Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 12.01.2004
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Gert-Joachim Glaeßner

Schneisen ins Dickicht gesellschaftlicher Verwerfungen

Für die Lösung von Zukunftsproblemen sollte sich die Politik stärker den Sozialwissenschaften öffnen

"The sick man of Europe" sei die Bundesrepublik: So hört man es allenthalben bei Besuchen im Ausland. Häufig schwingt bei solchen Gesprächen eine gewisse Schadenfreude mit. Je nach politischem Standort oder weltanschaulichen Positionen werden Ratschläge erteilt, die stets darauf hinauslaufen, das seit 1949 gewachsene und nach der Wiedervereinigung auf ganz Deutschland übertragene politische, wirtschaftliche und soziale System einer grundlegenden Revision zu unterwerfen.

Das hiesige Konsensmodell sei überholt, lautet eine verbreitete Kritik. Die wissenschaftlich-technische und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit werde durch zu viele Regeln und Vorschriften geknebelt. Das politische System sei durch zu viele Institutionen und Akteure handlungsunfähig geworden. Es gebe zu viele Vetospieler, die, wenn denn schon der Wille zu Neuerungen da sei, Entscheidungen blockieren könnten. Und schließlich, so der generelle Vorwurf, sei das politische Klima in der Bundesrepublik durch ein Status-quo-Denken und durch die mangelnde Bereitschaft zu Veränderungen gekennzeichnet.

Solche Thesen finden sich in großer Breite und Detailliertheit auf internationaler Ebene, in der wirtschafts-, politik- und sozialwissenschaftlichen Literatur wie in der Publizistik. An all diesen Argumenten istdurchaus etwas dran, aber zusammengefügt ergeben sie ein Zerrbild.

Deutschland rangiert im Mittelfeld

Wissenschaftliche Vergleichsstudien in den OECD-Staaten kommen zu einem kaum zu widerlegenden Ergebnis: Die Bundesrepublik, eine der ehemals leistungsfähigsten Volkswirtschaften und eine der dynamischsten westlichen Gesellschaften, rangiert inzwischen allenfalls im Mittelfeld - bei den ökonomischen Wachstumsraten, bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, bei der Bildung oder bei den Aufwendungen für die eigene Verteidigung.

Diese Bestandsaufnahme legt es nahe, massive Strukturdefizite der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung zu vermuten. Und es ist im Prinzip nicht abwegig, auf der Suche nach Abhilfe andere Länder, bei denen dies oder jenes besser funktioniert, unter die Lupe zu nehmen. Genau dies geschieht freilich nicht erst heute und führt eher zu mehr als zu weniger Verwirrung - werden doch die ausländischen Vorbilder in aller Regel nicht daraufhin untersucht, ob sie in einem gänzlich anderen politischen, ökonomischen oder sozialen Kontext überhaupt funktionieren können.

Wer, wie dies viele Wirtschaftswissenschaftler taten, in den 70er- und 80er-Jahren das "Thatcher-Modell" einer weitgehenden Privatisierung staatlicher Aufgaben etwa bei der Eisenbahn, der Wasser- und Stromversorgung oder der Hochschulfinanzierung als Allheilmittel anpries, negierte nicht nur die Frage der Übertragbarkeit auf das kontinentaleuropäische Modell sozialstaatlicher Demokratie, sondern verlor auch die Konsequenzen dieser Politik aus den Augen: nämlich eine als Folge der Privatisierung zusehends verrottende Infrastruktur sowie eine Ökonomisierung und Monetarisierung der höheren Bildung, um nur diese zwei Beispiele zu nennen.

Nach der Veröffentlichung der Pisa-Studie pilgerten deutsche Delegationen nach Finnland, um dort zu lernen, wie man ein Bildungssystem leistungsfähiger machen kann. Politiker und Wissenschaftler sahen sich dabei mit einer zentralen Frage konfrontiert: Wurzelt der dortige Erfolg nicht nur in besseren pädagogischen Konzepten, sondern auch in einer komfortablen staatlichen Finanzierung, die mit einer exorbitanten Staatsquote erkauft wird, in der geringen Größe des Landes und in dessen ungewöhnlicher kultureller und ethnischer Homogenität? Sind einem Export des finnischen Modells deshalb vielleicht Grenzen gesetzt?

