Das hört man selten in Parlamenten: Da wird ein neuer Regierungschef gewählt, und sogar die Opposition gewährt ihm Vorschusslorbeeren - zwar nicht unbedingt wegen seines Politikansatzes, aber zumindest wegen seines persönlichen Stils. So erging es jetzt dem Bremer SPD-Politiker Jens Böhrnsen, bevor er in der Bürgerschaft mit 62 zu 19 Stimmen zum Nachfolger von Bürgermeister Henning Scherf, der aus Altersgründen sein Amt zur Verfügung gestellt hatte, gewählt wurde.
Dass die SPD ihn loben würde, war natürlich klar. Böhrnsen, bisher sechs Jahre lang Fraktionschef, vertrete politische Grundwerte, arbeite gut im Team und höre "ganz besonnen" zu, bevor er Entscheidungen treffe, meinte der Abgeordnete und Landesparteichef Carsten Sieling, der später als Nachfolger Böhrnsens an die Fraktionsspitze gewählt wurde. Mit unerwartet schlechtem Ergebnis: Nur 31 von 38 SPD-Abgeordneten stimmten für Sieling, obwohl der in den vergangenen Wochen überzeugend die Bürgermeister-Kandidatennominierung per SPD-Mitgliederbefragung moderiert hatte.
Neben den eigenen Genossen verteilten aber auch die oppositionellen Grünen Komplimente an den Scherf-Nachfolger: Sie hätten Böhrnsen als verlässlichen Politiker kennen gelernt, der einen sachorientierten, argumentativen Stil pflege und Verständnis für die Lebenslagen der Armen habe, sagte die Grünen-Fraktionsvorsitzende Karoline Linnert. Mag zwar sein, dass sie dabei auch auf eine spätere rot-grüne Koalition schielte. Aber aus der Luft gegriffen waren die Komplimente nicht. Denn Böhrnsen wirkt tatsächlich auf viele Mitmenschen glaubwürdig und sympathisch.
Was die Opposition natürlich nicht daran hindert, auch Kritik zu äußern. So warf die Grünen-Fraktionschefin ihm vor, bei seinem innerparteilichen Nominierungswahlkampf Hoffnungen geweckt zu haben, die er gar nicht erfüllen könne. Böhrnsen hatte sich im Scherf-Nachfolge-Duell mit Bildungssenator Willi Lemke als besonders konsequenter Sozialdemokrat präsentiert. Mehr SPD-Handschrift wolle er im Senat durchsetzen, hatte der Sohn einer engagierten sozialdemokratischen Arbeiterfamilie angekündigt, und dem Koalitionspartner CDU hatte er "neoliberale Verirrungen" und "einfältige" Privatisierungskonzepte vorgehalten. Den Christdemokraten gefiel das natürlich gar nicht. Deshalb verlangten sie ein klärendes Gespräch mit dem 56-Jährigen, bevor sie ihm ihre Stimme geben wollten. Das hatte inzwischen stattgefunden. Hinterher herrschte wieder einigermaßen Harmonie in dem Bündnis, das schon seit mehr als zehn Jahren zusammenhält. "Neue Besen kehren gut", befand der CDU-Landesvorsitzende Bernd Neumann (MdB) nach dem Treffen. Fraktionschef Harmut Perschau mahnte allerdings, als Bürgermeister trage Böhrnsen Verantwortung für die ganze Koalition und nicht nur für die Handschrift der SPD. Bei der Wahl bekam Böhrnsen dann aber doch eine kleine Quittung. Im Schutz der Kabinen stimmten fünf Abtrünnige aus der Koalition gegen den gemeinsamen Kandidaten. Waren es vergrätzte Christdemokraten oder Anhänger des unterlegenen Vorauswahl-Bewerbers Lemke? Sicher ist: Auch Henning Scherf hatte bei seinen drei Wahlen seit 1995 eine bis vier Koalitionsstimmen vermisst.
Der Führungswechsel ging ohne den Zurückgetretenen über die Bühne, weil der 67-jährige Scherf gerade in Israel weilte. In der Parlamentsdebatte vor der Wahl fiel aber ständig sein Name. SPD-Parteichef Sieling würdigte ihn als "Bürgermeister der Tat", der das Rathaus für die Menschen geöffnet habe und "in die Geschichte eingehen wird als großer Bürgermeister". Auch der CDU-Fraktionsvorsitzende Perschau lobte Scherf für seine "große Integrationskraft". Überhaupt habe die Koalition vieles geschafft, auf das sie stolz sein könne, meinte der Ex-Wirtschaftssenator.
Die Grünen und der FDP-Abgeordnete Willy Wedler sahen das naturgemäß anders. Sie erinnerten an das Scheitern großer Investitionen wie etwa des Einkaufs- und Freizeitzentrums "Space Park" und an das klar verfehlte Ziel, den Bremer Schuldenberg zu verkleinern und den Haushalt zu sanieren.
Doch auch bei SPD-Chef Sieling waren kritische Töne zu hören. Gleich nach seinem Lob auf Scherf sagte er: "Nach einem solchen Rücktritt muss es einen richtigen Neuanfang geben." Das klang nicht so, als wäre er sehr glücklich über die bisherige Sanierungspolitik. Sieling deutete aber an, was sich ändern sollte: Das Bündnis müsse einen "Aufbruch mobilisieren", beim Sparen soziale Gerechtigkeit walten lassen und ein besseres Verhältnis zwischen Parlament und Regierung schaffen - eine klare Anspielung auf Scherfs manchmal selbstherrlichen Führungsstil.
Der neue Bürgermeister, im Nebenamt auch "Senator für Justiz und Verfassung" und "Senator für kirchliche Angelegenheiten", steht jetzt vor großen Herausforderungen. Bremen kämpft ums Überleben, will vor dem Bundesverfassungsgericht mehr Finanzhilfen einklagen und muss noch heftiger als bisher den Rotstift schwingen. Als Konkursabwickler sieht sich der ehemalige Verwaltungsrichter aber nicht. "Sonst wäre ich nicht angetreten", versicherte Böhrnsen nach seiner Wahl mit einem Strauß roter Rosen im Arm.