Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 05-06 / 02.02.2004
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Rolf Clement

Die Landesverteidigung bleibt zwar eine Aufgabe - aber zum möglichen Einsatzgebiet wird die ganze Welt

Die Reform der Bundeswehr als größte konzeptionelle Umorientierung seit dem NATO-Beitritt Deutschlands

Die wohl tiefgreifendste Reform der Bundeswehr hat Verteidigungsminister Peter Struck veranlasst. Die Struktur der Bundeswehr soll auf die neue, erste Hauptaufgabe der Bundeswehr ausgerichtet werden - auf Einsätze in den Regionen, in denen mögliche Risiken für die Sicherheit Deutschlands und des Bündnisses entstehen. Als Einsatzgebiet nannte Struck ausdrücklich die ganze Welt. Damit, so die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, stelle Struck die Sicherheitspolitik Deutschlands auf eine völlig neue Grundlage. Es sei die größte konzeptionelle Umorientierung der Bundeswehr seit dem NATO-Beitritt Deutschlands.

Verteidigungsminister Struck geht davon aus, dass die Landes- und Bündnisverteidigung zwar eine Aufgabe der Bundeswehr bleibt, aber nach der gegenwärtigen Risikoanalyse nicht zur wahrscheinlichen Option für Einsätze sei. Die Union nimmt eine andere Gewichtung vor.

Um diesen - nach ihrer Einschätzung wahrscheinlicheren - Aufgaben leichter gerecht werden zu können, teilt Verteidigungsminister Struck auf Vorschlag von Generalinspekteur Schneiderhan die Bundeswehr in drei Kategorien ein:

1. Eingreifkräfte sollen - besonders im Rahmen der NATO-Response-Force und der EU-Eingreiftruppe - zeitlich begrenzte friedenserzwingende Einsätze bestreiten können. Dazu können auch Operationen der Evakuierung in Kriegs- und Krisengebieten gehören. Rund 35.000 Soldaten werden dafür eingeplant.

2. Stabilisierungskräfte sollen längerfristige friedenserhaltende Einsätze bestreiten können. Dazu gehören Szenarien wie auf dem Balkan und in Afghanistan. Zu den Aufgaben gehört es also, Konfliktparteien zu trennen, Waffenstillstandsvereinbarungen überwachen, die Bevölkerung schützen und die staatliche Autorität im Einsatzland aufbauen und sichern. Auch die Abwehr örtlich begrenzter Angriffe und die Durchsetzung von Embargomaßnahmen gehören dazu. Rund 70.000 Soldaten soll diese Kategorie umfassen. 14.000 Soldaten davon können gleichzeitig in bis zu fünf Missionen eingesetzt werden.

3. Unterstützungskräfte sollen sowohl von Deutschland aus wie auch von vorgeschobenen Orten im Einsatzland aus die Einsätze logistisch unterstützen. Dafür werden 137.500 Soldaten vorgesehen. Auch die Ausbildungsorganisation fällt unter diese Kategorie. Diese macht rund 40.000 Soldaten aus.

Wesentliches Strukturmerkmal der Bundeswehr sind damit nicht mehr die Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine. Sie bleiben zwar bestehen, dienen aber vorwiegend als Truppensteller für die Einsatzkategorien. Die streitkräftegemeinsame Organisation trägt der Tatsache Rechnung, dass nahezu alle Einsätze der Bundeswehr von Elementen aus mindestens zwei der Teilstreitkräfte bestritten werden. Die Bundeswehr hat erste Schritte auf diesem Weg bereits unternommen: Mit der Streitkräftebasis wurden schon die Logistikverbände streitkraftübergreifend zusammengefasst. Der Sanitätsdienst wurde ebenfalls in dieser Form organisiert. Mit dem Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam, das alle Einsätze führt, wurde ein Führungsinstrument geschaffen.

Entscheidend für die Bundeswehr ist, dass auf diese Weise geschlossene Einheiten und Verbände in den Einsatz gehen. Sie müssen nicht mehr, wie bisher, aus verschiedenen Truppenteilen zusammengestellt werden. Damit wird die Einsatzeffektivität erhöht.

