Mit der Wahl Angela Merkels am 22. November 2005 zur Bundeskanzlerin übernimmt zum ersten Mal eine Frau das wichtigste Amt im Staat. Und nach der deutschen Einheit fällt es zum ersten Mal einer Politikerin aus den neuen Bundesländern zu. Seit ihrem Einzug ins Kanzleramt ist viel darüber spekuliert worden, ob mit der Frau aus dem Osten auch ein neuer Politikstil verbunden sein wird. Ihre sieben männlichen Vorgänger haben zumindest sehr unterschiedliche Führungsstile gepflegt.
Zwei CDU-Kanzler, Helmut Kohl und Konrad Adenauer, regierten mit 16 und 14 Jahren am längsten - sie gewannen viermal die Bundestagswahlen -, zwei andere CDU-Kanzler am kürzesten. Ludwig Erhard war gut drei Jahre Kanzler, Kurt-Georg Kiesinger knapp drei. Die Amtszeit der SPD-Kanzler liegt dazwischen: Helmut Schmidt amtierte mehr als acht Jahre, Gerhard Schröder sieben, Willy Brandt mehr als vier. Alle drei gewannen zwei Bundestagswahlen. Vier Kanzler kamen nach Bundestagswahlen ins Amt, vier während einer Legislaturperiode.
Wie lange Angela Merkel regieren wird, hängt von vielen Konstellationen ab - von der Dauer der Großen Koalition, von den künftigen Ergebnissen der eigenen Partei, von innerparteilichen Entwicklungen, von der Durchsetzungskraft der Kanzlerin. Niemand weiß, ob sie die durchschnittliche Amtsdauer von immerhin acht Jahren erreicht.
Wir haben in Deutschland eine freilich unterschiedlich stark ausgeprägte Kanzlerdemokratie: Der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik. Dieses Kanzlerprinzip überlagert das Ressortprinzip und das Kollegialprinzip. Die Stärke der Kanzlerdemokratie wird von vielerlei Faktoren beeinflusst: Vom Gewicht des Koalitionspartners, vom Einfluss des Bundesrates, ebenso von der Persönlichkeit des Kanzlers. Dazu gehört auch der Politikstil.
Konrad Adenauer (1949 - 1963), bei seinem Amtsantritt bereits 73 Jahre alt, prägte die politischen Anfänge der Bundesrepublik Deutschland. So setzte der große Stratege die Westbindung durch. Aufgrund seiner herausragenden Stellung machte bald das Wort von der Kanzlerdemokratie die Runde. Freilich ist der Hinweis auf Adenauers "einsame Entscheidungen" so nicht treffend. Denn auch in seiner Ära gab es zahlreiche Konsultationsprozesse. Ihm war 1949 nicht an einer Großen Koalition gelegen. Auf diese Weise spielte sich der demokratische Gedanke von Regierung und Opposition schnell ein. In den letzten Jahren der Kanzlerzeit Adenauers litt seine Autorität.
Unter Ludwig Erhard (1963 - 1966), dem langjährigen CDU-Wirtschaftsminister, kriselte die Kanzlerdemokratie. Erhard war kein "Parteimann" - fast ohne "Hausmacht". Ihm fehlte als Kanzler die für diese Führungsposition nötige Härte. Eben das hatte Adenauer vorhergesagt. Der "Vater der sozialen Marktwirtschaft" musste hilflos zusehen, wie die Koalition der CDU mit der FDP auseinanderbrach.
Als Übergangskanzler muss auch sein Nachfolger Kurt Georg Kiesinger (1966 - 1969) gelten. Der frühere Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg präsidierte der ersten Großen Koalition und fasste beständig Kompromisse. Sein damaliger stellvertretender Regierungssprecher Conrad Ahlers hat ihn daher als "wandelnden Vermittlungsausschuss" apostrophiert. Heute herrscht die Meinung vor, dass die erste Große Koalition auf Bundesebene besser war als ihr Ruf. Das lag nicht zuletzt an Kiesingers ausgleichendem Temperament, das die Wogen zu glätten verstand.
