Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 07-08 / 16.02.2004
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Dieter Kiehl

Es gibt kein Erfolgskonzept

Hanns-Seidel-Stiftung: Es werden immer weniger Kinder geboren

Politiker neigen dazu, einen Bogen zu machen um das vielleicht vertrackteste Problem, das sich unserer Gesellschaft stellt: Was ist zu tun, um die fatal nach unten zeigende demografische Entwicklung zu stoppen, zumindest abzubremsen und die Folgen zu mindern? Der dramatische Geburtenschwund wird seinen Höhepunkt zwar erst in einigen Jahrzehnten erreichen; wer jedoch dagegen halten möchte, müsste spätestens jetzt damit beginnen. Ein Problem dabei ist, dass alle solchen Überlegungen zwei zeitliche Dimensionen berücksichtigen müssen: Was ist jetzt zu tun, um die befürchtete Entwicklung zu steuern, und was später, um mit der dann geschaffenen Entwicklung einer überalterten Gesellschaft umzugehen?

Das jüngste Expertengespräch der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns Seidel-Stiftung war unter dem Titel "Ansätze pronatalistischer Familienpolitik" vor allem dem ersten Teil der Frage gewidmet, wie - trotz der negativen Prognosen - familienpolitische Maßnahmen und Initiativen doch noch den fatalen demografischen Wandel beeinflussen könnten und wie weit dabei die Erfahrungen anderer betroffener Nationen hilfreich sein könnten; vor allem einige nordische Länder, die mit rund 1,7 Kindern pro Frau, bei der Bekämpfung des Geburtenrückgangs erfolgreicher sind als Deutschland, wo eine Frau statistisch gesehen rund 1,4 Kinder bekommt. Noch schlechter schneiden die südeuropäischen Länder ab. In Italien gebert jede Frau statistisch 1,2 Kinder. Können die nordischen Länder deshalb als Vorbilder gelten? Professor Walter Bien, Leiter der Sozialberichterstattung beim Deutschen Jugendinstitut in München, rät nicht nur zur Vorsicht, wenn es darum geht, Prognosen aus statistischen Erhebungen abzuleiten. Seiner Meinung nach gibt es auch kein einzig richtiges Modell für eine Erfolg garantierende pronatalistische Politik; im übrigen solle man, ehe man über Interventionen nachdenkt, zu erforschen versuchen, was zur niedrigen Geburtenrate geführt hat, und sich darüber klar werden, was das Ziel und die Konsequenzen einer solchen Intervention sind.

Wer sich mit den Problemen des demographischen Wandels als Politiker beschäftigt, muss nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Professor Tilman Mayer von der Universität Bonn erst einmal wissen, ob er überhaupt eine Beeinflussung des demographischen Wandels durch Politik will oder nicht - der Bericht der Enquetekommission vermittle der Politik das "eindeutige Signal", dass sie die demographische Entwick-lung kaum beeinflussen könne, und dieses Signal werde von den Politikern auch verstanden: Sie verhalten sich reserviert oder machen einen Bogen um die Thematik.

Dass der Geburtenschwund die ganze westliche Welt erfasse, sei wohl wahr, strittig aber sei die Intensität des Phänomens - muss das Nachlassen der Fertilität so massiv ausfallen wie in Italien oder Deutschland, so massiv, dass er die Erneuerungsfähigkeit der Gesellschaft über Jahrzehnte in Frage stellt -, oder ist auch ein weniger radikaler Verlauf vorstellbar?

Definitive Veränderungen der Fertilität belegen, konstatiert Mayer, dass es Einflussmöglichkeiten gibt in pro- wie in antinatalistischer Richtung. Antinatalistische Eingriffe wie Geburtenbegrenzung und Alphabetisierung hätten in den letzten Jahrzehnten in der Dritten Welt deutliche Spuren hinterlassen und zu einem erheblichen Geburtenrückgang geführt.

