Die deutschen Universitäten - und nicht nur sie - haben in den vergangenen Jahrzehnten deutlich an Reputation und Autorität verloren. Die Ursache dieser Entwicklung liegt einerseits in der dramatischen Unterfinanzierung der Hochschulen. Diese Mittelknappheit hat vielfach zu einem inneruniversitären Klima geführt, in dem intensive geistige und persönliche Kommunikation als Grundlage wissenschaftlicher und kultureller Kreativität nur noch schwer gedeihen können.
Andererseits haben es die Hochschulen selbst weitgehend unterlassen, ihrerseits nicht nur über den Mangel an Geld zu klagen, sondern auch grundsätzlich über ihre Aufgabe und ihren Ort in der gegenwärtigen und künftigen Weltgesellschaft öffentlich nachzudenken und Rechenschaft zu geben. Stattdessen akzeptieren sie vielfach die Forderung, ihre Qualität vornehmlich an schnell und quantitativ ablesbaren finanziellen Erfolgen - von der Drittmitteleinwerbung über Unternehmensgründungen bis zur Notierung an der Börse - auszuweisen beziehungsweise sich vor allem im Blick auf den jeweils aktuellen Arbeitsmarkt und die Stellung Deutschlands oder Europas im weltweiten ökonomischen Wettbewerb zu bewähren.
Unter diesem kurzfristig wirtschaftlichen Aspekt wird in der Öffentlichkeit auch häufig die zukünftige Bedeutung und Funktion der Hochschule in der Forschung gemessen - schließlich wird inzwischen geradezu gebetsmühlenartig darauf hingewiesen, dass wir in einer Wissensgesellschaft angekommen seien. Wissen ist nach diesem Argument der Rohstoff gegenwärtigen wie künftigen Reichtums und ein Unterpfand des nationalen wie europäischen Erfolgs im globalen Konkurrenzkampf.
Die modernen Medien bieten dieser Sicht zufolge in so genannten "virtuellen Universitäten" ungeahnte Chancen, studentische "Kunden" kommerziell, flächendeckend, effektiv und flexibel mit diesem Wissen zu versorgen. Dabei wird auch die Frage aufgeworfen, ob die herkömmliche, an einen Ort und an gemeinsame Zeiten gebundene Hochschule noch eine Zukunft hat. Welche Aufgabe hat die Universität angesichts der zum Teil unabsehbaren Herausforderungen der Zukunft, angesichts ökonomischer Zwänge und multimedialen Wettbewerbs?
Zentrale Funktion
Traditionsgemäß oblag der Hochschule in Forschung und Lehre die methodisch und methodologisch reflektierte Suche nach Wahrheit. Darauf bauten Bildung und Ausbildung der jeweils nachfolgenden Generation auf, oft de facto im Dienst des Staats und der bürgerlichen Professionen. Die Universität übte auf diese Weise - neben der Kirche, kulturellen Institutionen und öffentlichen Medien - immer eine zentrale kulturelle und politische Funktion aus, weil sie so spätestens seit der Neuzeit die Verständigungs- und Handlungsgrundlage der Bürger schuf.
Prinzipiell gilt dies auch heute, allerdings tritt gegenwärtig in der öffentlichen Debatte die kulturelle Aufgabe der Hochschule deutlich hinter ökonomisch-instrumentellen Zwecken zurück - zum Schaden nicht nur der Universitäten, sondern zugleich der Zukunftsfähigkeit moderner freiheitlicher Gesellschaften. Denn diesen stehen zunehmend komplizierte Herausforderungen bevor, die sie nur dann freiheitlich, also orientiert an der Würde des Menschen, bestehen können, wenn auch die Hochschulen weltweit zur Verständigungsfähigkeit der Menschen beitragen. Die Figur des Zauberlehrlings wird unsere Alltagsmetapher.
Wir wissen und können immer mehr und müssen uns über die Disziplingrenzen hinweg mit Blick auf historische und weltweite Erfahrungen über kreative und bekömmliche Entscheidungen verständigen: Wie beeinflussen wir unsere natürliche Umwelt so, dass sie uns allen letztlich erhalten bleibt? Wie gehen wir mit dem kaum noch überschaubaren wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt um? Wie schaffen wir die Grundlage für ein friedliches Überleben? Wie bestimmen wir die Grenze zwischen Leben und Tod? Wie verhindern wir in der sozialen Welt ebenso wie in praktischen Folgerungen aus den Biowissenschaften die prinzipielle, allmähliche und alltägliche Instrumentalisierung der Menschen? Wo finden wir in einer pluralistischen Welt gemeinsame Grundlagen für unsere normativen Orientierungen?
Verständigungsfähigkeit über diese Fragen, die uns alle im Zentrum unserer materiellen und psychischen Existenz betreffen, meint sowohl das kognitive Verstehen der sachlichen Zusammenhänge als auch den Willen, zu einem freiwilligen Einvernehmen zu gelangen. Zu den kognitiven Elementen gehören die Natur- wie die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, weil diese Zweige nur zusammen die Grundlage für die sachgemäße und normative Beurteilung unserer Probleme bieten.
Die Universitäten tragen dann zur dringend benötigten Verständigungsfähigkeit bei, wenn sie in Forschung und Lehre ihrer historischen Aufgabe der methodisch und methodologisch reflektierten Wahrheitssuche treu bleiben. Eine solche Reflexion verlangt Selbstdisziplin und Selbstrelativierung, die Einsicht in die Voraussetzungshaftigkeit und damit auch in die Begrenztheit allen Wissens.
