Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 43 / 18.10.2004
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Für das Recht gleichwertiger Lebensverhältnisse

Bewerbungsrede von Claudia Roth als Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen

Wir sind ein wichtiger Teil der Epoche, in der wir leben und die wir mitgestalten. Wir haben Positionen entwickelt, verteidigt und ausgebaut, haben Politik gestaltet, wir haben gekämpft haben manchmal verloren und öfter gewonnen. Wir sind die Zukunftspartei, weil wir auf Gemeinsinn setzen und nicht auf Bereicherung, nicht auf individuelles Sich-Durchschlängeln und neoliberales Wolfsgesetz; wir sind glaubwürdig, weil wir nicht um den heißen Brei herumreden, sondern Probleme benennen und in der Lösung neue Wege gehen. (...)

Dieses Land darf aber nicht in die Hände derjenigen fallen, denen bei steigenden Ölpreisen nur der Ruf nach Atomkraft einfällt. Die Verlängerung der Laufzeiten bei alten Reaktoren oder gar der Bau von neuen AKWs - das sind abenteuerliche Pläne, das ist gefährlich, das ist keine zukunftsfähige Politik. Wir wollen und wir müssen weg vom Öl: aus ökologischen, ökonomischen und sicherheitspolitischen Gründen.

Aber wir setzen nicht auf Atomkraft - wir setzen auf nachwachsende Rohstoffe und erneuerbare Energien, und wir schaffen mit innovativen Technologien in diesem Bereich sichere neue Arbeitsplätze.

Davon lassen wir uns nicht abbringen - weder von durchsichtigen Spiegelkampagnen noch von Steinkohle-Nostalgie in der Sozialdemokratie. (...)

Unsere Energiepolitik ist auch Sicherheitspolitik. Mit den knapper werdenden Ressourcen wächst die Gefahr der Abhängigkeit, die Gefahr der Verwundbarkeit in Zeiten des internationalen Terrorismus - und die Gefahr verschärfter Verteilungskämpfe. Globale geostrategische Umweltpolitik ist mehr denn je Sicherheits- und Friedenspolitik.

Ökologische Gerechtigkeit herzustellen, den Zugang zu Trinkwasser, die gerechte Verteilung und der schonende Umgang mit den natürlichen Ressourcen - die gerechte Globalisierung - das ist die Herausforderung für grüne Politik. Und das verlangt eben auch bei uns die Veränderung von Konsummustern und das Aufbrechen von Machtstrukturen. Die ökologische Frage ist ganz entscheidend eine Gerechtigkeitsfrage - nicht nur zwischen heutigen und kommenden Generationen, sondern auch zwischen Nord und Süd und Arm und Reich. Diese Überlebensfrage dürfen wir Schwarz-Gelb nicht überlassen. Und Hasardeure dürfen keine Außenpolitik machen.

Was Angela Merkel in der Türkei-EU Frage treibt, ist beispielhaft für ihre gefährlich-falsche Politik. Außenpolitische Ignoranz paart sich mit innenpolitischer Stimmungsmache. Sie zündelt, statt zu argumentieren. Sie spaltet, statt zu integrieren. Und ihre Haltung hat nichts, aber auch gar nichts mit Menschenrechten zu tun - und ich weiß wovon ich spreche. In einer Zeit, in der wir so dringend den Dialog der Religionen und Kulturen brauchen, in der die EU mit der Integration einer demokratischen Türkei weltweit ein Zeichen dafür setzen kann, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch sind, betreibt die Union einen Kulturkampf der übelsten Art. (...)

