Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 16 / 18.04.2005
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Reinhard Lassek

Ein Idol des Jahrhunderts nicht nur in der Wissenschaft

Vor 50 Jahren ist Albert Einstein gestorben

Das Einstein-Jahr boomt, doch angesichts des oftmals nur oberflächlich inszenierten Genie-Rummels werden erste Ermüdungserscheinungen sichtbar. Auf Dauer sind die unzähligen Versuche, Einsteins bewegtes Leben und seine epochalen physikalischen Ideen bis zur Unkenntlichkeit zu popularisieren und zu vermarkten, unerträglich. Auch Einsteins Zunge, die sich einem derzeit allerorten auf Plakaten, Zeitschriften- oder Buchtiteln entgegenstreckt, fällt eher lästig, als dass sie noch belustigen könnte. Über das bloße Klonen von Bildern und Gedanken lässt sich nun einmal kein originärer Zugang zum Leben und Werk eines so außerordentlichen Wissenschaftlers und Menschen wie Albert Einstein finden. Da bieten die anspruchsvollen Bücher von Markus Pössel und Hubert Goenner ein willkommenes Kontrastprogramm.

Pössel arbeitet als Physiker am Albert-Einstein-Institut - dem Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik - in Potsdam. Er führt Schritt für Schritt in die Gedankenwelt des großen Physikers und beginnt mit scheinbar ganz harmlosen Fragen - Wie messen wir Längen? Wie bestimmen wir Zeitpunkte? Deren Beantwortung zieht gewaltige Konsequenzen nach sich.

Ganz ohne Mathematik kommt Pössel nicht aus, was so manchen Leser verschrecken mag. Meist genügt jedoch ein intuitives Formelverständnis und die Bereitschaft zu erhöhter Konzentration, um an den Denkabenteuern der relativistischen Physik teilhaben zu können. Zudem gelingt es dem Autor, die komplexe Materie anhand zahlreicher Bilder und anschaulicher Beispiele zu durchdringen und durch manch kuriose Geschichten aufzulockern. Kapitelüberschriften wie "Raumzeitliche Ruhestörung", "Einsteins Gummiversum" oder "Blauwale im Stecknadelkopf" halten den Leser zusätzlich bei Laune.

Pössel möchte zum "kosmischen Voyeurismus" verführen und eröffnet dazu ein astronomisches Fenster nach dem anderen. Damit sind weniger Fenster von der Art gemeint, wie sie etwa Galileo Galileis Linsenfernrohr oder Isaak Newtons Spiegelteleskop aufstießen, sondern die ungleich wirksameren modernen Beobachtungstechniken - etwa hochsensible Empfangsstationen für elektromagnetische Strahlung wie Radiowellen oder gigantische Messanlagen für winzige kosmische Materieteilchen wie Neutrinos.

Welche astronomischen Fenster auch immer geöffnet werden und welche Erzählfäden Pössel dabei miteinander verspinnt, alles zielt auf Einsteins allgemeine Relativitätstheorie: Diese Theorie, so Pössel, "ist eine wahre Meisterin der Extremsituationen, die das Universum zu bieten hat, und sie revolutioniert Begriffe wie Raum und Zeit, die wir aufgrund unserer irdischen Erfahrungen längst verstanden zu haben glaubten - bevor Einstein uns zeigte, dass alles ganz anders ist, als wir dachten".

Einstein räumte ein für allemal mit Newtons Konzept eines absoluten und universellen Raum-Zeit-Begriffs auf. Seine "Weltformel" ordnete die Raumzeit des Universums neu und führte alles, was jemals beim Blick in den gestirnten Himmel über uns wahrgenommen werden konnte, einer neuen Bewertung zu. Zudem sagte Einstein ein ganz neuartiges kosmisches Fenster voraus. Gemeint ist mit diesem "Einstein-Fenster" der bislang noch ausstehende Nachweis sogenannter Gravitationswellen - Störungen der Raumgeometrie, die sich wellenartig durch das All fortpflanzen.

Im Schlusskapitel wird daher ausführlich über den Bau von Hochpräzisionsgeräten berichtet, mit deren Hilfe es möglicherweise schon bald gelingen könnte, einen ersten Blick auf jenes unvergleichliche Einstein-Panorama zu werfen: "Wer das leise Wellenflüstern belauschen kann, das aus der heißen Kinderzeit unseres Universums übrig geblieben sein sollte", so Pössel, "kann damit weiter in die Vergangenheit des Kosmos vordringen als je zuvor".

