Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 43 / 24.10.2005
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Godrun Gaarder

Eine neue Etappe für Norwegen

Ungewohnt: Regieren mit der Mehrheit im Rücken

Seit dem 17. Oktober hat Norwegen, eines der reichsten Länder in Westeuropa, eine neue verjüngte Regierung. Das Land hat damit auch erstmalig seit 20 Jahren wieder ein Kabinett mit einer Mehrheit der Sitze im Storting, dem norwegischen Parlament, hinter sich. Viele der verschiedenen Koalitionen der vergangenen Jahre, so auch die letzte bürgerliche Regierungskoalition unter Kjell Magne Bondevik (Christliche Volkspartei), hatten keine parlamentarische Mehrheit hinter sich und waren laufend auf das Aushandeln von Kompromissen nach links und rechts angewiesen.

Voraussetzung für diese Arbeitsweise ist vermutlich die Verhandlungskunst und Ausdauer nordischer Politiker. Das Ergebnis: eine eigene pragmatische politische Kultur des Willens zum Konsensus. Die Parteienlandschaft ist durch viele kleine Parteien zersplittert und war lange Zeit auch noch durch Lagerdenken beeinflusst. Daher blieb als Alternative oft nur die Kompromiss- und Verhandlungsbereitschaft über die jeweiligen Lagergrenzen hinweg. Die Ergebnisse der jüngsten Minderheitsregierungen können sich sehen lassen.

Die Sozialdemokraten (AP) sind grösste Partei in Norwegen, bisher wollten sie allerdings nicht koalieren. Vor der diesjährigen regulären Parlamentswahl am 12. September hatte der sozialdemokratische Parteichef Jens Stoltenberg (46) die Bildung einer mehrheitsfähigen Regierung in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes gestellt, nachdem er sich mit zwei kleineren Parteien, der Sozialistischen Linken (SV) und der linksbürgerlichen Zentrumspartei (SP) über eine mögliche zukünftige Regierungszusammenarbeit verständigt hatte. Nur über eine Mehrheit könne Entscheidendes bewegt werden, sagte er. Der norwegische Wähler gab dieser bisher unerprobten Konstellation zwischen ungleichen Partnern grünes Licht. Somit sind aus dieser Wahl die Sozialdemokraten mit 34,5 Prozent der Stimmen eindeutig als Sieger hervorgegangen. Die bisherige Regierungskostellation aus Christlicher Volkspartei, Konservativen (Høyre) und Liberalen (Venstre) musste das Ruder übergeben. Die AP stellt jetzt die weitaus stärkste Fraktion im norwegischen Storting.

Die nunmehr gebildete linke Koalition unter Leitung von Jens Stoltenberg stellte sich am 17. Oktober erstmalig vor dem Schloss in Oslo dem Volk vor. Eine Besonderheit dieser Regierung: Die Hälfte der Kabinettsmitglieder sind Frauen. Zunächst hatte traditionell König Harald VII. die bisherige Regierung verabschiedet und die neue ernannt.

Das Kernziel des sozialdemokratischen Parteivorsitzenden und jetzigen Regierungschefs Stoltenberg war es, seine Partei nach Jahren der Bedeutungslosigkeit an die Führungsspitze des Landes zurückzubringen und so an längere Perioden in der Nachkriegszeit anzuknüpfen. Damals ging es um den Aufbau des Landes, heute um die Verteilung des Reichtums, der etwa aus der Produktion und dem Verkauf der Öl- und Gasvorkommen herrührt. Es geht aber auch um Umverteilung zwischen Arm und Reich.

17 Tage lang hatten die Koalitionsparteien im Märchenschloss Soria Moria, einem grossen Holzbau in den vom Trubel der Hauptstadt fern abgelegenen Wäldern des Holmenkollen, beraten und verhandelt. Eine gemeinsame und tragfähige politische Plattform musste her, wie auch eine Übereinkunft über die Verteilung der Ministerposten zwischen Parteien, deren Regierungszusammenarbeit man bisher nicht für möglich gehalten hatte. Begonnen hatten die Verhandlungen mit einem ausgiebigen Abendsessen. "Man muss zunächst einmal eine gute Atmosphäre schaffen", hiess es. Das ist offenbar gelungen, denn die Standpunkte lagen zum Teil weit auseinander.

