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Datum: 25.09.2001
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Pressemeldung des Deutschen Bundestages - 25.09.2001

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse würdigt Arbeit seines Amtsvorgängers Dr. Rainer Barzel

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat heute anlässlich der Vorstellung des Buches "Ein gewagtes Leben – Erinnerungen" von Bundestagspräsident a. D. Dr. Rainer Barzel in Berlin nachfolgende Rede gehalten:

"Demokratie ist die schönste, aber auch die schwierigste Sache des Lebens" – so lautet eine Kernaussage der politischen Erinnerungen von Rainer Barzel. Und gerade sein Lebensweg belegt: Arbeiten für die Demokratie ist schwierig, bleibt stets ein Wagnis – eines, das immer aufs Neue eingegangen werden muss, aber es ist eben auch ein Wagnis, das einen Menschen ein Leben lang fesseln kann!

Die Memoiren meines Amtsvorgängers tragen den beziehungsreichen Titel: "Ein gewagtes Leben". Nun ist bekanntlich mitunter schon das Schreiben von politischen Lebenserinnerungen ein Wagnis – aber nicht für Rainer Barzel! Schließlich führt hier ein gelernter Journalist die Feder, ein Mann, der weiß, was man schreibt und wie man schreibt: lebendig und verständlich, sachlich und informativ, mit der nötigen Distanz auch zur eigenen Person, humorvoll, spannend – und bewegend.

Das gilt bereits für die Kindheitserinnerungen an Ostpreußen und an die Jugendzeit in Berlin. Dort erlebte Rainer Barzel als Kind einer katholischen Familie den aufkommenden Nationalsozialismus, die Unterdrückung der katholischen Jugendarbeit, die Ausgrenzung der Juden. Als Soldat erfährt Rainer Barzel die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Die schwere Nachkriegszeit führte ihn nach Köln. Man liest schmunzelnd, dass der gebürtige Ostpreuße - um nicht als Zugereister aufzufallen – sich intensiv um das Erlernen des kölschen Dialekts bemüht hat. An das Jurastudium und die anschließende Promotion wird ebenso erinnert wie an einen der ersten Klienten: Kein geringerer als Sepp Herberger bat den Studenten im 2. Semester, seinen Nationalspielern den juristischen Unterschied zwischen sauberen Tacklings und schwerer Körperverletzung zu erklären. (Ob Deutschland auch deshalb 1954 Weltmeister geworden ist?) Ebenso werden die Jahre als Journalist in Erinnerung gerufen, die den Weg in die Politik vorbereiteten.

Die weiteren Stationen der politischen Vita von Dr. Barzel sind bekannt: vom Schüler Carl Spieckers und Karl Arnolds in Nordrhein–Westfalen zum Paderborner Bundestagsabgeordneten, über den – damals noch so bezeichneten – "Minister für Gesamtdeutsche Fragen", den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, den Parteivorsitzenden der CDU bis zum Kanzlerkandidaten seiner Partei, dann der Rücktritt und zeitweise Rückzug aus der Politik, die Rückkehr in wichtige parlamentarische und europapolitische Funktionen, dann wieder Minister für – so hieß es nun – "Innerdeutsche Beziehungen" und schließlich die Wahl zum Präsidenten des Deutschen Bundestages.

Die "Erinnerungen" zeichnen zugleich ein hochinteressantes Bild deutscher Politik der vergangenen Jahrzehnte. Dabei werden viele überraschende Facetten deutlich. Etwa der Respekt und die kollegiale Wärme, die ihn z.B. mit Helmut Schmidt verband und verbindet – eine Wertschätzung, die so weit ging, dass ihn Helmut Schmidt einmal humorvoll zum Wechsel in die SPD aufforderte (ich zitiere): "Gute Leute werden bei uns immer gebraucht." Beachtenswert ebenso die Anerkennung, die Rainer Barzel in besonders schweren Stunden seiner politischen Laufbahn von Heinrich Böll erfahren hat. Aber auch Bedrückendes und Erschreckendes wird in diesem Rückblick auf ein "gewagtes Leben" deutlich, wie z.B. die langjährigen Stasi-Diffamierungskampagnen gegen Dr. Barzel. Eine im typischen Stasi-Jargon so bezeichnete "Aktion Gürtellinie" sagte unfreiwillig, wo das Niveau dieser Aktionen angesiedelt war. Und ich bewundere die vornehme und gelassene Distanz, mit der Rainer Barzel die Vorgänge um das gescheiterte konstruktive Misstrauensvotum 1972 beschreibt!