Gegen diese Transformation der Bundeswehr gab es Widerstände in der Bundeswehr. Vor allem der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Gert Gudera, hat sich gegen diese Reformen gestellt. Er war nicht damit einverstanden, dass die Hauptlast der neuen Reformen das Heer tragen sollte. Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan, der diese neue Struktur entworfen hat, weist auf die Synergieeffekte hin, die diese Struktur bietet: Die Bundeswehr hat nicht mehr ausreichend Personal, um jede Struktur in jeder Teilstreitkraft abzubilden. Dass das Heer auf den ersten Blick am meisten betroffen ist, hat seinen Grund auch in der Größe und der bisherigen Ausrichtung der Landstreitkräfte. Das Heer ist die größte Teilstreitkraft, damit also immer besonders stark betroffen. Zudem war das Heer in besonders prägnanter Weise auf die Landesverteidigung ausgerichtet, ist gegenwärtig aber auch Hauptträger der Auslandseinsätze. Somit ist hier auch der Umsteuerungsbedarf am größten.

In ihrem neuen Konzept bezeichnet die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit den Worten ihres verteidigungspolitischen Sprechers, Christian Schmidt, die Überlegungen des Generalinspekteurs als "im Grundsatz nachvollziehbar". Allerdings müsse zu den Auslandseinsätzen auch ein Element der Territorialverteidigung treten. Diese müsse mit den Einsatzoptionen im Ausland eng verzahnt werden. Es dürfe keine "Zwei-Klassen-Armee" geben. Zu dieser Territorialverteidigung gehören verstärkter Objektschutz, ABC-Abwehr und die Bekämpfung militärisch gesteuerter Angriffsobjekte. Auslandseinsätze seien für die Bevölkerung nur dann akzeptabel, wenn die Sicherheit zu Hause gewährleistet sei. Hauptvorwurf der Union ist es, dass die Planung an den finanziellen Gegebenheiten, nicht an den benötigten Fähigkeiten ausgerichtet werde.

Die neue Struktur hat auch Auswirkungen auf die Ausrüstung der Bundeswehr. Wo immer möglich sollen gemeinsame Plattformen für Waffensysteme genutzt werden. So sollen zum Beispiel die Aufklärungssysteme harmonisiert werden. Zur Zeit verfügen die Teilstreitkräfte über unterschiedliche, zum Teil auch nicht kompatible Systeme. Weitere Beispiele ließen sich anführen.

Ein weiterer Grundsatz der Ausrüstung ist, dass die Soldaten sich im Einsatz möglichst sicher bewegen können. Die persönliche Ausrüstung der Soldaten ist somit einer der Schwerpunkte.

Dritter Grundsatz ist, dass die Bundeswehr auf ihre aktuellen Aufgaben hin ausgerüstet werden soll. Jene Systeme, die eher für die alten Aufgaben geeignet waren, werden nicht mehr erneuert. Leicht verlegbare Systeme haben Vorrang vor schwererem Gerät. Das bedeutet auch, dass die Eingreif- und Stabilisierungskräfte eher und schneller modernisiert werden als die Unterstützungskräfte. Sie müssen sich im Einsatz bewähren. Die Bundeswehr will diese Umsteuerung in der Rüstungsplanung ohne Eingriffe in laufende Verträge vollziehen.

Bei der Rüstungsplanung muss nach Überzeugung von Generalinspekteur Schneiderhan die Bundeswehr nicht mehr über alle Fähigkeiten verfügen. Bestimmte Spezialfähigkeiten könne man sich bei den Verbündeten besorgen. Auf der anderen Seite könne auch die Bundeswehr bestimmte Fähigkeiten, in denen sie einen Vorsprung hat, den Bündnispartnern anbieten. So ist die Bundeswehr zum Beispiel beim ABC-Abwehr-Schutz zusammen mit der tschechischen Armee führend in der NATO. Obwohl die Bundesrepublik sich am Irak-Krieg nicht beteiligt hat, standen deutsche ABC-Abwehrtruppen während des Krieges in Kuwait, um dort Angriffe auf die Koalitionstruppen bekämpfen zu können. Die ABC-Truppe dort wurde während des Krieges sogar verstärkt. Diese Form der Zusammenarbeit wird sich verstärken, wenn sich der Trend, dass nicht alle alles haben müssen, in den NATO-Staaten durchsetzt.

Ein weiteres Beispiel: Die Bundeswehr hat besondere Fähigkeiten beim Minensuchen. So wurden deutsche Minensucher nach dem Golfkrieg 1991, der der Befreiung Kuwaits diente, im Persischen Golf eingesetzt. Auch bei der Aufklärung und Bekämpfung gegnerischer Luftabwehr ist die Bundeswehr führend. Die dafür vorgesehenen so genannten ECR-Tornados wurden während des Kosovo-Krieges auch von der US-Luftwaffe angefordert. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Minister Struck hofft, damit die Rüstungsplanung mit dem Etat in Einklang zu bringen. Die Lücke zwischen der bisherigen Planung und den in der Finanzplanung vorgesehenen Mittel betrug bis 2012 rund 26 Milliarden Euro. Durch die neue Planung soll dies nunmehr abgebaut werden.

