Die Religionspädagogin Pnina Navé Levinson sprach einmal davon, man würde beim Stichwort "Juden" in Deutschland an Grabsteine und betende alte Männer denken. Noch im Dezember 2004 machte das Wochenmagazin "Stern" anlässlich einer Serie über Weltreligionen sein Titelblatt zum Judentum mit dem Bild eines jungen Chassid mit schwarzem Hut und Schläfenlocken auf. Klischees taugen für einfache Assoziationsketten. Der facettenreichen Realität werden sie nie gerecht, führen eher zu falschen Schlüssen.
So merkwürdig es auf den ersten Blick erscheinen mag: Aus jüdischer Sicht erwies sich die Bundesrepublik als Einwanderungsland. Jeder politische Umsturz brachte Flüchtlinge - aus Ungarn, der Tschechoslowakei, Polen, dem Iran und der Sowjetunion. Hinzu kamen Rückkehrer aus Israel und Nachfahren von Emigranten. Sie alle bilden mit ihren Kindern und Kindeskindern die heterogene jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Die inzwischen über 100.000 in jüdischen Gemeinden integrierten Juden - aus diversen Zuwanderungsphasen stammend - haben zu rund 95 Prozent osteuropäische Wurzeln. Durch die Zuwanderung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion binnen der letzten 15 Jahre steht die jüdische Gemeinschaft in Deutschland vor ihrer Vervierfachung. Ob der demographische Aufschwung ein dauerhaftes Revival bedeutet oder die Pessimisten Recht bekommen, die einen langfristigen Rückgang der jüdischen Bevölkerung in Europa prognostizieren, wird die Zukunft zeigen. Jedenfalls haben die rund 100 jüdischen Gemeinden - solche wie Potsdam, Rostock und Schwerin entstanden überhaupt erst wieder dank der jüngsten Zuwanderung - alle Hände voll zu tun, die religiöse, kulturelle und soziale Integration ihrer Neumitglieder zu unterstützen. Der Zentralrat als Dachverband aller jüdischen Gemeinden bringt im fünften Jahrgang ein deutsch-russisches Informationsblatt mit dem symbolträchtigen Titel "Zukunft" heraus. Verschiedene Gemeinden wie Berlin und München haben ihre eigenen bilingualen Mitteilungen eingeführt.
Apropos Religion: Wenn überhaupt, bleibt der Blick von außen am abweichenden Jahres- und Feiertagszyklus hängen. Nun leben wir nach jüdischer Zeitrechnung - bis zum 29. Elul, der 2005 auf den 3. Oktober fällt - im Jahr 5765. Im Alltag zählt der christlich-abendländische Kalender jedoch nachhaltig. Und im übrigen gilt das Sprichwort "Wie es sich christelt, so jüdelt es sich". Dass es zahlreiche Strömungen im Christentum und dabei noch eine Variationsbreite persönlicher religiöser Verbundenheit gibt, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Manchmal gerät die vergleichbare Vielfalt anderer Weltreligionen aus dem Blickfeld. Und was das Judentum in Europa betrifft, so wurde es in den zwölf Jahren des Nationalsozialismus weitgehend zerstört. Inzwischen gibt es wieder eine weite Bandbreite: von orthodox bis liberal, von traditionell bis säkular.
Bilingualität und multikulturelle Erfahrung werden Juden wohlwollend als Weltoffenheit, verunglimpfend als Kosmopolitismus angerechnet. Dabei ist beides weniger der eigenen Neigung zuzurechnen, denn charakteristisch für Flüchtlinge. Bei Kurt Tucholsky, der 1935 im schwedischen Exil seinem Leben ein Ende setzte, heißt es: "Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen - wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand - nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist."
Wenn die politischen und gesellschaftlichen Umstände es nur zulassen, dann werden Juden sehr gerne heimisch dort, wo man sie in Ruhe leben lässt. Als Mitte der 80-er Jahre in Frankfurt ein neues Jüdisches Gemeindezentrum entstand, formulierte dessen Architekt Salomon Korn, inzwischen Vorsitzender der Frankfurter Jüdischen Gemeinde und Vizepräsident des Zentralrats: "Wer ein Haus baut, will bleiben."
In München fand das Gemeindeleben seit Kriegsende provisorisch verstreut über die Stadt statt. Charlotte Knobloch, seit 1985 Präsidentin der örtlichen Gemeinde, konnte sich als gebürtige Münchnerin noch an das Gemeindezentrum ihrer frühen Kindheit nebst der drittgrößten Synagoge Deutschlands erinnern. Diese war im Juni 1938 auf Hitlers persönlichen Wunsch zum Abriss freigegeben worden. Eine Zerstörung, für deren Kosten die Vorkriegsgemeinde auch noch selbst aufkommen musste. Seit ihrem Amtsantritt verfolgte Charlotte Knobloch den Traum, mit einem Jüdischen Zentrum in die Münchner Innenstadt zurückzukehren. Ihre überzeugende Beharrlichkeit, der beachtliche Zuwachs der Münchner Jüdischen Gemeinde - die Statistik wies zum Jahresende 1989 noch 4.050, 2003 schon 8.917 Mitglieder aus - und ein inzwischen gewachsenes Interesse offizieller Stellen wie dem Freistaat Bayern und der Landeshauptstadt München am Fortbestand jüdischen Lebens führten am 9. November 2003 zur festlichen Grundsteinlegung für ein Jüdisches Zentrum am Jakobsplatz. Vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau über Innenminister Otto Schily bis hin zum bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber reichte die Liste 600 namhafter Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Eine Gruppe militanter Neonazis unter dem Namen "Kameradschaft Süd" hatte für dieses historische Ereignis ein Bombenattentat geplant und war nur dank der Informationen eines V-Mannes und intensiver Telefonüberwachung rechtzeitig aufgeflogen.
