Da es anscheinend den Orientierungssinn sehr vieler Menschen erleichtert, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, man "leiht" sich benachbarte Monarchen zur Sinnstiftung aus oder man schafft sich eine eigene Ersatz-Königsfamilie. In Ländern, in denen nie eine Monarchie existierte, wie in den USA, und in Ländern, in denen sie beseitigt worden ist, wie in Deutschland, gibt es eben nur diese beiden Varianten. Dass es nicht darum geht, eine historische Lücke zu füllen, zeigt sich am Beispiel der Vereinigten Staaten. Hier wird nur König, wer von der Gesellschaft dazu gemacht wird, als ständig präsenter Medienstar.
Ein paar Bedingungen müssen jedoch erfüllt sein und eine zentrale ist: Reichtum. Entweder kann der Auserwählte seine Geschichte vom Tellerwäscher zum Millionär erzählen, oder aber - eher wahrscheinlich - er wurde vermögend geboren, was seine Chancen automatisch erhöht. Ob man bei den Kennedys die erste, gerechtere, Variante oder die zweite erblickt, hängt ganz vom Standpunkt ab. Beginnt man mit den Urgroßeltern von John Fitzgerald Kennedy, landet man bei irischen Einwanderern, die sich vom Rand der Gesellschaft hochgearbeitet haben. Beginnt man bei John F. Kennedy selbst, liest sich die Geschichte schon anders. Als er 1917 in Brooklin (Massachusetts) wurde, war sein Vater, Bankdirektor, später Reedereibesitzer und Politiker, bereits mehrfacher Millionär: "In dieser Familie wollen wir nur Gewinner", lautete seine Maxime. Ihr hatten sich zuerst die eigenen neun Kinder unterzuordnen. Seit er in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts seine eigene politische Laufbahn - als US-Botschafter in London - beendete, kannte er nur ein Ziel: einen seiner vier Söhne zum amerikanischen Präsidenten zu machen.
Reichtum und Macht allein aber erklärt den Zauber nicht. Für eine Aura des Monarchischen bedarf es noch einiger anderer Zutaten. Die wichtigste ist die Familie selbst. Je größer dieser Kreis, desto höher die Chancen auf Intrigenspiele, Skandale, Tragödien, sympathische Figuren und schwarze Schafe. In seiner Mitte jedoch braucht es eine Lichtgestalt, auf die kein Schatten fällt oder fallen darf. All dies vereinte die Familie der Kennedys, die heute ungefähr 90 Mitglieder zählt.
Und diese zentrale Lichtgestalt war John F. Kennedy. Nachdem sein älterer Bruder Joseph die Mission des Vaters nicht mehr erfüllen konnte, war er an der Reihe. Joseph starb im Zweiten Weltkrieg bei einem Flugzeugabsturz, und so begann der systematische Aufbau Johns durch den Vater aus einem tragischen Zufall heraus. Er konnte sich jedoch auf eine solide Basis stützen: John hatte an der Elite-Universität Harvard Politische Wissenschaften studiert und schrieb während und nach dieser Zeit bereits journalistische Artikel und Reden für seinen Vater. Und "für sich" ein Buch: Seine Erfahrungen während einer ausgedehnten Europareise 1937 mündeten zunächst in eine Examensarbeit, die unter dem Titel "Why England slept" veröffentlicht und dann ein Bestseller wurde. Die Innenansichten des Faschismus und die Auseinandersetzung mit der zögerlichen Haltung Englands führten John F. Kennedy zu einer grundsätzlichen Kritik an der Apeasment-Politik. Darin unterschied er sich deutlich von der Position seines Vaters, konnte auf dessen finanzielle Unterstützung aber voll bauen. Mit seinem Millionen-Vermögen (es wurde bei seinem Tod auf ungefähr 500 Millionen Dollar geschätzt) hatte dieser sich politische Bedeutung und publizistische Wirkung erkauft. Er, der die Demokratische Partei regelmäßig mit großen Summen unterstützte, war bereits eine öffentliche Erscheinung - und damit auch die Familie.
Eine Beziehung John F. Kennedys zu einer dänischen Schönheitskönigin, die er sogar heiraten wollte, beschäftigte in den 40er-Jahren bereits die Klatschpresse und drohte, den Ruf der Familie zu beschädigen. Inga Arvad, so ihr Name, lebte mittlerweile als Journalistin in den USA, hatte jedoch in den 30er-Jahren als Korrespondentin einer dänischen Tageszeitung in Berlin über gute Kontakte zur NS-Elite verfügt. Nach langem Zögern beendete Kennedy die Beziehung, die eigene Karriere bereits im Blick. 1947 wird er Abgeordneter im US-Repräsentantenhaus und 1953 Senator für Massachusetts.
Der attraktive und charmante Kennedy hatte bereits wertvolle Vorleistungen erbracht - es war die Rolle des Prinzen. Für die Aura des Königlichen fehlte noch ein entscheidender Baustein: die Frau an seiner Seite, die in der Person Jacqueline Lee Bouviers nicht perfekter hätte sein können. Nur mit ihr glänzte er wirklich. Wir kennen sie aus dem Märchen: Prinzen- oder Königspaare, die jung und schön sind, in samtende Gewänder gehüllt und in Schlössern residierend. Sie müssen jedoch ein Bedürfnis befriedigen: Das kindliche, eine schöne Märchenprinzessin oder stolzer Ritter zu sein, traf im Amerika der 50er- und 60er-Jahre auf das reale Bedürfnis breiter Schichten nach gesellschaftlicher Erneuerung.