Das Beispiel Rainer Barzel zeigt, wie viel an persönlichen Verletzungen jeder riskiert, der – zumal in verantwortlichen Positionen - im politischen Geschehen steht. Das Politikerleben kann in der Tat "Ein gewagtes Leben" sein – besonders dann, wenn man nicht bereit ist, eigene Standpunkte und Überzeugungen der Parteizugehörigkeit, gar der Parteiräson zu opfern. Rainer Barzel – das belegen diese Memoiren – ist als homo politicus immer ein eigenständiger Denker geblieben, ein Mann, der als Christ zu seiner Verantwortung und zu seinen Überzeugungen steht. Seinen parteiinternen Kritikern hielt er entgegen: "Sie können alle meine Posten haben - aber nicht mein Gewissen". Von der christlichen Soziallehre geprägt, hat er die soziale Verantwortung der Marktwirtschaft stets entschieden verteidigt. Nicht zufällig ist seine Forderung aus den siebziger Jahren im Zeitalter der Globalisierung durchaus aktuell: "Die Partnerschaft darf nicht da enden, wo der Gewinn beginnt."

Immer mehr entwickelt sich für den Leser dieses Buches das Bild eines Mannes, der seiner Partei zu selbständig, zu unangepasst war – vor allem in der Deutschlandpolitik. Ihm ging es darum, die Ostpolitik Willy Brandts nicht an Blockadedenken und ideologischen Scheuklappen scheitern zu lassen. Die Kapitel um die Ostverträge verdeutlichen, wie sehr er sich in der Rolle des Oppositionsführers als Vertreter des ganzen deutschen Volkes gefühlt hat. In dieser Haltung ist er bis heute Vorbild für alle Abgeordneten. Im Sinne der Menschen im Osten Deutschlands, deren Lebenssituation ihm in seiner gesamten Laufbahn stets besonders am Herzen lag, hat Dr. Barzel die Brandtsche Ostpolitik aus der Opposition heraus unterstützt und – das muss besonders gewürdigt werden - wichtige Verbesserungen durchgesetzt. Helmut Schmidt hielt im Rückblick fest: "Rainer Barzel hat seine deutschlandpolitischen Überzeugungen höher gestellt als persönliche Interessen."

Viele in Ihrer Partei, sehr geehrter Herr Dr. Barzel, haben Ihre Haltung damals nicht verstanden - und Sie für die Treue zu Ihren Überzeugungen einen hohen persönlichen Preis zahlen lassen. Aber viele Menschen im Osten haben Ihr Engagement zu schätzen gewusst und es bis heute nicht vergessen. Und – darin können wir ein Jahrzehnt nach der deutschen Einheit wohl einig sein – die Geschichte hat Willy Brandt und Rainer Barzel auf eine glückliche Weise Recht gegeben.

Als einen Nachfolger im Amt haben mich natürlich die Erfahrungen von Rainer Barzel als Präsident des Deutschen Bundestages besonders interessiert. Die Memoiren erinnern an den Einzug der Grünen ins Parlament und an ihre durchaus schwierige Gewöhnung an die parlamentarischen Regeln. Daran hatte der damalige Präsident großen Anteil – mit Strenge, aber auch mit Augenmaß und vor allem mit überparteilicher Fairness, die gerade die Grünen stets anerkannt haben. Natürlich gehörten bei Rainer Barzel auch Ironie und Humor zu den geistigen Waffen des Präsidenten – sowohl innerhalb wie außerhalb des Plenums. Als die Grünen während der heißumstrittenen Nachrüstungsdiskussion bei einer Sitzung einmal provokativ stehen blieben, legte Dr. Barzel dies schlagfertig als Reverenz für den nachfolgenden Redner, den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl aus. Und als er selbst bei der Eröffnung der Kieler Woche von Demonstranten mit einem Trillerpfeifenkonzert begrüßt wurde, dankte der ehemalige Marineflieger den Störenfrieden herzlich für die militärische Ehrenbezeugung des "Seite Pfeifens" – worauf es schnell still wurde.

Als Präsident des Deutschen Bundestages hat Dr. Barzel – weit über den Umgang mit der Partei der Grünen hinaus – stilbildend gewirkt – in unser Parlament hinein, aber auch in unsere Gesellschaft insgesamt. Er war und ist ein überzeugter Parlamentarier. In seinen parlamentarischen Reminiszenzen betont der glänzende Rhetor Rainer Barzel die oft unterschätzte Bedeutung der Parlamentsrede. Und er erinnert ebenso an die Daueraufgabe der Parlamentsreform, zu der seine Initiativen als Präsident bis heute gültige, bedeutsame Innovationen beigetragen haben. Parlamentarische Demokratie bedeutet für Rainer Barzel vor allem fairen Wettstreit der politischen Auffassungen in der Zivilgesellschaft:

"Demokratie ist Wettbewerb, auch der Meinungen und Personen. Keiner ist im Besitz der alleinigen Wahrheit".

Das ist das Credo eines bedeutenden Parlamentariers und Politikers, der über Jahrzehnte in verantwortlichen Positionen wesentliche Entscheidungen der deutschen Politik mitgestaltet hat. Für dieses politische Lebenswerk ist ihm zu danken. Rainer Barzels Erinnerungen "Ein gewagtes Leben" sind zugleich ein politisches Dokument deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert. Ich wünsche dem Buch viele Leserinnen und Leser."


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Quelle: http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2001/pz_0109253
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