Rechtsradikalismus und Antijudaismus zwingen selbst in einer stabilen Demokratie wie dem vereinten Deutschland jüdische Gemeinden dazu, der Sicherheitsfrage größte Priorität einzuräumen. Mit dieser bitteren Tatsache wachsen schon die Jüngsten ab dem ersten Tag auf, da sie einen jüdischen Kindergarten besuchen. Personenschutz für exponierte Vertreter der jüdischen Gemeinschaft ist an der Tagesordnung. Vor diesem Hintergrund eine "Normalität der Beziehungen von Juden und Deutschen" zu fordern ist gewagt. Und gleich in mehrfacher Hinsicht. Das Sicherheitsproblem wurde schon angesprochen. Dazu kommt mit schöner Regelmäßigkeit die Ausgrenzung der jüdischen Minderheit aus der Gemeinschaft der Inländer. Man könnte das vermeiden. Man bräuchte nur, je nach Kontext, von Juden und Christen beziehungsweise Juden und Nichtjuden sprechen. Und man sollte sich nicht wundern, wenn man dann doch wieder einem jüdischen Deutschen gegenübersteht, der sich eher als Jude in Deutschland fühlt. Mit der ersehnten Normalisierung wird es noch eine Weile dauern. Das ist auch kein Wunder angesichts der Kluft zwischen dem "Davor" und dem "Danach" - und dazwischen liegt das Wissen um den Holocaust oder wie es im Hebräischen heißt, die "Shoah". Dieses Wissen ist aus der individuellen Erinnerung der Überlebenden in die kollektive Erinnerung übergegangen. "Jom HaSchoah", der jüdische "Holocaust-Gedenktag" wird in den jüdischen Gemeinden der Diaspora, so auch in Deutschland, alljährlich mit Gedenk-Gottesdiensten in den Synagogen und Vorträgen von jüdischen Zeitzeugen begangen.
Als ich 1960 in München eingeschult wurde, gab es vom ersten Tag an drei Außenseiterinnen in der Klasse: die dunkelhäutige Tochter eines US-Soldaten, ein Mädchen mit Beinschiene infolge Kinderlähmung und mich. Mein "Handicap" wurde täglich bei der Morgenandacht deutlich. Ich betete nicht mit, galt als "mosaisch", ein Begriff, der später durch "israelitisch" ersetzt wurde. Das Wort "jüdisch" wurde lange vermieden, als könnte es immer noch als Schimpfwort missverstanden werden. Worin ich mich von den anderen Kindern, die als katholisch und evangelisch registriert waren, wirklich unterschied, verstand ich nach dem ersten Wochenende meiner Schullaufbahn. Die Lehrerin wollte wissen, wie wir Kinder die freie Zeit verbracht hätten. Manche waren bei der Oma gewesen, andere hatten ihre Cousins zu Besuch gehabt oder mit ihrer Tante gespielt. Da konnte ich nicht mitreden. Mein Vater war von seiner Familie als einziger am Leben geblieben. Den Vornamen Ellen bekam ich zur Erinnerung an meine Großmutter Helene mütterlicherseits, die erschossen worden war.
Mein Name gewährt keine Rückschlüsse auf meine Konfession, doch ich arbeite in der Münchner Jüdischen Gemeinde. Da kommt gelegentlich schon die übervorsichtige Frage: "Sind Sie jüdischer Herkunft?" auf. "Nein", korrigiere ich behutsam, "ich bin Jüdin".
Der sprachliche Umgang von Nichtjuden mit Juden erinnert gelegentlich an ein Herumtappen in einem Minenfeld unpassender Wörter. Oder gedanklicher Kurzschlüsse. Dazu ein weiteres Beispiel: Der gebürtige Breslauer und deutsche Staatsbürger Ignatz Bubis wurde während seiner Amtszeit als Zentralratsvorsitzender nach seinem Staatspräsidenten gefragt. Das Interesse des Fragenden galt dem israelischen. Bei so vielen Fallstricken kann man es fast - aber nur fast - verstehen, wenn manche Zeitgenossen bei der Beschäftigung mit Jüdischem nicht weiter gestört werden möchten von lebendigen, widersprechenden jüdischen "Mit"-Bürgern. Muss denn die bei nichtjüdischen Deutschen so beliebte Klezmer-Musik mit dem Hinweis vermiest werden, sie sei keine Reminiszenz an die deutsch-jüdische Symbiose und ihr ostjüdischer Background alles andere als pittoresk gewesen? Soll man einem Pfarrer die Freude verderben, den Seder-Abend des Pesaschfestes mit seiner Gemeinde nachzufeiern - mit Knäckebrot statt Mazze und Müsli statt des Muses aus Äpfeln, Nüssen, Zimt und Rotwein, das an den Lehm für den Pyramidenbau in der ägyptischen Sklaverei erinnert?
Ich für meinen Teil werde mich jedes Mal wieder für die Rolle der Spielverderberin entscheiden. In einer Gesellschaft gleichberechtigter Bürger kann man Respekt für das Eigene fordern, so wie die andere Seite Kenntnis ihrer kulturellen und religiösen Eigenheiten erwarten kann.
Die Tatsache, dass der Nachfolger von Ignatz Bubis im Amte des Zentralratsvorsitzenden, Paul Spiegel, mit seinem Buch "Was ist koscher? Jüdischer Glaube - jüdisches Leben" 2003 einen Bestseller veröffentlichte, kann nicht über die noch immer großen Wissensdefizite hinwegtäuschen. Es wird noch viel Zeit verstreichen, bis ein selbstverständliches Miteinander - und dazu würde auch eine konstruktive Streitkultur gehören - möglich ist.
Ellen Presser ist Leiterin des Jugend- und Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde München.