"Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist." Dieser Satz David Ben-Gurions trifft in ganz besonderer Weise auf die Entwicklung der deutsch-israelischen Beziehungen zu, deren 40-jähriges Bestehen wir in diesem Jahr begehen. Denn wer hätte nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah, nach dem unendlichen Leid, das Deutsche über die Juden Deutschlands und Europas gebracht haben, zu hoffen gewagt, dass bilaterale Beziehungen, ja auch nur irgendeine Art von Verhältnis zwischen Deutschland und Israel möglich sein würde?
Sechs Millionen Juden - Männer, Frauen und Kinder unterschiedslos - und mit ihnen eine wunderbare Kultur, eine der Säulen europäischer Zivilisation, waren dem mörderischen Antisemitismus von Nazi-Deutschland - und damit von Deutschen - zum Opfer gefallen. Das Neue Museum in Yad Vashem, an dessen Eröffnung ich kürzlich in Jerusalem teilnehmen durfte, macht den brutalen Zivilisationsbruch der Shoa in erschreckender Weise greifbar. Mit seinem konsequenten Blick auf den einzelnen Menschen entreißt Yad Vashem die Namen und die Lebenswege der zahllosen jüdischen Opfer des Nazi-Terrors dem Vergessen.
Es waren die Angehörigen dieser Ermordeten - oft nur einzelne großer Familien, Waisen, deren Eltern und Geschwister verschleppt und getötet, die Mütter, deren Kinder vor ihren Augen umgebracht, die Großväter, deren Familien komplett ausgelöscht worden waren - die in Israel endlich Sicherheit vor Verfolgung fanden. Es waren Europäer. Frohen Herzens zogen sie nicht. Aber sie mussten ziehen. Ihre Liebe zu Europa und seiner Kultur wurde nicht erwidert. Im Gegenteil: Sie wurde mit Hass und unvorstellbarer Grausamkeit und Barbarei vergolten. Zutiefst enttäuscht wandten sie sich ab von der alten Heimat und gründeten den Staat, der ihre Vision umsetzen sollte, die Vision, als jüdische Menschen nie mehr Opfer zu sein und ein Leben in Freiheit, in Selbstbestimmung und in Sicherheit zu führen.
Vor diesem Hintergrund, aus dem Schatten der Shoa heraus, gelang es zwei großen Staatsmännern, Konrad Adenauer und David Ben-Gurion, den Grundstein für eine Annäherung zwischen Deutschland und Israel zu legen. Den Beginn der Kontakte markierten dabei die Verhandlungen über Entschädigungsleistungen, die im September 1952 schließlich im Abschluss des Luxemburger Abkommens mündeten. Dieser Anfang war alles andere als leicht. Als Ben-Gurion 1951 beschloss, auf das Gesprächsangebot Konrad Adenauers einzugehen, traf er in Israel auf sehr große Widerstände. Aber David Ben-Gurion blieb unbeirrbar. In der Knesset fand er eine Mehrheit für seine mutige Entscheidung. Dafür gebührt ihm großer Respekt, Dank und Anerkennung. Dieser Schritt ermöglichte erste finanzielle Hilfen für die Überlebenden und
einen Beitrag zum Aufbau des jungen Staates Israel. Dabei war beiden Seiten klar: Die finanziellen Leistungen konnten nur eine Geste sein; das furchtbare Unrecht konnten sie nicht ungeschehen, das unermessliche Leid nicht wieder gut machen und die Toten nicht wieder zum Leben erwecken.
Diese ersten Kontakte waren aber vor allem eine große Chance für unser Land, für Deutschland: Sie halfen uns, die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit zu beginnen. Das demokratische Deutschland konnte so unter Beweis stellen, dass es bereit war, sich seiner Verantwortung für die deutsche Schuld und für die Überlebenden der Shoah zu stellen. Unsere historisch-moralische Verantwortung gilt bis heute fort. Wir dürfen und werden uns ihr niemals entziehen. Wer das versucht, wird scheitern.
