Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 30 - 31 / 25.07.2005
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Andreas Schleicher

Das Kapital "Wissen" muss ständig erneuert werden

Schule 2020: Auf Herausforderungen der nächsten Jahre reagieren

Bei der Gestaltung von Bildungsreformen müssen wir den Blick über die vielen zu lösenden Alltagsprobleme hinweg, 15, 20 Jahre nach vorne richten, und strategische Perspektiven für Bildungsreformen schaffen. Was wissen wir über die Zukunft? Wenig, aber einige Rahmenbedingungen sind absehbar. So ist absehbar, dass die Zahl der Menschen im erwerbstypischen Alter in Deutschland von 40 Millionen auf 30 Millionen sinken wird. Vor diesem Hintergrund können wir uns es nicht mehr leisten, dass ein beträchtlicher Anteil junger Menschen, vor allem Kinder aus sozial benachteiligtem Umfeld, sein Bildungspotenzial nicht ausschöpft.

Als Folge prognostiziert das Deutsche Institut für Wirtschaft, dass Deutschland um das Jahr 2020 jährlich eine Million Migranten integrieren müsste, allein um die Größe der erwerbstätigen Bevölkerung zu sichern. Erinnern wir uns hier noch einmal an die PISA-Resultate, die zeigen, wie schwer es dem deutschen Bildungssystem fällt, junge Menschen aus anderen nationalen, gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhängen zu integrieren. Weiterhin können wir davon ausgehen, dass sich die industrielle Produktion in den OECD-Staaten bis zum Jahr 2020 noch einmal verdoppeln wird. Entscheidender aber ist, dass der Anteil der in der industriellen Produktion Beschäftigten bis dahin auf rund ein Zehntel schrumpfen wird. Den Rest werden "Wissensarbeiter" bilden, deren "Kapital", ihr "Wissen", schnell veraltet.

Weder abstrakt noch unrealistisch

Unsere Bildungssysteme müssen diese Menschen daher nicht nur mit solidem Fachwissen ausstatten, sondern in erster Linie mit der Fähigkeit und Motivation zu lebensbegleitendem Lernen. Das setzt voraus, dass der Einzelne motiviert ist, ständig dazuzulernen, mit den erforderlichen kognitiven und sozialen Fähigkeiten ausgestattet ist, um eigenverantwortlich zu lernen, Zugang zu geeigneten Bildungsangeboten hat und schließlich entsprechende kulturelle Anreize findet, um weiterzulernen. Daran, nicht an der Reproduktion von Fachwissen, wird man den Erfolg zukünftiger Bildungsanstrengungen beurteilen. Das stellt an zukünftige Bildungsreformen hohe Anforderungen. Traditionell lernen Schüler im Rahmen von Lehrplänen, die Bildungsinhalte detailliert festschreiben. Maßstab für Erfolg ist dann die Akkumulation von Fachwissen, nicht die Verankerung von anschlussfähigem Wissen und die Vermittlung von effektiven Lernstrategien. Die Zukunft braucht Schulen, die sich an strategischen Bildungszielen orientieren, und Lehrer, die diese Ziele verbindlich und individuell in Lernmethoden für den einzelnen Schüler umsetzen können; das heißt Lernpfade individualisieren und Schüler dabei unterstützen, durch eigenständiges Denken und Handeln selbstständig und kooperativ zu lernen. Nur wer klare Erwartungen hat, diese in Form von strategischen Bildungszielen formulieren und den Entscheidungsträgern und Handelnden - also Schulen, Lehrern, Schülern und Eltern - auch vermitteln kann, der wird in Zukunft Leistungsbereitschaft erfolgreich einfordern können.

Traditionell benutzen wir Klassenarbeiten und Zensuren zur Kontrolle, etwa um Leistungen zu zertifizieren und den Zugang zu weiterer Bildung zu rationieren. Die Zukunft aber braucht moderne Evaluation und motivierende Leistungsrückmeldungen, die Vertrauen in Lernergebnisse schaffen und mit denen Lernpfade entwickelt und begleitet werden können. Gegenwärtig setzt das deutsche Bildungssystem auf frühe Auslese im Rahmen des dreigliedrigen Schulsystems; und damit verbunden, auf einförmigen Unterricht in leistungshomogenen Lerngruppen. Die Zukunft dagegen wird auf einem konstruktiven und individuellen Umgang mit Leistungsunterschieden und Begabungen gründen, mit dem Ziel, Schülern durch individuelle Förderung Perspektiven für die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft zu eröffnen.

Schließlich sind Lehrer und Schulen in Deutschland oft nur die letzte ausführende Instanz eines komplexen Verwaltungsapparates. In Zukunft wird sich die Relevanz und Effizienz dieses Verwaltungsapparates, ob Kommunen, Länder oder Bund, daran messen müssen, wie gut sie die Schulen bei dem Erreichen gemeinsam vereinbarter Bildungsziele unterstützen und welchen zusätzlichen Wert sie selber schöpfen, das heißt, über das hinaus leisten, was die Schule als selbstständige und pädagogisch verantwortliche Einheit leisten kann.

System optimieren

Ist eine zukunftsorientierte Bildung angesichts der enttäuschenden PISA-Ergebnisse eine abstrakte unrealistische Vision? Nein, die Erfahrungen vieler Staaten - aber auch vieler erfolgreicher deutscher Schulen - zeigen, dass eine hohe Qualität von Bildungsleistungen sowie eine ausgewogene Verteilung von Bildungschancen durchaus in überschaubaren Zeiträumen erreicht werden können. Notwendig dazu aber ist, über die Optimierung des bestehenden Bildungssystems hinaus auch über die Transformation der dem eigenen Bildungssystem zugrunde liegenden Schul- und Systemfaktoren nachzudenken. Davon bleibt der bildungspolitische Diskurs in Deutschland trotz vieler Reformen weit entfernt.


Der Autor ist PISA-Koordinator für Deutschland bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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