"Von jetzt an wird eine neue Etappe für Norwegen eingeleitet", verspricht der neue Regierungschef. Sowohl der Inhalt in der Politik werde sich dauerhaft verändern wie auch die Form des Regierens. Aufgrund der parlamentarischen Mehrheit werde eine klarere und stabile Politik betrieben werden können, es werde mehr Verlässlichkeit geben und auch ein neues Demokratieverständnis. Man wolle weg von neoliberalem Denken und hin zu mehr Gemeinschaftsgeist, öffentlichem Engagement und Solidarität mit den schwachen Gruppen im eigenen Land und in anderen Staaten. Dem taktischen politischen Spiel zwischen Parteien unterschiedlicher Weltanschauung sei jetzt erst einmal ein vorläufiges Ende gesetzt, meinte Stoltenberg. Und nicht zuletzt: "Diese Regierung ist keine Zwischenlösung."

Die norwegischen Kommentatoren bestätigen die historische Dimension dieser linken Dreierkoalition. Zusätzlich zu der Tatsache, dass man seit langem wieder mit Mehrheit im Rücken regieren kann, ist die Zusammensetzung dieser Regierung aussergewöhnlich. Die Sozialistische Linke (SV) brach vor etwa 40 Jahren mit ihrer früheren sozialdemokratischen Mutterpartei und ging ihre eigenen Wege. Die Ursache war damals vor allem die Ablehnung der NATO-Mitgliedschaft Norwegens. Bis vor kurzem galt auch als undenkbar, dass die Sozialdemokraten mit der Linken koalieren würden. Trotz weiterer gegensätzlicher Auffassungen, vornehmlich in der Außen- und Sicherheitspolitik haben sich die Wogen inzwischen geglättet. Für diese Partei waren die Koalitionsverhandlungen am schwierigsten, weil man einige Steckenpferde aus Oppositionszeiten an den Nagel hängen musste. Die NATO-Mitgliedschaft Norwegens wird inzwischen toleriert. Spannungen in der Koalition sind allerdings in Anbetracht der weltpolitischen Lage nicht ausgeschlossen.

In den ersten Kommentaren ist von einem breit angelegten Geben und Nehmen die Rede. So hat die Parteivorsitzende von SV, Kristin Halvorsen (45), das gewichtige Finanzministerium zugebilligt bekommen - eine enorme Verantwortung in Anbetracht der vielen Wünsche und Versprechungen, wie auch der Versuchung, die Milliardenreserven aus dem Reichtum an Naturschätzen auf Kosten der kommenden Generationen anzuzapfen. Hierbei das notwendige Augenmaß zu halten, ist die schwierigste Aufgabe für norwegische Politiker überhaupt, insbesondere für die Finanzministerin.

Die Partei, die neben den Sozialdemokraten besonders zufrieden sein kann, ist die linksbürgerliche Zentrumspartei (SP). Sie hat eine Reihe ihrer Ziele durchsetzen können, die sich vornehmlich in der bewussten Berücksichtigung der weit vom Zentrum und der Hauptstadt entfernt liegenden Randgebiete Norwegens bündeln. In dem großflächigen Land mit dünner Besiedelung ist eine staatlich gelenkte Regionalpolitik mit entsprechender finanzieller Förderung Voraussetzung für das Überleben der periphären Siedlungen und Arbeitsplätze.