Der Beginn der Kontakte zum Staat Israel festigte zugleich eine entscheidende Weichenstellung in der Außenpolitik der jungen Bundesrepublik, die bis heute Bestand hat und auch für die Zukunft gelten wird: Deutschland unterstützt vorbehaltlos das Existenzrecht Israels. Wir bekennen uns zu dem Recht der Bürgerinnen und Bürger Israels, in sicheren Grenzen und in Frieden mit ihren Nachbarn und frei von Angst vor Terror und Gewalt zu leben. Dieses Bekenntnis zu Israel gilt uneingeschränkt und bedingungslos, es ist mit niemandem verhandelbar und bildet die Grundlage für das besondere Verhältnis unserer beiden Länder. Es ist ein Grundpfeiler deutscher Außenpolitik und das wird so bleiben.
Dieses Israel, mit dem wir nun seit 40 Jahren diplomatische Beziehungen unterhalten, ist ein ungewöhnliches, faszinierendes, wunderbares Land. Ein dicht bevölkerter Staat, in dem Menschen mit vielen verschiedenen kulturellen Hintergründen auf kleiner Fläche zusammen leben, ein Land voller Energie, voller Kreativität, voller beeindruckender Errungenschaften in Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft, mit einer enormen Integrationsleistung, von der wir viel lernen können - gleichzeitig auch ein Land voller Komplexität, voller Widersprüchlichkeit.
Insofern haben sich unsere Beziehungen nie auf politische Kontakte beschränkt. Gerade die deutsch-israelische Kooperation in Wissenschaft und Technologie ist eine Erfolgsgeschichte. Sie hat eine Intensität entwickelt, die wir mit kaum einem anderen Land erreicht haben. Immer wieder gelingt es Bund, Ländern und Gemeinden, aber auch deutschen Stiftungen und eigens geschaffenen bilateralen Institutionen und Programmen, gemeinsam die Voraussetzungen zu schaffen, die innovative Forschung ermöglichen. Was die Wirtschaft angeht, so ist Deutschland nach den USA der wichtigste Handelspartner Israels. Und auch unsere bilateralen Kulturbeziehungen haben heute eine ganz außerordentliche Breite und Intensität erreicht. Das zeigt auch die Vielzahl von Veranstaltungen - Ausstellungen, Theateraufführungen, Konzerte, Lesungen, Tanzvorstellungen - die in diesem Jubiläumsjahr in beiden Ländern stattfinden.
Um den kulturellen Beziehungen zwischen unseren Ländern einen formalen Rahmen zu geben, arbeiten wir zur Zeit an einem Kulturabkommen, das, so hoffen wir, noch im Jubiläumsjahr unterzeichnet werden kann. Deutsche und israelische Künstler und Kulturschaffende sind inzwischen in beachtlichem Maße vernetzt.
Wir freuen uns dabei besonders über die Anziehungskraft, die Berlin auf junge Künstlerinnen und Künstler ausübt. In diesem Zusammenhang ist es besonders ermutigend, dass wir in den letzten Wochen und Monaten ein noch einmal gestiegenes Interesse an kulturellem Austausch feststellen. Ob Gastspielreisen deutscher Theater, Jugendaustausch oder Tourismus - in die Kulturbeziehungen scheint weitere Dynamik gekommen zu sein.
Dass unsere Beziehungen eine so hohe Dichte und Qualität erreicht haben, dürfen wir niemals als selbstverständlich zugrundelegen. Das Deutschlandbild in Israel, aber auch die Wahrnehmung Israels bei uns bleibt vor dem Hintergrund der Geschichte hochkomplex, eine fortwährende Herausforderung und ist alles andere als einfach. Wie könnte es auch anders sein? Es muss uns gelingen, junge Israelis und Deutsche für den besonderen Charakter unserer bilateralen Beziehungen zu sensibilisieren. Es muss uns gelingen, auch bei der Generation, die kaum noch persönlichen Kontakt zur Generation der Täter und Opfer des Nationalsozialismus hat, Verständnis zu wecken für die fortdauernde Bedeutung der Shoah für die Beziehungen unserer beiden Länder und für die Lehren, die wir daraus ziehen müssen. Nur dann können die positiven Teile unserer Beziehungen weiter wachsen. Von Beginn an war der Jugendaustausch deshalb von besonderer Bedeutung in unseren Beziehungen. Er muss weiter ausgebaut und gepflegt werden, denn die Verständigung zwischen den jungen Bürgerinnen und Bürgern unserer Staaten ist entscheidend für die Zukunft unserer gemeinsamen Beziehungen.