Wir sind auf offene und neugierige Kommunikation untereinander angewiesen, wenn wir uns nicht in perspektivischer Borniertheit verlieren wollen. Wer keine andere als die soziologische, die physikalische, die wirtschaftswissenschaftliche oder die biologische Sprache kennt, entwickelt keinen Sinn für die verschlungenen Zusammenhänge der Wirklichkeit und auch nicht für die Notwendigkeit, die anstehenden Probleme mit anderen gemeinsam anzugehen.
Aus dieser Erkenntnis folgt nicht nur für die Lehre, sondern auch für die Forschung die anhaltende Bedeutung von Bildung, wie sie in der Aufklärung entfaltet wurde: nicht als handliches, prestigesicherndes Gut des "Bildungsphilisters", sondern als andauernde Anstrengung, mit der die Person die Welt erkennt, sich um eine moralische Orientierung bemüht und demgemäß verantwortlich handelt. Auch die politische Komponente des aufklärerischen Bildungsverständnisses behält ihre Bedeutung, ja sie gewinnt an Gewicht.
Denn freiheitliche Politik - also die argumentative Übereinkunft über Fragen, die umstritten sind, uns aber alle betreffen - wird unter der Bedingung vor allem der wirtschaftlichen Globalisierung immer schwieriger. Politik ist zu ihrer Legitimation an einen umgrenzten Raum gebunden, den die Globalisierung prinzipiell überschreitet.
Deshalb wird es erforderlich, dass erheblich mehr Bereiche von den Bürgern selbsttätig und einvernehmlich geregelt werden - so dass die genuin politischen Entscheidungsgremien auf regionaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene entlastet werden. Die Bürger für die Wahrnehmung dieser Aufgabe zu befähigen, ist eine erstrangige Aufgabe der Hochschulen, die deshalb auch nicht einer kleinen Elite vorbehalten bleiben dürfen. Die moderne freiheitliche Gesellschaft eignet sich nicht zur Hammelherde.
Diese Einsicht hat Folgen nicht nur für die Bildung, sondern auch für die universitäre Forschung. Wenn die Hochschule auf diese Weise wesentlich zur Überlebensfähigkeit einer freiheitlichen Gesellschaft beitragen will, darf sie sich nicht einfach ökonomischen Renditezumutungen - nationalen wie internationalen - unterwerfen. Denn der Zeithorizont wirtschaftlicher Logik ist zu eng. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass "zweckfreie" Grundlagenforschung die besten Chancen in sich birgt, Lösungen für unvorhersehbare Probleme anzubieten und insofern auch praktisch, ja ökonomisch fruchtbar zu werden.
Notwendige Konsequenzen
Der "Zufall" der menschlichen Neugier hilft der Menschheit mehr als das notgedrungen kurzsichtige Kalkül der Wirtschaftlichkeit. Deshalb bleiben Universität und Forschung eine öffentliche Aufgabe. Für die künftige Ausrichtung der Forschung ergeben sich mehrere Konsequenzen:
- Die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sind für unser Überleben, für die sinnvolle und "verständige" Nutzung natur- und ingenieurwissenschaftlicher Forschungsergebnisse ebenso wichtig wie diese selbst. Unsere Informationen und unser Wissen werden sich weiter exponenziell steigern. Einen vernünftigen Umgang mit diesem enormen Wissenszuwachs zu finden, wird für die Individuen wie für die Gesellschaften immer wichtiger. Helfen können jene Wissenschaften, die den Menschen als Kulturwesen untersuchen und dessen Erfahrungen wie Möglichkeiten systematisch durchdringen.
- Die Verständigung zwischen diesen beiden wissenschaftlichen Grundausrichtungen wird immer dringlicher, in der Forschung wie in der Lehre. Das braucht Zeit. Der unbedachte Ruf nach zusehends kürzeren Studienzeiten führt zu struktureller Borniertheit, geistiger Manipulierbarkeit und damit Verantwortungslosigkeit. Die Basis einer wissenschaftlich zweifelnden offenen Geisteshaltung muss sorgfältig gelegt werden, damit verantwortliche Berufstätigkeit und spätere Weiterbildung fruchtbar werden können.
- Zudem geht es darum, die Grenzen zwischen Universität und Lebenswelt durchlässiger zu machen. Die Anforderungen an die Forschung sollten nicht nur aus dem wissenschaftlichen Diskurs oder aus der wirtschaftlichen Verwertbarkeit heraus formuliert werden, sondern auch mit Hilfe der Erfahrungen der Zivilgesellschaft und unabhängiger Nichtregierungsorganisationen.
- Forschung gehört wieder mehr an die Hochschule und dort in einen engeren wechselseitigen Zusammenhang mit der Lehre.
Die klassische Aufgabe einer Universität, von der Innovationen ausgehen, liegt in der Problematisierung des Gängigen, des scheinbar Selbstverständlichen. Am günstigsten dafür ist nach wie vor das gültige Humboldtsche Modell. Dieses Konzept gründet auf Personen, die gemeinsam der Wissenschaft verpflichtet und an Wahrheit - nicht nur an Nützlichkeit! - interessiert sind: Sie gehen aus von dem jeweiligen Universum, das sich in ihren Köpfen (häufig unrefektiert) gebildet hat, knüpfen daran gegenseitig an, nehmen sich dazu aufmerksam wahr und bilden so eine Gemeinschaft von eigenständig Forschenden - deren Zusammenspiel erst den Reichtum erschließt, der sich in ihren Köpfen findet. Universitäten müssen, wenn auch unter ganz anderen Bedingungen als im 19. Jahrhundert, erneut zu Orten solcher Wahrheitssuche und kultureller Verständigung werden.
Gesine Schwan ist Professorin für Politikwissenschaft und derzeit Rektorin der Universität Frankfurt (Oder) "Viadrina".