Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 15 / 11.04.2005
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Gisela Dachs

"Die Deutschen sind gar nicht so kalt und pedantisch"

Die Vergangenheit ist der Grundstein deutsch-israelischer Begegnungen

Wann immer heute die Rede auf die deutsch-israelischen Beziehungen kommt, taucht die Sorge nach der Zukunft auf. Viele der alten Jekkes, die einst Nazi-Deutschland verlassen mussten und später zu Brückenbauern wurden zwischen der alten und neuen Heimat, leben nicht mehr. Ihre Kinder und Enkel sind meist der deutschen Sprache nicht mehr mächtig. Wer und was bleibt, um das besondere Verhältnis zu pflegen? Wie denken junge Israelis über die Nazi-Vergangenheit? Wie nehmen sie die Haltung Deutschlands gegenüber dem Staat Israel wahr? Und wie schätzen sie den demokratischen Charakter Deutschlands ein?

Mit diesen Fragen hat sich eine in diesem Frühjahr erschienene Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung beschäftigt. Demnach interessieren sich 69 Prozent der jüdisch-israelischen Jugendlichen für den Holocaust. In einer früheren Studie von 1998 waren es nur 60 Prozent gewesen. Ein gutes Drittel ist der Meinung, Deutschland gehöre zu den Staaten, die Israel am freundlichsten gesinnt seien. Fast die Hälfte der Befragten glaubt, dass das Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland ähnlich sei wie in anderen Staaten. 69 Prozent (1998 waren es 75 Prozent) glauben, dass die Vernichtung der Juden im Holocaust faktisch von der Mehrheit des deutschen Volkes und nicht nur von der NS-Führung unterstützt wurden. Während also die Last der Vergangenheit immer noch deutlich zu spüren ist, sogar bei steigendem Interesse, betrachtet immerhin eine knappe Mehrheit der jüdischen Jugend Israels Deutschland als fortschrittlichen demokratischen Staat. Soweit die Statistik.

Ein anderer Gradmesser für das Interesse der jungen Israelis an Deutschland mag das Goethe-Institut sein. Wer am Abend kurz vor Beginn des Unterrichts die geschwungene Treppe zum Tel Aviver Goethe-Institut hinaufsteigt, wird empfangen von einer bunten Gruppe von Israelis, die alle ihre ganz persönlichen Gründe haben, warum sie deutsch lernen wollen. Alex, 27 Jahre alt, ist Pianist und will sich an einer Hochschule für Musik in Deutschland auf eine internationale Karriere vorbereiten. Tal, 20, macht noch seinen Armeedienst und will einfach eine zusätzliche Sprache lernen. Er möchte Biologie studieren, aber erst später. Vorher will er erst einmal "herausfinden, wie es woanders ist, und dann vielleicht sogar dort bleiben. Wer weiß." Seine Eltern allerdings finden es gar nicht gut, dass er ins Ausland gehen will, "und besonders Deutschland löst bei fast allen Israelis immer noch Vorbehalte aus". Die 42jährige Anat lernt deutsch, weil sie sich mit ihrem deutschen Freund besser verständigen möchte. Ein junger Mann besucht den Kurs, um als DJ in Ostdeutschland aufzulegen. Weil man dort kein Englisch verstehe, müsse er Deutsch lernen. Das Interesse an Deutschland sei in den letzten Jahren gestiegen, bestätigt die Leiterin der Sprachkurse. Nach einer Umfrage vom Frühjahr 2003 wollen 25 Prozent Deutsch lernen, um mit Freunden zu reden, 15 Prozent, um Geschäftskontakte zu knüpfen, 24 Prozent, um zu studieren, und 21 Prozent, um dort zu arbeiten.

Jahrelang galt es als Herausforderung, gerade die junge Generation für deutsche Themen zu interessieren. Amos Dolav, Israeli und seit 17 Jahren Programmdirektor des Goethe-Instituts, redet von einem Umbruch, der in dieser Hinsicht im vergangenen Jahrzehnt stattgefunden habe. Früher habe er oft Hemmungen bei den israelischen Partnern verspürt, wenn er gemeinsame Veranstaltungen vorschlug. Diese Berührungsängste würden allmählich verschwinden. Den Grund sieht er in der entspannteren politischen Lage und in der allgemeinen Globalisierung. "Unter anderem hat auch das Kabelfernsehen Israel weltoffener, was eben auch heißt, Deutschland gegenüber offener gemacht." Viel häufiger als früher gebe es Veranstaltungen außerhalb des Hauses.