Lassen Sie mich aber auch unterstreichen: Es kommt darauf an, mit großer Wachsamkeit zu verfolgen, wie sich unsere jüdischen Bürgerinnen und Bürgern und ihre Gemeinden in Deutschland tatsächlich fühlen. Ihre Sorge vor einer erneuten Zunahme antisemitischer und fremdenfeindlicher Einstellungen, Äußerungen und Gewalttaten, vor ungerechtfertigter oder einseitiger Kritik an Israel dürfen uns nicht unberührt lassen. Antisemitische Übergriffe bedrohen und verletzen nicht nur jüdische Menschen und die jüdischen Gemeinden in Deutschland, sondern sind auch eine Gefahr für unsere Demokratie, für unsere offene Gesellschaft als ganze. Es ist deshalb unsere Verpflichtung, allen Formen von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit entschlossen entgegenzutreten, sie unzweideutig zu ächten und mit der ganzen Härte des Gesetzes zu verfolgen. Diese Verantwortung nehmen wir sehr ernst; ihr dürfen wir uns niemals entziehen.
Aus unserer historisch-moralischen Verantwortung für Israel heraus gilt unsere besondere Aufmerksamkeit auch dem Friedensprozess zwischen Israel und seinen Nachbarn. Nach mehr als vier Jahren eines Terrorkriegs gegen Israel und einer Abwärtsspirale von Gewalt und Hass erleben wir derzeit im israelisch-palästinensischen Konflikt auf beiden Seiten Schritte zu einem positiven Neuanfang. Das Ziel bleibt, diesen jahrzehntealten Konflikt durch die Verwirklichung der Vision zweier Staaten zu lösen - Israel und Palästina, die Seite an Seite friedlich und in sicheren und anerkannten Grenzen existieren. Was wir, Deutschland und Europa, im Rahmen unserer Möglichkeiten tun können, um dabei zu helfen, einen dauerhaften Frieden zu erreichen, das wollen wir auch weiterhin tun.
In diesem Jahr begehen wir den 40. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Gemeinsam mit unseren israelischen Freunden feiern wir das Jubiläum durch zahlreiche Veranstaltungen in den verschiedenen Feldern der deutsch-israelischen Zusammenarbeit. Die ersten Kontakte zwischen Deutschland und Israel, die die beiden großen Staatsmänner Ben-Gurion und Adenauer in den 50er-Jahren eingeleitet haben, sind in den vergangenen Jahrzehnten zu einer engen und vertrauensvollen Partnerschaft zwischen Deutschland und Israel gewachsen. Unsere staatlichen Beziehungen sind inzwischen sehr gut. Es erfüllt uns mit Dankbarkeit, dass Israel uns heute als verlässlichen Partner betrachtet. Wir möchten das Jubiläumsjahr nutzen, um die Vergangenheit zu erinnern, aber auch, um - gründend auf der fortgeltenden Verantwortung für diese Vergangenheit - den Blick auf Gegenwart und Zukunft zu richten. Der damalige israelische Staatspräsident Salman Shazar hat die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel einmal so beschrieben: Nach der "dunkelsten aller dunklen Nächte" dämmerte der Morgen. Es bleibt unsere Aufgabe, den angebrochenen neuen Tag gemeinsam zu gestalten, für uns und vor allem für die zukünftigen Generationen.
Joschka Fischer ist Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.