieht gleichwohl keine ernsthafte Gefahr durch den ostdeutschen Rechtsextremismus. Er findet 15 Jahre nach der deutschen Einheit, anders als in der Weimarer Republik, bei den tragenden gesellschaftlichen Richtungen keinerlei Unterstützung: nicht bei den Gewerkschaften und nicht bei den Unternehmen; nicht in den Medien und nicht an den Universitäten; nicht bei den Intellektuellen und nicht bei den Kirchen. So genannte Modernisierungsverlierer können sich nicht auf die Eliten berufen. Die Abwehrhaltung Ton angebender Schichten wurzelt angesichts der leidvollen Last der Vergangenheit tief. Entwarnung ist ebenso wenig angebracht wie Alarmismus.

So schlimm rechtsextremistische Spielarten im östlichen Landesteil sind, so sollte die Wissenschaft, die Publizistik und die Politik zweierlei nicht vergessen: Auch in den alten Bundesländern gibt es mannigfache rechtsextremistische Bestrebungen. Und: Jeder Rechtsextremist ist ein Antidemokrat, aber nicht jeder Antidemokrat ein Rechtsextremist.


Der Autor ist Professor im Fach Politikwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz.


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