Wem Pössels gediegenes Buch trotz aller Anschaulichkeit Kopfschmerzen bereitet, weil die Relativitätstheorie auch nach einem Jahrhundert der experimentellen Beweise und fortgesetzten Ringens um sinnliche Veranschaulichung immer noch einen Angriff auf den "gesunden Menschenverstand" bedeutet, der findet im Buch von Hubert Goenner ideale Entlastung. Der Göttinger Professor für Physik eröffnet nämlich ein ganz anderes Einstein-Fenster, indem er Einblicke in Einsteins Berliner Jahre gewährt.

Einstein lebte seit April 1914 in Berlin. Er wollte eigentlich Ende März 1933 nach einem USA-Aufenthalt wieder in seine Stadtwohnung und in sein geliebtes Sommerhaus in Caputh bei Potsdam zurückkehren. Doch der "geistlose Wahn des Nationalsozialismus mit seinen Hassern und Schlägern", so Goenner, bewirkte, dass sich Einstein nach Monaten des Wartens in Belgien und England für den Rest seines Lebens im amerikanischen Princeton niederließ.

Goenner offenbart frappierende Parallelen zwischen dem eigenwilligen Physiker und der quirlig-eigensinnigen Reichshauptstadt. Während der "Goldenen Zwanziger" wurde Berlin zur "Hochburg der Moderne" und Einstein zum herausragenden Idol des 20. Jahrhunderts. Doch dem Aufstieg folgte beidemale der Niedergang: Berlin verfiel unter dem Nazi-Terror in die kulturelle Mittelmäßigkeit, und Einstein konnte nie mehr an seine besten Jahre als Physiker anschließen. Er wandelte sich in Princeton zum "wissenschaftlichen Einsiedler, der eher seiner politischen und ethischen Erklärungen wegen geachtet, als wegen seiner Forschungsergebnisse wahrgenommen wurde".

Goenner zieht diese Parallele allerdings mit Augenmaß. So behauptet er weder, dass Berlin durch Einstein geprägt wurde, noch dass Einstein je hätte sagen wollen "Ich bin ein Berliner". Doch die Verbundenheit Einsteins mit dieser Stadt und manchen ihrer Menschen und Institutionen wird in dieser zwei Jahrzehnte umfassenden biographischen Skizze sehr deutlich. Einsteins Leben wird dabei vornehmlich im Spiegel seiner Zeitgenossen betrachtet und mit Hilfe des kulturellen, sozialen und politischen Umfelds ausgeleuchtet.

Goenner geht auf Einsteins vielfältige Kontakte und Verbindungen mit Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern ein. Er berichtet, wie Einstein von seinen Zeitgenossen eingeschätzt wurde, wie er als Magnet auf die größten Köpfe seiner Zeit wirkte und dennoch keinen wirklichen Zugang etwa zur Hochfinanz, zur Großindustrie und Aristokratie fand. Der weltberühmte Physiker war oft nur ein gern geladener "Vorzeigegast". Dafür gewann Einstein in Berlin erstmals Zugang zur jüdischen Identität - im Sinne einer "nichtreligiösen, ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit".

Auch die Widersprüche und dunklen Seiten Einsteins werden nicht ausgespart. Gemeint ist Einsteins "bescheidenes, freundliches, aufgeschlossenes Wesen und sein zeitweilig herrisches, gefühlsarmes Auftreten gegenüber seinen beiden Ehefrauen und seinen Kindern". Goenner gelingt es, Einstein und die Menschen, die mit ihm zusammen in Berlin gelebt haben, in die faszinierende Kulturgeschichte einer Stadt und einer Epoche einzubinden. Er entwirft mit vielen nirgendwo sonst zusammengetragenen Einzelheiten ein realistisches und respektvolles Bild von Einstein in Berlin. Es ist ein großes Verdienst des Autors, dass diese biographische Annäherung an den "neuen Newton" ebenso zu fesseln vermag wie Einsteins wissenschaftliche Theorien. Egal wie viel oder wie wenig man zuvor schon über Einstein gelesen hat, diese Lektüre ist ein großer Gewinn.


Markus Pössel

Das Einstein-Fenster. Eine Reise in die Raumzeit.

Hoffmann und Campe, Hamburg 2005; 331 S., 30,- Euro


Hubert Goenner

Einstein in Berlin 1914 - 1933.

Verlag C. H. Beck, München 2005; 360 S., 22,90 Euro


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