Die Kanzlerschaft von Willy Brandt (1969 - 1974), der vor seiner Zeit als sozialdemokratischer Außenminister in der Großen Koalition als Regierender Bürgermeister von Berlin fungierte, war kein Musterbeispiel für eine Kanzlerdemokratie reinsten Wassers, obwohl die Zusammenarbeit mit dem kleinen Koalitionspartner FDP weitgehend reibungslos verlief. Seine Liberalität oder Führungsschwäche, je nach Perspektive, stand im Gegensatz zu der durchgreifenden und dominanten Rolle eines Konrad Adenauer. Brandt ließ Streitigkeiten zwischen den Ministern nicht nur aufkommen, sondern auch eskalieren - etwa zwischen Axel Möller und Karl Schiller und ebenso zwischen diesem und Helmut Schmidt. Was die Position des Kanzlers Brandt stärken sollte, schwächte sie letztlich: Die Umgestaltung des Kanzleramts zu einer Art Oberabteilung für Planung. Kanzleramtsminister Horst Ehmke ging so resolut vor, dass er wider Willen Ressortegoismus entfachte. Brandt führte das Experiment mit dem "Planer" Ehmke in seinem zweiten Kabinett nicht mehr fort. Da er zugleich SPD-Vorsitzender war, hatte er die Partei überwiegend hinter sich, auch wenn diese teilweise nach links abdriftete.
Brandts Arbeitsstil zeichnete sich weniger durch intensives Aktenstudium aus. Er pflegte vielmehr enge Kontakte zu seinem "Küchenkabinett". Der Gesinnungsethiker in ihm dominierte über den Verantwortungsethiker.
Helmut Schmidt (1974 - 1982), zuvor Bundesminister der Finanzen, wurde im Zuge der Guillaume-Affäre Brandts Nachfolger. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger ließ er im Kabinett nicht viel diskutieren und zeichnete sich durch ein hohes Maß an Entschlusskraft aus. Schmidts Krisenmanagement erwies sich insgesamt als erfolgreich. Gemäß neuesten Umfragen gilt er für die Deutschen als der bedeutendste Staatsmann nach 1945.
Helmut Schmidt, ein "Aktenfresser", ist der einzige Bundeskanzler gewesen, der zu keiner Zeit den Parteivorsitz innehatte. Später hat er das bedauert, weil er auf diese Weise manche "Genossen" nicht ausreichend bändigen konnte. Allerdings wurde er dadurch unabhängiger von den Stimmungen in der Partei. So konnte er weit über die Grenzen der SPD Anerkennung finden.
Der Fraktionsvorsitzende der Union, Helmut Kohl, wurde 1982 mittels eines Konstruktiven Misstrauensvotums dank der Hilfe der FDP, die sich von der SPD losgesagt hatte, zum Bundeskanzler gewählt. Kohl war lange ein unterschätzter Kanzler. Viele trauten ihm, dem "Generalisten", eine solche Karriere nicht zu. Der "Koalitionskanzler" arbeitete mit den Liberalen, die ihre Minister allein bestimmen konnten, 16 Jahre loyal zusammen, besser als mit der CSU unter Franz Josef Strauß, der nach seiner gescheiterten Kanzlerkandidatur von 1980 keine Ambitionen mehr auf dieses Amt anmelden konnte. So war der Weg für Kohl frei, zumal er als langjähriger CDU-Parteivorsitzender ein entsprechendes Netzwerk geknüpft hatte.
Kohl regierte informell - zum Beispiel über "Männerfreundschaften" -, weniger institutionell. Seine Fähigkeit des Integrierens verschiedenartiger, ja gegensätzlicher Positionen stärkte ihn. Kritiker warfen ihm deswegen vor, Probleme "auszusitzen". Kohl, einem Machtpolitiker ersten Ranges, waren weder Finessen noch Empfindlichkeiten fremd. Aber er hatte Ziele, an denen er in seinem gesamten politischen Leben unabhängig von Zeitgeisttendenzen festhielt. Neben der deutschen Einheit war dies die europäische Einheit. Er, der "Enkel Adenauers", sah keinen Widerspruch zwischen der Westintegration und der Verwirklichung der deutschen Einheit. Kohls Endphase im Amt zeichnete sich allerdings überwiegend durch Stagnation aus.