Aus der Rüstungsindustrie wurde lobend hervorgehoben, dass man nun Planungssicherheit habe. Die jetzige Planung sei angesichts der Finanzausstattung der Bundeswehr realistischer. Zwar sei die Bundeswehr immer noch unterfinanziert, aber die Planungen seien jetzt verlässlich. Die Union kündigte an, den Verteidigungshaushalt bei Regierungsübernahme in mehreren Schritten um drei Milliarden Euro zu erhöhen.

Der Auftrag, den Minister Struck dem Generalinspekteur gab, lautete: Versöhnen Sie die Planung mit dem Etat. Minister Struck hatte deswegen schon vorher entschieden, dass die Personalstärke der Bundeswehr auf 250.000 Soldaten begrenzt wird. Die anderen Maßnahmen sollen die Orientierung an der Finanzplanung verstärken. Dieser Reduzierung der Personalstärke geht der Union zu weit. Sie plädiert für eine Truppe von rund 270.000 Soldaten.

Verteidigungsminister Struck kündigte eine tiefgreifende Reform der Stationierung der Bundeswehr an. Rund 200 Standorte müssten mit der Schließung rechnen. Dabei seien strukturpolitische Argumente nicht mehr zu berücksichtigen. Lediglich militärische und betriebswirtschaftliche Gründe seien gültige Kriterien. Bis zum Jahresende soll die neue Stationierungsplanung vorgestellt werden. Die Union plädiert dagegen für eine glaubhafte Präsenz in der Fläche, kurze Wege und viele Standorte. Das stärke auch das Sicherheitsempfinden der Bürger. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Gertz, der den Kurs Strucks unterstützt, wies darauf hin, dass eine weitere Schließung von Standorten auch die Versetzungshäufigkeit der Soldaten reduziere.

Struck und Schneiderhan wollen an der Wehrpflicht festhalten. Der bisherige Mix aus Zeit- und Berufssoldaten und Grundwehrdienstleistenden habe sich bewährt und sei auch die richtige Wehrform für die Zukunft. Rund 195.000 Zeit- und Berufssoldaten und rund 50.000 Grundwehrdienstleistende sollen die Struktur der Bundeswehr ausmachen.

Die SPD, so kündigte Struck an, werde nach einem Kongress zu diesem Thema im Herbst 2004 auf dem Parteitag 2005 entscheiden, ob sie an der Wehrpflicht festhält. Struck äußerte sich zuversichtlich, dass er eine Mehrheit für diese Position bekommen wird. Allerdings müsse die Bundeswehr für den Fall vorsorgen, dass die Wehrpflicht politisch keine Zustimmung mehr erfahre. Deswegen müsse die Struktur so ausgelegt werden, dass eine Abschaffung der Wehrpflicht mit nur einigen überschaubaren strukturellen Veränderungen möglich wird.

Die Union forderte eine Neubelebung der Wehrpflicht. Die FDP forderte deren Abschaffung. Die Grünen sehen in der Planung Strucks einen Schritt hin zu deren Abschaffung.

Struck kündigte eine Reform der Grundausbildung in der Bundeswehr an. Sie werde sich stärker an einsatzorientierten Herausforderungen orientieren müssen. Grundwehrdienstleistende leisteten heute schon wichtige Beiträge zu den Auslandseinsätze der Bundeswehr. Zahlreiche "freiwillig länger dienende Grundwehrdienstleistende" sind im Ausland im Einsatz. Nachgedacht wird auch darüber, ob Grundwehrdienstleistende auf freiwilliger Basis in den Auslandseinsatz mitgenommen werden können. Vor allem bei der Marine, wo Grundwehrdienstleistende auf Schiffen und Booten eingesetzt werden, müssen eingespielte Mannschaften auseinandergerissen werden, wenn ein Einsatzbefehl kommt. Darunter leiden oft auch die Grundwehrdienstleistenden, die gerade dann bei ihren Kameraden bleiben wollen.

