Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 05-06 / 02.02.2004
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Ursula Homann

Ein gewöhnliches Ereignis?

Nachkommen des Holocaust

Kinder von Holocaust-Überlebenden mussten oft Großeltern und andere Verwandte entbehren, da diese die Nazis ermordet hatten. Einige von ihnen kamen auf die Idee, sich Verwandte zu erfinden. So auch der Ich-Erzähler in Amir Gutfreunds Roman "Unser Holocaust". Allerdings nahmen er und seine Altersgenossen es mit der selbst geschaffenen Verwandtschaft nicht allzu genau. Alle, die das entsprechende Alter hatten, wurden "Onkel" und "Tante" genannt, ihre Kinder "Cousins" und "Cousinen". Dabei wurden durchaus auch gewisse Regularien beachtet. Die Generationen mussten einander ungefähr dasselbe Gefühl von Nähe entgegenbringen.

Die Kinder benötigten vor allem Großeltern. Deshalb sammelten sie so viele Großeltern ein, wie sie nur konnten. Für den Vater des eigenen Vaters erkor sich der Ich-Erzähler dessen Neffen Lolek und Cheinek zu Großvätern. Ähnlich verfuhr er mit den Verwandten der Mutter. Ihrem Vater, dem kranken Großvater Schalom, dem Letzten aus der Holocaust-Generation, der durch eine von der Gestapo ausgelöste Krankheit vor sich hin vegetierte, stellte man einen entfernten Verwandten als Verstärkung zur Seite, Großvater Menasche. Bei anderer Gelegenheit erwarben die Kinder noch Großvater Ernst, Großmutter Eva und Großvater Will. Der wichtigste war zweifellos Großvater Josef, der jeden aufkommenden Streit zu schlichten verstand. "Hauptsache keinen Streit, ihr Juden", hieß seine Devise.

In dem Viertel, in dem Großvater Josef mit seiner Frau Feijge und anderen Überlebenden wohnte, war die vergangene Tragödie allgegenwärtig. Zu Hause verlief das Leben dagegen normal. Waren doch die Eltern während des Nazi-Terrors jung genug gewesen, um sich hinterher wieder zu "berappeln".

Letztlich hatte der Holocaust zwei Erscheinungsformen: der eine wurde bei Feierstunden in der Schule beschworen und bestand aus Fackeln, schwarzer Pappe und sechs Millionen. Der andere war der familieninterne Holocaust, der nicht die sechs Millionen, aber einen kleinen Personenkreis umfasste, den man kannte. Doch eine wichtige Regel musste die nachkommende Generation beherzigen. Sie musste warten, bis sie alt genug war, ehe sie die schrecklichen Dinge, die den Älteren widerfahren waren, zu hören bekam. Schließlich wollte man verstehen, warum Effis Mutter nachts weinte und warum sich die Nummern von Onkel Anteks Handrücken nicht abreiben ließen.

So errichteten sich die Zwölfjährigen nach und nach eine eigene zusammengewürfelte Welt des Holocaust, ohne freilich aus dem angehäuften Material ein klares Bild zu bekommen. Gleichwohl spielte man Buchenwald, fastete und trank nichts. Als die "Wie-Enkel" ihre Kindheit beendet und schon ein wenig ihr Interesse am Holocaust verloren hatten, begann das große Erzählen, über den Untersturmführer Kurt Franz, der erst 1959 vor Gericht gestellt worden war, über Franz Rademacher, den Schreibtischmörder, und andere NS-Täter. Der Erzähler - er ist mittlerweile verheiratet, hat einen Sohn, der erste Golfkrieg bricht aus - reist mit seinem Vater nach Polen, um die Wurzeln der Familie zu suchen.

Und endlich gibt auch Großvater Josef seine Geschichte preis, mit allen Einzelheiten, langsam und bedächtig. Er erzählt haargenau von seinen Erlebnissen im Ghetto von Lodz, von der Gestapo, von seiner Gefangenschaft in Ravensbrück, von harter Arbeit, schweren Krankheiten, von Sachsenhausen, von der Hölle im Lager Dora-Mittelbau, von Buchenwald und davon, dass ein anderer namens Rothschild für ihn in den Tod ging. Der Erzähler bringt anschließend alle Geschichten zu Papier, liest unzählige Zeugenaussagen von Holocaust- Überlebenden und erkennt, dass es im Grunde genommen nicht viele Geschichten gibt, sondern nur eine Unsumme von Versionen ein und derselben Geschichte. Der Holocaust war, so lautet sein Befund, ein ganz gewöhnliches Ereignis. "Gewöhnliche Menschen hatten ihn begangen, und gewöhnliche Menschen waren seine Opfer."

Der Roman bietet einige bemerkenswerte Aspekte. Doch wartet er mit so vielen Geschichten auf, dass man höllisch aufpassen muss, um sich in ihnen nicht zu verirren. Auch ist er ziemlich weitschweifig angelegt, so dass sich nur wenige Leser von ihm angesprochen fühlen dürften, es sei denn, sie lesen den Band aus wissenschaftlichem Interesse.

Amir Gutfreund

Unser Holocaust. Roman.

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.

Berlin Verlag, Berlin 2003; 634 S., 19,90 Euro


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