In der DDR gab es eine oft zitierte Losung: "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen." Ein solches oktroyiertes Vorbild existiert in der modernen internationalen Welt und im zusammenwachsenden Europa glücklicherweise nicht mehr. Aber auch das "Modell-Shopping" dürfte kaum weiterhelfen - nach dem Muster, man nehme ein wenig wirtschaftlichen Thatcherismus (und sei es in der Blair'schen Variante), mixe ein bißchen holländisches Poldermodell in der Sozialpolitik dazu und übernehme zudem Versatzstücke kandinavischer Bildungspolitik. Nein, ohne prinzipiell neue Weichenstellungen, bei denen auch die Wissenschaft verstärkt gefordert ist, wird es nicht gehen. Vieles ist ja auch bereits auf dem Weg.

Drückeberger

Es stimmt: Die Bundesrepublik hat sich über ein Jahrzehnt um notwendige Erneuerungen herumgedrückt. Dafür gibt es manche Gründe. Erwähnt seien beispielsweise die Schwierigkeiten politischer Mehrheitsbildung, die Bremsspuren des föderalen Systems, die Versteinerung der Parteiendemokratie oder Fehlsteuerungen wie jene im Zuge der deutschen Einheit. Gerade der historische Prozess der Wiedervereinigung drängte viele Reformüberlegungen für einige Jahre in den Hintergrund.

Die Entscheidung, die Vereinigung und den Umbau Ostdeutschlands nicht mit einer Debatte über die Reform der politischen Ordnung zu befrachten, war pragmatisch motiviert, hatte aber die unangenehme Konsequenz, dass notwendige Veränderungen verschoben wurden - die nun, mehr als ein Jahrzehnt später, unter wesentlich schlechteren ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen erneut auf der Tagesordnung stehen. Die Debatte über eine grundlegende Reform des Föderalismus, die sich in der Gründung einer gemeinsamen Kommission von Bund und Ländern niedergeschlagen hat, ist ein lebendiges Beispiel für diesen Zusammenhang.

Zu den Ursachen der heutigen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen gehört aber auch eine unterentwickelte Kultur wissenschaftlicher Politikberatung. Viele der aktuellen Probleme wurden in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften seit langem diskutiert, konnten aber nicht oder nur unzulänglich in die Politik vermittelt werden.

Die Bundesrepublik war in den 70er- und 80er-Jahren einer sozialen und kulturellen Wandlung unterworfen, die weitreichende Auswirkungen auf die Politik hatte. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften haben diesen dynamischen und historisch einzigartigen Beschleunigungsprozess unter verschiedenen Gesichtspunkten beschrieben, analysiert und versucht, Entwicklungsperspektiven für die Zukunft aufzuzeigen. Die Wissenschaft hat dabei Erhebliches geleistet, wobei den aktuellen wie den künftig zu erwartenden Veränderungen und Umbrüchen natürlich auch neue Fragestellungen für die Forschung entspringen.

Wie lassen sich die wissenschaftlichen Befunde zusammenfassen? Die Entwicklung in den OECD-Staaten ist durch einen Wechsel von ökonomischer Dynamik und - trotz aller Instrumente moderner Wirtschafts- und Finanzpolitik - wiederkehrende Krisen charakterisiert. All diese Länder durchleben schnell voranschreitende sozialstrukturelle Differenzierungsprozesse, die mit einer Mobilität in bislang unbekanntem Ausmaß verbunden sind.

Eine wachsende Fragmentierung, die Auszehrung tradierter politisch-kultureller Milieus und die Herausbildung pluraler Lebensstile kennzeichnen diese Gesellschaften. Dies führt unter anderem dazu, dass sich die bisherigen relativ festen und dauerhaften Bindungen der Menschen an bestimmte gesellschaftliche und politische Gemeinschaften, an soziale und politische Organisationen und nicht zuletzt an Parteien lockern und tendenziell auflösen.