Struck plant die Einführung einer sogenannten Auswahlwehrpflicht. Diese schon von der Zukunftskommission unter Richard von Weizsäcker vorgeschlagene Reform der Wehrform bedeutet, dass nicht mehr alle Wehrpflichtigen auch eingezogen werden. Schon in diesem Jahr sinkt die Zahl der Grundwehrdienstleistenden. Das führte dazu, dass das Verwaltungsgericht Köln wegen fehlender Dienstgerechtigkeit einen Einberufungsbescheid für nichtig erklärt hat. Dies, so Unions-Sprecher Schmidt, sei ein Warnschuss. Durch einige Entscheidungen der letzten Zeit, etwa die Veränderung der Einberufungskriterien, habe Struck falsche Signale gesetzt. Auch von anderen wird die Verfassungsmäßigkeit der Auswahlwehrpflicht angezweifelt.

In der Diskussion um die Wehrform spielte auch die Zukunft des Zivildienstes eine Rolle. Struck wies nochmals auf die gesetzliche Lage hin: Alle jungen Männer ab 18 Jahre unterliegen nach dem Grundgesetz der Wehrpflicht. Der Zivildienst ist nach dem Grundgesetz der Ersatzdienst. Deswegen können Veränderungen nur über die Wehrpflicht eingeleitet werden. Die vom Jugendministerium inspirierte Diskussion um eine Abschaffung des Zivildienstes zäumt der Pferd von hinten auf: "Gekocht wird bei der Wehrpflicht."

Eine bei Jugendministerin Renate Schmidt angesiedelte Expertenkommission, die sich mit der Zukunft des Zivildienstes beschäftigt hat, schlägt eine Verkürzung des Zivildienstes auf neun Monate vor. Damit wäre das Verfassungsgebot der "lästigen Alternative" nicht mehr erfüllt, da beide Dienste gleich lang dauerten. Wie auch beim Wehrdienst sollte eine freiwillige Verlängerung des Zivildienstes ermöglicht werden.

Wie auch beim Wehrdienst wird auch beim Zivildienst nun darüber nachgedacht, ob zivile Fähigkeiten besser genutzt und im Zivildienst erworbene Fähigkeiten zertifiziert werden können. Praktika vor und nach dem Zivildienst und eine weitere Beschäftigung auf der Basis geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse sollen geprüft werden. Die Kommission geht aber noch weiter: Ein Bonussystem bei der Studien- und Ausbildungsplatzvergabe sollen eingeführt werden.

Wie auch bei der Bundeswehr soll es auch im Zivildienst einen Auswahldienst geben. Wenn die Wehrpflicht abgeschafft werden sollte, müsste ein Freiwilligendienst eingerichtet werden, der Frauen und Männern aller Altersgruppen offen steht. Auch die Einsatzgebiete sollen erweitert werden: Neben den klassischen Bereichen Soziales, Umweltschutz und Entwicklungszusammenarbeit sollen auch Kinderbetreuung, Schule und Migration aufgenommen werden.

Die CDU/CSU forderte eine schnelle Beratung des Umbaus der Bundeswehr im Parlament. Es sei nicht hinnehmbar, dass diese so weitgehende Transformation der Bundeswehr erst der Öffentlichkeit, dann erst dem Parlament vorgestellt werde. Die Ankündigung von Minister Struck, im Mai eine Bundestagsdebatte herbeizuführen, sei zu spät. Deshalb hat sie einen Antrag unter dem Titel "Für eine moderne Bundeswehr als Pfeiler einer verlässlichen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands" in den Bundestag eingebracht. Sie fordert, die Bundesregierung müsse zudem ein Gesamtkonzept für die Sicherheit Deutschlands vorlegen, an dem auch andere Ressorts beteiligt werden sollten. Ein neues Weißbuch sei dringend nötig. Im Rahmen dieses Gesamtkonzepts müssten die Kräfte für die äußere und innere Sicherheit eng miteinander verzahnt werden. Die zivil-militärische Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden müsse gestärkt werden. Minister Struck hatte ein Weißbuch für 2005 angekündigt, wenn die Bundeswehr ihren 50. Gründungstag begeht.

Für die FDP erklärte der Abgeordnete Nolting, Strucks Reform sei nur ein "kleiner Schritt in die richtige Richtung". Es bestehe immer noch eine Diskrepanz zwischen Auftrag, Ausrüstung und Finanzen.

Nach den Planungen des Verteidigungsministeriums soll die Transformation der deutschen Streitkräfte bis 2010 umgesetzt werden. Zunächst soll die von Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) im Jahr 2000 vorgestellte Planung bis 2006 weiter umgesetzt werden. Die beiden Planungen sollen nun schrittweise miteinander verzahnt werden. Nach diesen Grundsatzentscheidungen müsse nun die Feinausplanung beginnen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.