Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 33-34 / 09.08.2004
Zur Druckversion .
Gisela Notz

Impulse für eine Gesellschaft von morgen geben

Ein Wandel in der Familienpolitik ist dringend erforderlich

Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der so von Bildern, Idealen und emotionalen Bewertungen umstellt und verstellt ist, wie die Familie. Der "Wandel" oder die "Krise" der Familie wurde schon früher in der Geschichte beklagt. Wilhelm Heinrich Riehl beschrieb in seinem Band "Die Familie" bereits 1855 den Verfall der Familie. Damals meinte er das "ganze Haus" der vorindustriellen Gesellschaft, eine Familienform, zu der verwandte und nicht verwandte Personen zählten und deren Struktur eine Tätigkeitsbegrenzung von Frauen auf die rein hauswirtschaftlichen Arbeiten nicht vorsah.

Kinder, Frauen und Männer, Alte und das Gesinde beteiligten sich an der Erwerbsarbeit. Diese Familie war ebenso wenig wie die folgenden Familientypen eine "heile Familie". Sie funktionierte nur für eine kurze Zeitspanne, vornehmlich im großbäuerlichen und -bürgerlichen Bereich, und war bereits patriarchal organisiert. Was sich aus dem "Zerfall" entwickelt hat, ist das klassische Familienbild, die Zwei-Generationen-Familie mit dem leiblichen Vater, der dazugehörigen Mutter und ihren gemeinsamen Kindern. Art und Weise der gesellschaftlichen Produktion und der damit verbundenen Besitz- und Machtverhältnisse sowie Arbeits(ver)teilungen bestimmen nach wie vor die Struktur der Familie, die heute durch vielfältige andere Lebensformen ergänzt wird.

Bereits in den 70er-Jahren war es durch die Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften in Deutschland (Ost und West) zu einer Abkehr vom traditionellen bürgerlich-patriarchalen Familienbild gekommen. Heute wird "Familie" in vielfältigen personellen Zusammensetzungen gelebt. "Familie ist, wo Kinder sind", stand in den Koalitionsvereinbarungen der Bundesregierung von 1998 und 2002. Der Slogan wurde von vielen Organisationen begeistert aufgenommen. "Alles, wo Kinder drin sind", wurde zum Familienbild der Gewerkschaften. Von der Umsetzung der Definition in die Realität sind wir noch weit entfernt, auch wenn Homo-Paare ihre Partnerschaft jetzt eintragen lassen dürfen. Nach Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes stehen "Ehe und Familie" unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung". Das Ehegattensplitting, das Hausfrauen-Ehen mit höchstens geringem "Zuverdienst" begünstigt und damit alle anderen Zusammenlebensformen benachteiligt, wirkt nach wie vor. Heute jedoch wird "Familie" in vielfältigen personellen Zusammensetzungen gelebt.

Nicht nur Bevölkerungswissenschaftler beobachten die Ausdifferenzierung von Familie und den Geburtenrückgang in Ost- und Westdeutschland mit Sorge. "Das eigentliche demographische Problem", heißt es dennoch in einem Gutachten, das das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Auftrag gegeben hat, "ist das Ausmaß der Kinderlosigkeit." Etwa jede fünfte westdeutsche Frau des Jahrgangs 1955 blieb kinderlos; unter denen des Jahrgangs 1965 sogar fast jede Dritte. Nun häufen sich die Klagen, dass "das deutsche Volk" aussterben würde, durch "Rassenvermischung" aufgelöst oder "durch Angehörige fremder Völker" überschwemmt werden könnte oder gar, dass sich ganz Europa zum Altersheim entwickle.

Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und Politiker und Politikerinnen argumentieren mit dem "Generationenvertrag", der unserem Rentensystem zugrunde liege. Sie übersehen, dass höhere Geburtenraten alleine weder kurz- noch langfristig zur Lösung des Rentenproblems beitragen können. Kinder können nur dann in die Rentenversicherung einbezahlen, wenn sie im Jugendlichen- und Erwachsenenalter entsprechende Ausbildungen und Erwerbsmöglichkeiten vorfinden, die ihnen das ermöglichen. Ist das nicht der Fall, werden auch sie dem Sozialstaat, dem das Geld bereits jetzt auszugehen droht, zur "Last" fallen. Die Funktionalität der Generationsgemeinschaft erweist sich als abhängig von der herrschenden Anordnung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit. In der Bundesrepublik gibt es weit über vier Millionen registrierte und insgesamt etwa sieben Millionen Erwerbslose. Die ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit und von Einfluss an der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen trägt immer mehr zur Spaltung in Arme und Reiche, aber auch zur Spaltung zwischen den Generationen bei.