Sein Nachfolger Gerhard Schröder (1998 - 2005) amtierte zuvor als niedersächsischer Ministerpräsident. Bei der Bundestagswahl 1998 schlug der Schröder-Bonus gegenüber dem Kohl-Malus deutlich zu Buche. Die Folge war - auch dank eines professionell geführten Wahlkampfes - die erste rot-grüne Bundesregierung. Zuvor hatten sich die sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Vogel (1983), Johannes Rau (1987), Oskar Lafontaine (1990) und Rudolf Scharping (1994) an Helmut Kohl die Zähne ausgebissen. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Schröder, der für "Innovation" stand, und dem Finanzminister Lafontaine, dem "soziale Gerechtigkeit" ein Herzensanliegen war, brachen bald nach der Regierungsübernahme auf. Im März 1999 gab Lafontaine entnervt auf, offenbar deshalb, weil er seine Chancen als zu gering ansah, die Politik Schröders hinreichend beeinflussen zu können. Dieser übernahm auch das Amt des Parteivorsitzenden, das er im Frühjahr 2004 an Franz Müntefering abgab.
Kanzler Schröder, der Stimmungen in der Bevölkerung aufgriff, bevorzugte einen "präsidialen" Stil. Machtbewusste Züge kommen beispielsweise darin zum Ausdruck, dass es ihm gelungen ist, Gesetzesvorhaben mithilfe finanzieller Versprechungen an die Bundesländer durch den Bundesrat zu bringen, obwohl ihm hier die Mehrheit gefehlt hatte. Lange konnte der "Medienkanzler" auf keinem zentralen Gebiet der Politik wegweisend Neues vorweisen. Mitunter galt sein Führungsstil als "sprunghaft". Anhänger Schröders sahen darin "Pragmatismus" und "Flexibilität", Kritiker "Entscheidungsschwäche", nicht zuletzt auch in der Vielzahl der von ihm einberufenen Kommissionen. Mit der Agenda 2010 hat Schröder jedoch Akzente gesetzt und seiner Überzeugung, den Sozialstaat umzubauen, trotz aller Kritik festgehalten. Der Versuch, Neuwahlen in nahezu aussichtsloser Lage herbeizuführen, zeigte den "Spieler" Schröder, der ein hohes Risiko einging.
Die Nachwirkungen eines Kanzlers hängen maßgeblich von den Herausforderungen der Zeit ab. So wird Konrad Adenauer als Kanzler der Westbindung Deutschlands eingehen, Willy Brandt als Repräsentant der Aussöhnung mit dem Osten, Helmut Kohl als "Kanzler der deutschen Einheit". Helmut Schmidts Zeit ist nicht mit solchen herausragenden Ereignissen verbunden. Dessen Rolle wird in den Annalen der Geschichte im Vergleich zu den Genannten wohl eher verblassen, obwohl Schmidts Arbeit selbst seine Gegner honorieren.
Die Herausforderungen, vor denen Angela Merkel steht, sind immens. Das ist eine Chance und Gefahr zugleich. Geboren am 17. Juli 1954, war sie bei ihrem Amtsantritt so jung wie kein Kanzler zuvor. Die promovierte Diplomphysikerin trat während der friedlichen Revolution in der DDR dem Demokratischen Aufbruch bei. 1991 übernahm sie das Amt der Frauen- und Jugendministerin, 1994 das der Umweltministerin. 1998 zur Generalsekretärin gewählt, gelangte sie im Jahr 2000 an die Spitze der CDU. Dort gewann die zuweilen unterschätzte Politikerin, die betont kontrolliert agiert und reagiert, schnell Statur. Sie zeigt sich den vielfältigen Rankünen des politischen Geschäfts gewachsen.
Als Kanzlerin der Großen Koalition kann sie schwerlich "einsame Entschlüsse" treffen. Angela Merkels pragmatischer, sachbezogener und nüchterner Arbeitsstil ist auf Kooperation ausgerichtet, nicht auf Konflikt. In einer Großen Koalition muss das kein Nachteil sein - im Gegenteil.