Vor allem Berlin übt eine starke Anziehungskraft auf junge Israelis aus. Auf Kurztrips spüren sie dort den Spuren der Geschichte nach. So machen sie dann eben auch Bekanntschaft mit dem Deutschland von heute. Nach Hamburg oder München wäre früher kaum jemand zu einem Ausflug gefahren, bei Berlin aber ist das anders. Die Stadt macht neugierig. Sie befindet sich in Deutschland, ist aber eine europäische Metropole. Und immer mehr junge Israelis, deren Eltern oder Großeltern aus Deutschland stammen, machen heute von ihrem Anspruch auf einen deutschen Pass Gebrauch, der zum Aufenthalt in der EU berechtigt. Dahinter stecken keine neu entdeckte Liebe zum Alten Kontinent, sondern ganz pragmatische Gründe. In vielen EU-Ländern kann man gebührenfrei studieren. Der Wunsch nach einem zweiten Pass aber hat auch mit der schwierigen Lage im Nahen Osten zu tun. Ein EU-Pass also für alle Fälle. "Die EU hat keine klare Identität. Da kann sich auch ein Israeli zurechtfinden", befand die Tageszeitung Maariv. Deutschland geht dort ein wenig unter.

Jene, die seit Jahren mit dem Jugendaustausch zwischen beiden Ländern beschäftigt sind, kennen allerdings auch die Kehrseite der gestiegenen Mobilität und Globalisierung: Heute ist es schwieriger als vor etwa 20 Jahren, Teilnehmer für den Austausch zu gewinnen. Es sei zum Beispiel ein ganz anderer Reisemarkt entstanden, den man bei der Planung mit berücksichtigen müsse, stellt Ursula Kopp vom Bundesjugendministerium fest. Denn wenn man heute von Berlin nach Madrid schon für 19 Euro fliegen könne, dann brauche man schon gute Gründe, um sich einer organisierten Gruppe anzuschließen. "Die Entfremdung hat zugenommen - auf beiden Seiten", beklagt auch Michael Cares vom evangelischen Jugendwerk. Als Grund führt er die veränderten Lebensverhältnisse der Jugendlichen an, zu denen auch die neue ethnische Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft gehöre. Kinder von türkischen Gastarbeitern wollen sich nicht mit der Shoah beschäftigen. Viele Jugendliche verplanten ihre Freizeit außerdem zunehmend nach Verwertungsmotiven; ein Sprachkurs in England sei unter diesem Gesichtspunkt attraktiver als ein Israel-Aufenthalt. Deshalb müsse man heute "höhere Hürden" überwinden als früher, um Jugendliche für einen Austausch zu gewinnen, sagt Cares, "aber wenn er stattfindet, wird daraus ein Selbstläufer. Wer sich auf Israel einlässt, kommt davon nicht mehr weg."

Den Jugendaustausch gab es schon, bevor 1965 erstmals Botschafter ausgetauscht wurden. Konrad Adenauer und David Ben Gurion hatten sich dafür eingesetzt, der deutsche Kanzler hatte das deutsch-französische Jugendwerk als Modell im Auge. Später zog es viele Deutsche nach dem Abitur in den Kibbuz, oder sie meldeten sich für den Freiwilligendienst bei Aktion Sühnezeichen, die gerade ihr 42-jähriges Bestehen in Israel gefeiert hat. Die Anziehungskraft war groß - über den Abgrund der Shoah hinweg.