Familiensoziologen sehen die Ursache dafür, dass sich immer weniger Frauen für Kinder entscheiden, darin, dass Beziehungen in den letzten Jahrzehnten zwar nicht seltener geworden sind, aber instabiler. Gerade beruflich qualifizierte Frauen zögerten nicht lange, den Trennstrich unter eine Beziehung zu ziehen. Sie schließen daraus, dass sich der Staat auf Paarberatungsstellen konzentrieren müsste und allein finanzielle Anreize nicht mehr ausreichen. Die Frage, in welche Richtung die Paare beraten werden sollen, bleibt offen.

Kindererziehen ist eine verantwortungsvolle gesellschaftliche Aufgabe, der man sich stellen kann oder nicht; wie anderen gesellschaftlichen Aufgaben auch. Dennoch wird Kinderlosen undifferenziert Egoismus, Karrierestreben, "Trittbrettfahren" unterstellt. Frauen und Männer haben ein Recht darauf, selbst zu bestimmen, ob und wann sie Kinder haben wollen und unter welchen Bedingungen. Um dieses Recht hat die westdeutsche Frauenbewegung nachhaltig unter dem Motto "Kinder oder keine entscheiden wir alleine" gekämpft. Freilich sind vielfältige Rahmenbedingungen, detaillierte Informationen und verarbeitbares Wissen über verschiedene Lebensweisen notwendig, um das Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen zu können. Diese Rahmenbedingungen fehlen, weil die veränderten Vorstellungen, die viele Frauen an Zusammenlebensformen entwickeln, zu wenig Beachtung finden. Das traditionelle Familienmodell wusste eine männliche Arbeitsbiografie mit einer lebenslangen Hausfrauen- oder Zuverdienerinnenexistenz zu verzahnen, nicht aber zwei Erwerbsbiografien. Wie sehr die Balance zwischen Beruf und Familie noch immer auf Kosten der Frauen geht, zeigt, dass in Westdeutschland im Jahr 2003 von den 25- bis 45-jährigen Frauen 84,8 Prozent (Ost 76,5 Prozent), die keine Kinder im Haushalt haben, berufstätig waren, aber nur 63,1 Prozent (Ost 75,2 Prozent), die Kinder haben und nur knapp über die Hälfte, nämlich 52,8 Prozent (Ost 60,8 Prozent) derjenigen, die Kinder unter sechs Jahren haben. Im gleichen Jahr standen für zwei Prozent (Ost 16 Prozent) der Kinder unter drei Jahren Krippenplätze, für 60 Prozent (Ost 87 Prozent) der Kinder von drei bis sechs Jahren Kindergartenplätze und für vier Prozent (Ost 26 Prozent) Hortplätze zur Verfügung. Für die meisten Männer ändert sich nichts, ihre Erwerbsbeteiligung liegt bei rund 90 Prozent (Ost und West), egal wie alt die Kinder sind und egal ob Einrichtungen zur Verfügung stehen. Die Tatsache, dass es zu wenig Kinderbetreuungseinrichtungen gibt, trifft eigenständig lebende Mütter in besonderer Weise, aber auch Kinder, die in pädagogisch wertvollen Einrichtungen Freunde finden, spielen, lernen und soziale Kompetenzen einüben können.

Perspektiven für Familien

An der Rollenaufteilung zwischen den Geschlechtern hat sich dort, wo "Kleinfamilie" gelebt wird, allen Untersuchungen zufolge wenig geändert. Sie ist es aber, die eine Begegnung der Partner auf gleicher Ebene verhindert. Eine andere Verteilung von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Haus- und Sorgearbeit sowie gleichberechtigte Entscheidungsstrukturen in den Zusammenlebensformen könnten sich hingegen konstruktiv und lebensbereichernd auf die Beziehungen zwischen Frauen und Männern auswirken. Diese Chance wird vertan, wenn nach der Restabilisierung traditioneller Familienbande gerufen wird. Neben der "Kernfamilie" bestehen bereits vielfältige Lebensformen. Es wäre viel gewonnen, wenn Familienpolitik das zur Kenntnis nehmen würde. Für die Zukunft geht es darum, dass keine Lebensform bevorzugt und keine benachteiligt wird und allen Menschen, ob mit oder ohne (eigene) Kinder gleiches Recht und Existenzberechtigung für die von ihnen gewählte Lebensform zugestanden wird, solange dort niemand ausgebeutet, unterdrückt oder seinen eigenen Interessen widersprechend behandelt wird. Wäre das erreicht, würde es keine Rolle spielen, ob Menschen alleine, zu zweit oder zu mehreren, mit oder ohne (eigene) Kinder, monogam oder polygam, homo-, hetero-, bisexuell oder in anderen als sexuellen Beziehungen zusammen leben und auch nicht, aus welchem Land sie kommen und welche Hautfarbe sie haben. Es geht um freie Zusammenschlüsse unter freien Menschen.

Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet in der Forschungsabteilung Sozial- und Zeitgeschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.