"PISA sei Dank", seufzte unlängst im privaten Kreis eine junge Mutter, die bis zur Veröffentlichung der Bildungsstudie immer wieder rechtfertigen musste, dass sie ihren Felix mit einem halben Jahr in eine Berliner Kindertageseinrichtung gebracht hatte. Seit PISA und dem Bekanntwerden der (erfolgreicheren) Bildungskonzepte der europäischen Nachbarländer gestehen die Freunde ihr nun zu, durchaus auch im Interesse ihres Sohnes gehandelt zu haben - und nicht nur in ihrem eigenen, wie der Vorwurf häufig lautete.
Dass die ersten sechs Lebensjahre in Deutschland nicht ausreichend für die Förderung genutzt werden, beklagen Bildungsforscher und
-forscherinnen seit vielen Jahren. Dabei ist die Wissbegierde der Vorschulkinder enorm, ebenso ihre Lernfähigkeit. Leo zum Beispiel, viereinhalb Jahre, Kindergartenkind aus Bornheim, erarbeitet sich begierig alles, was es über Dinosaurier zu wissen gibt. Dabei schreckt er selbst vor wissenschaftlichen Büchern nicht zurück, die seine Eltern am Wochenende geduldig mit ihm durchgehen. Die lateinischen Bezeichnungen für jedes dieser Urviecher inklusive ihrer Lebensgewohnheiten beherrscht er aus dem Effeff und jongliert wie ein Großer mit den dazugehörigen Millionen Jahren. "Lesen ist cool", verblüffte er unlängst seine Kindergärtnerin. Und - Leo ist keine Ausnahme.
Das im Ländervergleich magere Wissen der deutschen 15-Jährigen führte dazu, dass die deutsche Öffentlichkeit auch etwas über die der Schule vorgelagerten Bildungseinrichtungen erfuhr. Und da stellte sich heraus, dass kleine Kinder nach Meinung der Franzosen, Dänen oder Schweden keineswegs am besten bei Mama zu Hause aufgehoben sind, Einzelkinder schon gar nicht. Außerfamiliäre Betreuung gilt in Skandinavien als Lern- und Entwicklungschance schon für Kleinstkinder. In Frankreich bietet der Staat ebenfalls für die Zeit nach der Geburt ein breites Angebot an frühkindlichen Betreuungs- und Lernangeboten. Dort wie in Skandinavien liegt die Frauenerwerbstätigkeit bei rund 70 Prozent und die Geburtenrate über unseren mageren 1,29 Prozent. Die Hausfrauenfamilie gilt in diesen Ländern als Exot und die Kinder entwickeln sich, anders als oftmals behauptet, nicht schlechter als bei uns.
Qualifizierte Angebote entscheidend
Das ausgewiesene Expertengremium um den einstigen Direktor des deutschen Jugendinstitutes in München, Ingo Richter, hat bereits im elften Kinder- und Jugendbericht (2002) ein "Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung" gefordert. Öffentliche Verantwortung meint dabei nicht Verstaatlichung von Erziehung und Bildung, sondern im besten Sinne Ergänzung und Stärkung dessen, was Eltern tagein, tagaus leisten. Für ein gelingendes Aufwachsen, so die Experten, brauche man auch in Deutschland "qualifizierte Angebote für die Erziehung, Bildung und Betreuung aller Kinder in Kindertageseinrichtungen sowie verlässliche Schulzeiten".
Soweit die Wissenschaft. Wohin aber nun in Deutschland mit den Kleinsten? Nach Hause zu Mama oder - seltener - Papa? Zu Oma und Opa, in eine Tageseinrichtung, zu Tagesmutter oder Kinderfrau? Wer sich unter jungen Familien umschaut, entdeckt eine Vielzahl von Lösungen: Die anfangs erwähnte junge Mutter aus Berlin ist mit ihrer Kindertagesstätte mehr als zufrieden. Selbst die Kleinsten lernen mit einer eigens angestellten Engländerin englische Lieder. Mittwoch und Freitag kommt ein Musikpädagoge in die Gruppe. Anders hat sich Karin aus Koblenz entschieden: "Meine Schwiegereltern wohnen nebenan und nehmen Meike während meiner Arbeitszeit, bis sie einen Kindergartenplatz bekommt." Claudia wohnt in Moers am Niederrhein und hat sich nach der Geburt eine Tagesmutter gesucht: "Sie hat selber noch zwei Kinder und so hat unsere Kim Kontakt zu anderen Kindern." Ganz anders hat Sabine aus München die Betreuungsfrage gelöst: "Meine Freundin und ich tauschen unsere Kinder. Morgens sind sie bei mir und nachmittags bei ihr. So kann jede einen halben Tag arbeiten."