Bei der Verteilung von Kabinettsposten ist die Zentrumspartei (6,6 Prozent der Stimmen) gut weggekommen. Sowohl das Ministerium für kommunale Fragen und den ländlichen Raum, das Landwirtschaftsministerium als auch das Öl- und Energieministerium und das Verkehrsministerium gehen an diese Partei, die bisher ihre Regierungserfahrung mit Partnern aus dem bürgerlichen Lager gesammelt hat. Vor dieser Wahl wurde eine historische Entscheidung der Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten getroffen, weil man mit den anderen bürgerlichen Partnern im eher konservativen Lager aufgrund angeblich neoliberaler Politik "nicht mehr konnte".

Die politischen Meinungsverschiedenheiten bei innenpolitischen Fragen, wie die grundsätzliche Bereitschaft zur Umverteilung des hiesigen öffentlichen Reichtums und der Ausbau des Wohlfahrtsstaates durch gezielte Unterstützung von jungen Familien, konnten offenbar etwas leichter überwunden werden als die Aufgabe jeweiliger politischer Steckenpferde in der Außen- und Sicherheitspolitik, der Umweltpolitik und der Energiepolitik. Ein ganz dicker Brocken wurde von vornherein beiseite geräumt, nämlich eine eventuelle Neuauflage einer Entscheidung über die zukünftige EU-Mitgliedschaft. Sie wird in dieser Legislaturperiode nicht auf die Tagesordnung kommen, sonst platzt die Regierung. Für die beiden kleineren Koalitionspartner, beide vehemente Gegner einer weiteren formalen Anbindung des Landes an die EU, war diese Verpflichtung eine Voraussetzung für ihre Beteiligung an dem Regierungsprojekt des Sozialdemokraten Stoltenberg. Dieser hat in seiner Partei beide Auffassungen zu berücksichtigen.

Die Außen- und Sicherheitspolitik wird aus derzeitiger Sicht ohne radikale Veränderungen in der bisherigen Spur gehalten werden. Das gilt auch für die bilaterale Politik gegenüber europäischen Partnern, aber auch für das norwegische Engagement gegenüber den Vereinten Nationen und der NATO. Die Regierungserklärung unterstreicht an verschiedenen Stellen auffällig stark die Bedeutung von Beschlüssen der UNO als Voraussetzung für die Lösung internationaler Konflikte. Die UNO war allerdings schon immer wichtige Verankerung norwegischer Außenpolitik. Der neue Außenminister, Jonas Gahr Støre (45), ist ein sehr erfahrener Beamter, der führende Positionen, unter anderem im Büro der früheren Regierungschefin Gro Harlem Brundtland und bei Jens Stoltenberg, inne hatte und auch internationale Erfahrung mitbringt.

Im Energiebereich steht eine Reihe von Entscheidungen grundsätzlicher Art an. Im Hohen Norden, vornehmlich in der Barentssee, geht es um die Frage, wie schnell und umfangreich in Zukunft weiter nach Öl und Gas gesucht und wie viel und wie schnell produziert werden soll. Norwegen steht als wichtiger europäischer Energielieferant unter geopolitischem Druck beim Wettlauf um die Energieversorgung Europas. Es geht für norwegische Politiker darum, die eigene Position langfristig nach allen Seiten zu behaupten.

Neben den strategischen Herausforderungen, bei denen das Land auch Alliierte braucht, stehen Abwägungen zwischen Wirtschaft und Umwelt auf der Tagesordnung. Die Umweltorganisationen bringen im Falle eines erhöhten Explorationstempos im Hohen Norden erhebliche Bedenken gegen die Gefahr von Umweltkatastrophen vor und wollen ein erhöhtes Engagement verhindern. Ein weiterer Punkt ist der schon lange schwelende grundsätzliche Streit um den Bau von Gaskraftwerken in Norwegen. Dieser kann jetzt als beigelegt angesehen werden. Die Koalitionspartner haben sich auf die Vergabe von öffentlichen Mitteln für eine Co2-Reinigungsanlage verständigt.

Es gibt also viel zu tun in Norwegen. Der politische Alltag wird vermutlich nicht so rosig werden wie es der Auftritt der fröhlichen Koalitionäre vor dem Märchenschloss am Holmenkollen andeutete.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.