Herkömmliche politische, ökonomische, soziale und kulturelle Konfliktmechanismen werden von einer Vielzahl von Interessengegensätzen abgelöst, die sozialstrukturell nur noch schwer zuzuordnen sind. Das Ergebnis ist eine Schwächung derjenigen Gemeinschaften, Organisationen und Institutionen, die dafür sorgen, dass eine Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen und teils gegenläufigen Interessen "zusammengehalten" wird.

Frage der Legitimation

Die "etablierten" politischen Instanzen geraten unter den Verdacht, ihre Repräsentationsfunktion nicht mehr erfüllen zu wollen oder zu können. Parlamente, Regierungen und Parteien sehen sich mit der Frage nach ihrer Legitimation als privilegierte politische Akteure konfrontiert. Die beiden großen Volksparteien, die Mitte der 70er-Jahre über 90 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigten, vermögen mittlerweile nur noch etwa 75 Prozent der Bürger an sich zu binden. Bei Landtagswahlen kann es sogar geschehen, dass eine der großen Parteien deutlich unter die 30-Prozent-Marke gedrückt wird. Bei kommunalen Urnengängen und bei Direktwahlen von Bürgermeistern oder Landräten sind die Wähler immer häufiger für Überraschungen gut.

Die klassischen Zuordnungsmuster für politische Gruppierungen und Parteien nach dem Rechts-Links-Schema erweisen sich zunehmend als problematisch, da sich nicht wenige der Themen einer "neuen Politik" nicht über diesen Leisten schlagen lassen. Ein Beispiel: Eine Law-and-Order-Partei wie die CSU, die man wegen eben dieser Haltung als "rechte" politische Organisation zu charakterisieren gewohnt war, überholt mittlerweile nicht nur die CDU, sondern auch die SPD "links", wenn es um die künftige Gesundheits- und Sozialpolitik geht.

Die "kleinen Leute", von denen Horst Seehofer spricht, sind eben nicht mehr die klassischen, SPD wählenden Facharbeiter und kleinen Angestellten - das sind vielmehr Menschen aus verschiedenen sozialen Milieus in materiell angespannten Lebenssituationen, die sich von Arbeitslosigkeit oder von der Entwertung ihrer Kenntnisse und Qualifikationen bedroht fühlen und für die daher Ruhe, Ordnung und (soziale) Sicherheit einen hohen Stellenwert haben.

Die Auflösungstendenzen in tradierten Milieus sind eine der Ursachen dafür, dass neue soziale Bewegungen und ein neuer Typ von Parteien das politische Geschehen und die Entwicklung des Institutionensystems beeinflussen. Hinzu kommen neuartige Gruppen, die als "advocacy groups" bestimmte Interessen zu vertreten vorgeben: Diese Initiativen kümmern sich um Menschen wie etwa Behinderte oder Kinder, die keine eigene Organisationsmacht haben, und um Probleme wie Umweltschutz oder die Folgen der Globalisierung, die sich nicht auf einen bestimmten Personenkreis reduzieren lassen.

Hoffnungszeichen?

Von vielen werden Assoziationen wie "Robin Hood" oder "attac" als hoffnungsvolle Erscheinungen einer neuen Form demokratischer Partizipation begrüßt. Mit guten Argumenten sehen hingegen andere in solchen Vereinigungen Gruppen mit einem Anspruch, der sich nur durch die Selbstzuweisung einer übergreifenden Aufgabe und nicht demokratisch legitimiert.

Auch bei diesem Thema erschließt sich den Sozialwissenschaften ein neues Aufgabenfeld. Forschungen über Netzwerke in der Politik sollten das Bewusstsein dafür schärfen, dass neben den "alten" wirtschaftlichen, politischen und Verbandseliten, die das bisherige stark korporativ geprägte System Deutschlands beherrschten, neue Eliten entstehen: Diese Gruppen treten mit einem hohen normativen und moralischen Anspruch auf, gewinnen erheblichen Einfluss auf die Politik, sind aber im Blick auf demokratische Legitimation "unterausgestattet" - was sie nicht davon abhält, im Namen einer "wahrhaftigeren" und unmittelbareren Demokratie das Wort zu ergreifen.

Professor Gert-Joachim Gläßner lehrt Politikwissenschaft an der Humboldt-Berlin.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.