Familienministerin Renate Schmidt konstatierte zu Beginn ihrer Amtszeit: "Was die Kinderbetreuung angeht, ist Deutschland innerhalb der EU ein Entwicklungsland." Im Jahr 2002 hatten im Durchschnitt nur etwa zehn Prozent der unter Dreijährigen einen Krippenplatz (Statistisches Landesamt Baden-Württemberg). Erwartungsgemäß ist dabei der Unterschied zwischen den einzelnen Bundesländern - vornehmlich zwischen Ost und West - sehr groß. So haben in Brandenburg 45 Prozent der unter Dreijährigen einen Betreuungsplatz, in Bayern sind es gerade einmal vier Prozent, ebenso in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Während in den westlichen Bundesländern aufgestockt werden soll, nahm die Zahl der Einrichtungen in Ostdeutschland zwischen 1994 und 1998 um 22 Prozent ab. Die Zahl der verfügbaren Plätze schrumpfte um 24 Prozent.
Unterschiede fallen auch auf, wenn man sich die Situation in Städten und im ländlichen Raum ansieht. Wer mit seinen Kindern in einer Großstadt lebt, hat bessere Chancen, einen der heiß begehrten Plätze zu ergattern, als der, der das Landleben vorzieht. Auf dem Land sind Eltern bis zum Kindergartenalter ihres Nachwuchses auf familiäre Kontakte angewiesen oder organisieren zusammen mit anderen eine auch rechtlich aufwändige private Einrichtung. In Frankfurt und Hamburg dagegen liegt die Versorgungsquote bei den Kleinsten bei 17 Prozent, in Berlin gar bei knapp 40 Prozent.
Doch auch in Städten kann es Eltern passieren, dass sie keinen geeigneten Platz finden und auf einer endlosen Warteliste landen. So ist es Martina aus Bonn gegangen: "Es war einfach kein Platz in einer Tageseinrichtung oder einer Elterninitiative zu bekommen. Wir haben über ein Jahr gesucht. Jetzt haben wir mit mehreren Eltern eine eigene Initiative gegründet, ein Haus gekauft und sind auf der Suche nach einer geeigneten Erzieherin. Diese ganze Aktion ist harte Arbeit, und es ist unglaublich, mit was für bürokratischen Hürden wir zu kämpfen haben."
Nun ist es nicht so, dass die deutsche Politik die auch wissenschaftlich gut untermauerten Gründe für eine frühe Sozialisation und Lernerfahrung in Einrichtungen ignoriert. Seit Juli liegt der Entwurf des Tagesbetreuungsausbaugesetzes auf dem Tisch. Darin heißt es zu Beginn unter anderem: "Ein Ausbau der Infrastruktur ist, das zeigen alle internationalen Vergleiche, ein erfolgreicher Weg, um die Entscheidung für die Erfüllung von Kinderwünschen zu erleichtern, um Familien und der Gesellschaft insgesamt bessere Entwicklungschancen zu geben sowie für mehr Geschlechtergerechtigkeit zu sorgen ... Die Förderung (Erziehung, Bildung und Betreuung) von Kindern soll gesichert und weiter entwickelt werden, um die Innovationsfähigkeit unserer Gesellschaft zu erhalten. Ziel ist es, das Angebot bis 2010 quantitativ und qualitativ an den westeuropäischen Standard heranzuführen."
Finanziert werden soll der stufenweise Ausbau der Kindertagesstätten und der Tagesbetreuung durch Einsparungen der Kommunen, die sich aus der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ergeben sollen. 1,5 Milliarden Euro würden dafür frei werden, rechnet sich das Familienministerium aus. Allerdings bestreiten die Kommunen, dass diese Summe reicht. Die Fachverbände bewerten den Entwurf als zu zaghaft, vermissen zum Beispiel eine Reform der Professionalisierung des Personals und kritisieren, dass auf einen Rechtsanspruch auf Tagesbetreuung verzichtet wurde.
Neu an der Diskussion um mehr Tageseinrichtungen ist ihre bildungspolitische Dimension. Diese ist es, die auch in konservativen Kreisen Gehör findet. Bisher steckte man dort den Ruf nach mehr öffentlicher Betreuung und Bildung in die Ecke der vermeintlichen Selbstverwirklichung der Eltern, insbesondere der Mutter. Weil diese erwerbstätig sein will, muss das Kind (und hier schwang ein unausgesprochenes "leider" mit) in eine Tageseinrichtung, so der Tenor. Vorschulische Einrichtungen als Raum für gezielt angeleitete Bildungserfahrungen zu sehen hat in Deutschland keine Tradition. Doch - PISA sei Dank - scheint sich da etwas zu bewegen.
Stephan Lüke ist freier Journalist in Bonn.