III. Das kaiserliche Deutschland
6. Die Parteien im Kaiserreich
Das Reich von 1871 ist ein nationalmonarchischer Obrigkeitsstaat. Seine Verfassung ist auf die Person des Reichskanzlers zugeschnitten, der bis 1918 gewohnheitsrechtlich fast immer auch als preußischer Ministerpräsident amtiert und folglich den Regierungs- und Verwaltungsapparat beherrscht: die Reichsbehörden, an deren Spitze weisungsgebundene Staatssekretäre stehen, den Bundesrat, in dem die preußische Vormachtstellung den Ausschlag gibt, das preußische Staatsministerium, in dem Bismarck und die meisten seiner Nachfolger den Vorsitz führen. Der Reichstag geht zwar aus allgemeinen, geheimen, gleichen und direkten Wahlen hervor, an denen alle über 25 Jahre alten Männer teilnehmen dürfen, doch beschränkt sich sein direkter Einfluss - trotz seines wachsenden Ansehens - im Wesentlichen auf das Gebiet der Gesetzgebung.
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Die im Reichstag vertretenen Parteien repräsentieren vornehmlich diejenigen gesellschaftlichen Kräfte, deren Interessen mit den Zielen der weltanschaulich-politischen Hauptströmungen jener Zeit - dem Liberalismus, dem Konservatismus, dem politischen Katholizismus und dem Sozialismus - am ehesten übereinstimmen. Die Linksliberalen gelten als Arm des Handelskapitals, finden aber im gewerblichen Mittelstand und unter den Bildungsbürgern ebenfalls Anhänger, die Nationalliberalen vertreten hauptsächlich die Schwerindustrie, werden jedoch auch von Teilen des Bildungsbürgertums und des agrarischen Mittelstands unterstützt, die Konservativen sind in erster Linie den Interessen der Großagrarier verpflichtet und die Sozialdemokratie tritt für die Ziele der Arbeiterschaft ein. Neben einer Reihe regionaler und nationale Minderheiten repräsentierender Parteien entzieht sich lediglich das Zentrum einer sozialen Zuordnung: Es wird durch die katholische Konfession zusammengehalten.
Die Verfassung lässt den Fraktionen nur die Wahl zwischen Regierungstreue und Opposition. Da die Reichsleitung unabhängig vom Vertrauen des Parlaments agieren kann und regierungsfreundliche Mehrheiten keinen unmittelbaren Anteil an der Regierungsmacht nach sich ziehen, fehlt ihnen letztlich der Anreiz, stabile Koalitionen einzugehen und konsensfähige Leitlinien zu entwickeln. Auch nährt die Kluft zwischen Exekutive und Legislative eine parteiübergreifende oppositionelle Grundhaltung des Reichstags gegenüber der Reichsleitung, die sich noch in der Weimarer Republik verhängnisvoll auswirken soll.