Das ist keine Politik der inneren Sicherheit, sondern eine Politik des inneren Unfriedens. Diese Politik ist demokratiefeindlich und standortgefährdend. Und bitte keine Krokodilstränen, wenn das Kind dann bei den Neonazis in den Brunnen gefallen ist! Die Gründe für das Wiedererstarken dieser Dunkelmänner von Vorgestern sind vielfältig. Sie haben auch damit zu tun, dass die Merkel-Politik einen Sündenbock ausdeutet - diejenigen, die angeblich nicht zu "Deutschland" oder zum "Christlichen Europa" passen. Wer so einen Kulturkampf führt, arbeitet den Rechtsradikalen in die Hände. Wir setzen rechtsextremer Monokultur eine Kultur der Vielfalt, die gar nicht immer einfach ist, entgegen. Es ist unsere Aufgabe, dabei die sächsischen und brandenburger FreundInnen zu unterstützen. Aber Vorsicht! Rechtsextremismus Rassismus und Antisemitismus sind keine rein ost-spezifischen Probleme.

Liebe Freundinnen und Freunde, gerade bei der Zukunft des Sozialstaates haben wir es mit diametral entgegengesetzten Positionen zu tun. Wir wollen den Sozialstaat nicht abschaffen, sondern ihn zukunftsfest sichern. Wir sind nicht das kleinere Übel - nach der Ausrede: Was die anderen wollen, ist doch noch viel schlimmer. CDU und FDP geht es nicht um ein biss-chen Mehr oder Weniger, sondern um eine andere Republik. Mit den Plänen zum radikalen Abbau von ArbeitnehmerInnenrechten beamt sich die CDU hinter Ludwig Erhardts soziale Marktwirtschaft zurück.

Die Kopf-Pauschale von Angela Merkel ist der Ausstieg aus unserem Solidarsystem. Das Koch'sche Existenzgrundlagengesetz vernichtet Existenzen und schafft neue Armut. Stoibers Vorstoß, die Sozialhilfe um 30 Prozent zu kürzen - ist die endgültige Aufkündigung der christlichen Sozialethik. Frei nach dem Motto: Wenn du Geld brauchst, nimm's von den Armen, denn davon gibt es viele.

Der Reformprozess ist keineswegs zu Ende. Schritt für Schritt zur Bürgerversicherung, Schritt für Schritt zu unserer grünen Grundsicherung.

Diejenigen, die mehr haben, können auch mehr geben - die Vermögenden, die Erbenden, die Steuerflüchtenden und die Topmanager, die nach dem schwäbischen Motto agieren: Geld braucht Dunkel. Wir bringen Licht ins Dunkel. (...)

Wer dagegen für einige Wenige Schlupflöcher baut gefährdet den ganzen Prozess. Das sage ich sehr eindringlich an alle erfahrenen Schlupflöchle-Bauer aus FDP und Union: Mit der Lobbymacht, der Sie sich verschrieben haben, würde eine von Ihnen geführte Regierung den Reformprozess an die Wand fahren. Heuchelei von Rechts und pseudolinker Populismus sind Gift für unser Land. Sie sind verantwortlich für die erneute Polarisierung zwischen Ost und West. Was richtig ist: wir haben ein Gerechtigkeitsproblem, das sind die unterschiedlichen Lebensverhältnisse. Dass wir aber gravierende Unterschiede einfach akzeptieren sollen, wie es bei Präsident Köhler - hoffentlich missverständlich - anklang, ist keine Lösung. Ich halte fest am Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse. (...)

Gerechtigkeit meint auch Teilhabegerechtigkeit. Es ist eine Schande, dass die soziale Herkunft unserer Kinder noch immer für ihre Bildungschancen entscheidend ist. In einigen Bundesländern wird das möglichst frühe Aussortieren zum Bildungsdogma erhoben. Die erfolgreichen Pisa-Länder aber lassen Kinder möglichst lange gemeinsam lernen und fördern gezielt. 9 macht klug. Wir wollen jedem einzelnen Kind mehr Bildungschancen, mehr Teilhabechancen, mehr Chancen für sein ganzes weiteres Leben geben. Und wenn der Satz stimmt, dass wir die Erde von unseren Kindern nur geborgt haben, dann müssen wir sie mit allem ausstatten, was sie brauchen, um die Zukunft gestalten zu können. Unser Credo muss lauten: Die besten Kindergärten und Schulen für unsere Kinder, die besten Hochschulen für unsere Studierenden!


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.