Sechs Millionen Juden wurden im Holocaust ermordet. Nur einige Zehntausend überlebten, vor allem durch die Hilfe nichtjüdischer Mitmenschen. Eine bescheidene Bilanz, bei der die Retter oft zu Symbolgestalten einer Moral verklärt werden, die nur von wenigen gelebt, aber zum Vorbild für die Nachwelt erhoben wurde. Im Herbst 1941 hatte mit dem Beginn der Deportationen und des Auswanderungsverbots die Verfolgung ihr letztes Stadium erreicht, so dass den jetzt noch etwa 170.000 in Deutschland lebenden Juden und den zu Juden erklärten Menschen nur die Flucht in den Untergrund blieb, um sich zu retten.
Die hier abgedruckten Beiträge von Wissenschaftlern unterschiedlicher Couleur - viele von ihnen sind Mitarbeiter des von Wolfgang Benz geleiteten Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin - verdeutlichen die Mühsal des Überlebens im Untergrund anhand einzelner Geschichten von Rettern und Geretteten. Sie berichten von abenteuerlichen und weniger aufsehenerregenden Fällen, von tragischen Zwischenfällen und gescheiterten Rettungsversuchen, vom Überleben im Bordell, von Odysseen im Berliner Untergrund, die von einem Quartier zum anderen führten, vom Unterschlupf in der Wohnung eines Wehrmachtsgenerals und vom Versteck im Nonnenkloster, in dem durchweg Kinder aufgenommen wurden, nicht selten um den Preis von Taufe und katholischer Erziehung. Die Geschichte der Rettung von Juden vor dem mörderischen Rassenwahn des NS-Regimes (wie viel es genau waren, ist nicht bekannt) hat zahlreiche Facetten.
Die Rettungsanstrengungen des Ehepaares Donata und Eberhard Helmrich werden in mehreren Aufsätzen gewürdigt, ebenso die von Berthold Beitz und Oskar Schindler, der nach Spielbergs Film zur Ikone der Retter aufstieg, und die des Wehrmachts-Feldwebels Anton Schmid in Wilna. Bekannt wurden gleichfalls, nicht zuletzt durch sein geheimnisumwittertes Schicksal, die Taten des schwedischen Botschafters in Budapest, Raoul Wallenberg. Auch der italienische Geschäftsmann Giorgio Perlasca hat wie Schindler Tausende von Juden gerettet; er starb wie dieser vergessen und verarmt.
Manche Retter nutzten ihr Amt, um Juden vor dem sicheren Tod zu bewahren, so der japanische Generalkonsul Chiune Sugihara im litauischen Kaunas, der eidgenössische Vizekonsul Carl Lutz in Budapest und der St.Galler Kantonspolizeikommandant Paul Grüninger, der später hart bestraft und erst nach seinem Tod Ende 1995 rehabilitiert wurde. In Frankfurt am Main bemühten sich nach dem Novemberpogrom 1938 private Mäzene, jüdische Kinder ins Ausland zu bringen. Das Quäkerkommitee leistete gleicherweise wirksame Hilfe. Probst Grüber, Gräfin Maria von Maltzan, die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich gehörten ebenfalls zu den Helfern, aber auch Unbekannte wie der behinderte Otto Weidt, der in Berlin eine Besen- und Bürstenbinderwerkstatt betrieb.
Aber nicht alle Retter handelten selbstlos aus Solidarität, Anstand und Uneigennutz. Nicht immer hatten sie edle Beweggründe. Manche waren einem Zusatzverdienst nicht abgeneigt und sicherten sich durch ihre jüdischen Untermieter "ein prima Einkommen", behauptet Marion Neiss. Daher wurden und werden nicht alle Retter in Yad Vashem geehrt. Allerdings hat es ziemlich lange gedauert, ehe man sich der Judenretter besann, nicht zuletzt deshalb, weil ihr Engagement die allgemein beliebte Behauptung, man habe gegen den Terror nichts tun können , als Legende entlarvt.
"Für Juden in Deutschland", schreibt Isabel Enzenbach, "entschied 1943 die Frage, ob sie nichtjüdische Helfer fanden oder nicht, über Leben und Tod." Gleichwohl blieben Juden trotz aller Hilfe beim Überlebenskampf in erster Linie auf sich allein gestellt. So ist es wohl kein Wunder, dass nur eine kleine Minderheit das Risiko eines Lebens in der Illegalität auf sich nahm, eines Lebens ohne Ausweisdokumente, ohne Lebensmittelkarten und somit ohne Anrecht auf Nahrung, Kleidung, Obdach und Schutz vor Bomben. Zugleich waren sie der Gefahr ausgesetzt, verraten zu werden, von fanatischen Nazis, ängstlichen Opportunisten, Geldgierigen, die auf Belohnung hofften, jüdischen Greifern, die in Diensten der Gestapo ihre Leidensgefährten aufspürten, um die eigene Haut zu retten, sowie durch verführbare Freunde und Nachbarn.
Unter den Geretteten haben nur wenige öffentliche Aufmerksamkeit gefunden wie etwa der Fernsehunterhalter Hans Rosenthal, die Publizistin Inge Deutschkron, der Filmschauspieler Michael Degen und die derzeitige Vizepräsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch. Sie überlebte bei einer Familie in Mittelfranken als angeblich uneheliches Kind des dortigen Dienstmädchens.
Der informative Band - er enthält neben Schwarzweißbildern wichtige Anmerkungen und Literaturhinweise - ist so fesselnd zu lesen, dass kleine Überschneidungen zwischen den einzelnen Beiträgen und winzige Widersprüche kaum ins Gewicht fallen
Wolfgang Benz (Hrsg.)
Überleben im Dritten Reich.
Juden im Untergrund und ihre Helfer.
Verlag C.H.Beck, München 2003; 349 S., 25,60 Euro