So waren es vor allem junge Frauen und junge Männer, die sich von dem Politiker und seiner Frau angezogen fühlten. Für viele Frauen, die während des Krieges den Herd gegen die Werkbank getauscht hatten und nach Kriegsende, nicht ganz unfreiwillig, zu einem Rücktausch gezwungen wurden, war Kennedy der Mann, der mit jugendlichen Charme an diese alten Fortschritte anknüpfte. Und seine Frau verkörperte ein neues (wenn auch nicht sehr emanzipiertes) Rollenbild: nicht mehr vergleichbar mit ihren Vorgänger-Mamis. Stets elegant gekleidet wurde "Jackie" zur Stilikone. Für die Männer versprach Kennedy etwas anderes: 46 Prozent der Männer zwischen 18 und 40 Jahren hatten - wie er - als Soldat im Zweiten Weltkrieg gekämpft und warteten danach vergeblich auf ihre gesellschaftliche Anerkennung. Doch die alten Vorkriegseliten waren nicht gewillt, das Ruder aus der Hand zu geben. John F. und Jacqueline Kennedy verkörperten also in mehrfacher Hinsicht einen Bruch mit alten Strukturen.
Sie erfüllten außerdem das private Bedürfnis nach romantischer Liebe und einer familiär heilen Welt. Immer strahlend, niedliche Kinder im Arm oder auf der Wiese vor ihrem Schloss, dem Weißen Haus: das war das Bild einer völlig neuen Präsidentenfamilie in den wenigen Jahren vom Wahlsieg 1960 bis zum Attentat in Dallas 1963. Gerade diese neue, private Seite der Macht gab ihr die Legitimation, ließ die Popularitätswerte des Präsidenten in bisher unbekannte Höhen ansteigen.
Doch das Ausmaß der Inszenierung war ernorm: Weder war John F. Kennedy so dynamisch wie er vorgab zu sein. Eine Rückenverletzung aus der Jugend zwang ihn mehrfach und ohne rechten Erfolg auf den Operationstisch und später oft in ein Korsett. Eine seltende Immunkrankheit machte ihn abhängig von einem Dutzend Tabletten täglich. Die Ehe wurde durch seine zahlreichen Affären belastet.
Ohne zwei Dinge lässt sich die Bedeutung der Kennedys aber nicht verstehen: das Fernsehen und der zu frühe, gewaltsame Tod des Protagonisten. John F. Kennedy war zu einer Zeit Präsident, in der das Fernsehen zum Massenmedium wurde. In einem nie gekannten Ausmaß war er präsent, beinahe täglich, und wurde zu einem Stück Alltag der Bevölkerung. Die Kennedys schlüpften so fast automatisch in die Rolle der fürsorgenden Landeltern, die immer da, immer nahe sind. So verband sich die emotionale Nähe mit der visuellen; eine moderne Variante des Märchenbuchs.
Zum Mythos gehört die Tragik oder umgekehrt: Ein tragischer Tod beliebter Persönlichkeiten schafft erst jene Verklärung, in der es dann keine Rolle mehr spielt, dass der 35. Präsident der USA politisch eine eher mittelmäßige Bilanz vorzuweisen hat. In der es auch keine Rolle spielt, dass der politische Einfluss und Erfolg der Kennedy-Erben insgesamt doch eher bescheiden blieb. Durch seinen Tod wurde nicht nur er zu einem überidealisierten Figur, mit der man noch 30 Jahre später erfolgreich Wahlkampf machen kann. Noch heute ist die Familie von dieser geheimnisvollen Aura umgeben. Als 1999 der Sohn des Paares bei einem Flugzeugabsturz starb, verfiel das ganze Land in kollektive Trauer; der Mythos erhielt neue Nahrung.
Und seine Frau? Ihr Bild im blutbefleckten Kleid war omnipräsent - sie war die tragische Heldin des Augenblicks, der seine Mystik noch dadurch bewarte, dass Jackie Kennedy schwieg. Lediglich zwei Interviews gab sie bis zu ihrem Tod 1994. In ihrem ersten, eine Woche nach der Tat, überredete sie den Journalisten Theodore White von "Life", die Präsidentschaft Kennedys als eine Version der Artussage darzustellen: das mythisch verlorene Königreich von König Artus, das damals durch ein Musical in aller Munde war, und dessen Mitschnitt sich das Präsidentenpaar im Weißen Haus oft angehört hatte. White schrieb später über die Folgen des Gesprächs mit ihr: "So wurde Camelot zur Grabinschrift der Regierung Kennedy - ein magischer Augenblick in der amerikanischen Geschichte, als galante Herren mit wunderschönen Frauen tanzten, als man große Taten vollbrachte und das Weiße Haus zum Mittelpunkt des Universums wurde."