Nachdem die Intifada in den letzten Jahren viele deutsche Besucher abgeschreckt hat, geht der Trend jetzt erstmals wieder nach oben. Rund 200 Projekte sind für 2005 geplant, Städtepartnerschaften nicht mitgerechnet. Überzeugungsarbeit gehört auf beiden Seiten im Vorfeld dazu: Oft müssen die Eltern überredet werden, wenn sie ihre Zöglinge nicht ins gefährliche Israel fahren lassen wollen. Angst prägt auch viele Israelis, die sich vor Antisemitismus in Deutschland fürchten. Francoise Cafri, die in der Jerusalemer Stadtverwaltung seit 20 Jahren für den Jugendaustausch verantwortlich ist, weiß um das negativ geprägte Deutschlandbild in Israel. "Es war nie leicht und wird es auch nicht sein, Jugendliche nach Deutschland zu bringen", sagt sie. Man versuche ganz gezielt, nicht nur die Eliten, sondern alle Bildungsschichten für eine solche Reise zu gewinnen. Allein aus Jerusalem fahren jedes Jahr immerhin 10 bis 15 Gruppen nach Deutschland. Dass die Teilnehmer heute der dritten oder sogar vierten Generation der Nachkommen von Holocaust-Überlebenden angehören, mache den Umgang mit Deutschland leichter. Der Generationenwechsel eröffnet neue Formen der Erinnerung. Waren bis vor wenigen Jahren die Deutschen bei Erinnerungszeremonien in KZs ausgeschlossen, so seien die Jugendlichen heute "Partner in der Erinnerung".

Die Vergangenheit sei nach wie vor der Grundstein der deutsch-israelischen Begegnung, betont Michael Cares vom protestantischen Jugendwerk. Die Unmittelbarkeit von Geschichte mache den Austausch einzigartig. Dennoch sucht man im gemeinsamen Ausschuss nach Themenfeldern, die für die Jugendlichen aus beiden Ländern relevant und Zukunftsgerichtet sind. So wurde 2006 auf deutschen Wunsch unter das Motto "Migration und Partizipation" gestellt.

Die treibende Kraft hinter dem Jugendaustausch ist die deutsche Seite. Dort ist der Stellenwert solcher Reisen viel höher als in Israel. Als das israelische Erziehungsministerium vor zwei Jahren neue Richtlinien für Gruppenreisen einführte, protestierten die deutschen Partner. Strengere Sicherheitsmassnahmen hatten gefordert, auch jede kleinste Programmänderung erst bei der israelischen Botschaft in Berlin genehmigen zu lassen. Außerdem sollte die Reise ausschließlich vergangenheitsgerichtet sein.

Das Ungleichgewicht ist spürbar. So wünschte man sich von deutscher Seite mehr israelisches Engagement, wenn es etwa um die Aufnahme von deutschen Jugendlichen in Gastfamilien geht. Das Wort "Einbahnstraße" fällt oft, wenn die Schwachpunkte des Jugendaustauschs angesprochen werden. Doch selbst wenn die Treffen zwischen Jugendlichen hauptsächlich in Deutschland stattfinden, sind sie eine immense Bereicherung für die Teilnehmer. Davon ist zumindest Hila Lahar überzeugt, die schon als Kind oft mit ihrem Vater Deutschland besucht hat. Im vergangenen Jahr begleitete die 25-jährige Israelin aus Holon erstmals eine Gruppe nach Leipzig. "Bridges through art" hieß das Programm, das Musiker, aber auch Tänzer oder Sänger aus beiden Ländern zusammenbringen sollte. Die Teilnehmer waren zwischen 14 und 16 Jahre alt und zuvor fast alle schon einmal im Ausland gewesen und hatten nicht daran gedacht, nach Deutschland zu fahren, erzählt Hila. "Solche Reise verändert die Leute, in beide Richtungen, Vorurteile werden abgebaut, man lernt sich von Menschen zu Mensch kennen. Hinterher stellte man erleichtert fest, dass die Deutschen ja gar nicht kalt und pedantisch seien." Oft werde sie gefragt, warum sie immer wieder nach Deutschland fahre. Dann antwortet sie, dieses Land sei nicht so, wie es im Fernsehen aussehe, und jeder Israeli, der fahre, die Funktion eines kleinen Botschafters habe.

Dass sich einmal geknüpfte Kontakte oft ein Leben lang erhalten, bestätigt Francoise Kafri von der Jerusalemer Stadtverwaltung. Viele ehemalige Teilnehmer besuchen sich noch nach Jahren und laden sich gegenseitig auf ihre Hochzeit ein. Sie hält es für äußerst wichtig. dass sich beide Staaten weiter in diesem Bereich engagieren. Viele, die am Jugendaustausch teilgenommen hätten, seien künftige Entscheidungsträger. Und Reisen in diesem Alter prägten fürs Leben.


Gisela Dachs ist Israel-Korrespondentin der Wochenzeitung "Die Zeit".


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