Individuelle Entscheidung

Die Konzepte zur Steuerung des demografischen Wandels seien seit langem auch in der Ersten und Zweiten Welt wirksam; unterschiedlich seien lediglich die kulturellen Ausgangskontexte. "Antinatalismus beschreibt den gesellschaftlichen Ist-Zustand in der westlichen Welt - bezogen auf die Individualität der Person bedeutet das, dass jeder Gedanke an ein Kind Entscheidung verlange: eine pronatalistische für oder eine antinatalistische gegen das Kind. "Wir gehen von einer Individualisierung des generativen Verhaltens aus: Moderne Bürgerinnen entscheiden auch in dieser Frage autonom, und das ist als Grundlage jeder demografisch akzentuierten Politik zu akzeptieren und von den politischen Akteuren ernst zunehmen."

Auch pronatalistische Maßnahmen können, wie etwa die Beispiele Frankreichs oder der früheren DDR zeigen, Wirkung erzielen. Pronatalistische Familienpolitik müsse darauf abzielen, sagt er, das Geburtengefälle deutlich abzuschwächen. Niemand behaupte, dass ein Erhaltungsniveau erreichbar sei, doch zwischen einer abstürzenden und einer abfallenden Entwicklung bestehe ein gewaltiger Unterschied.

Wie kann man den demografischen Prozess im pronatalistischen Sinne steuern, zumindest zu steuern versuchen? Zunächst komme es auf eine "vernünftige Mischung" demografischer Maßnahmen an, zu der auch gesteuerte Zuwanderung gehöre; sie könne freilich nicht das Ziel haben, die Defizite zu kompensieren - ein unerreichbares Ziel -, wohl aber die Entwicklung "ein Stück weit" auffangen. Ein komplexes, weder Alte noch Junge, weder Eltern noch Kinderlose diskriminierendes familienpolitisches Angebot müsse die Familien-Komponente herausstellen, die Gesellschaft wieder dafür sensibilisieren, dass Nachwuchs ihre Zukunft sichert. Was also ist zu tun, damit der Trend zumindest gebremst wird?

Da stellt sich die Frage, ob die Erfahrungen der übrigen Europäer den Deutschen von Nutzen sein können. Professor Wolfgang Walter von der Universität Rostock gibt da zu bedenken, dass sich bei allen Unterschieden in den aktuellen Fertilitätsraten der einzelnen Länder und in den Verläufen der jeweiligen Kurven sich die langfristigen Trends ähneln. In allen Ländern sinkt die Zahl der Erstheiraten, und der Altersdurchschnitt bei Erstheiraten steigt. Immer mehr Menschen bleiben dauerhaft ledig, immer mehr Kinder werden unehelich geboren, und der Anstieg der Kinderlosigkeit ist in den meisten Ländern markant. Die Geburtenentwicklung habe sich in ganz Westeuropa auf niedrigem Niveau eingependelt, wobei der Begriff niedrig nicht für alle die gleich Bedeutung hat. Am unteren Ende der Kurve liegen die südeuropäischen, am oberen die nordeuropäischen Länder.

Die sozialstaatlichen Strukturen sind unterschiedlich, reichen vom deutschen "Bismarck'schen Modell" bis zum skandinavischen Wohlfahrtsstaat, doch welche Form sozialer Absicherung die Fertilität am ehesten fördert, ist pauschal kaum zu definieren. Walter erwähnt das Beispiel Irlands, das hinsichtlich seiner demografischen Entwicklung mit 1,9 Kindern pro Frau einen europäischen Spitzenplatz inne hat, hinsichtlich der sozialen Absicherung und familienpolitischer Angebote aber im letzten Wagen sitzt - für Walter ein unlösbares Paradoxon.

Stimmt die These, dass die Geburtenrate umso niedriger ist, je mehr Frauen erwerbstätig sind? Die gegenläufige These besagt, dass eine hohe Geburtenrate auch bei hoher Frauenerwerbstätigkeit wie etwa in Frankreich (1,75) möglich sei, wenn, wie dort der Fall, die Vereinbarkeit von Familie und Broterwerb sichergestellt ist. "Es gibt Gesellschaften, die den Menschen mehr Risiken zumuten, sie nicht in ein Sicherheitsnetz einwickeln; da könnte es dann sein, dass weniger Kinder geboren werden, denn Kinder sind immer eine Investition auf die Zukunft. Es könnte aber auch sein, dass in einem solchen System, das mehr eine Basissicherung bietet, die Menschen auch mehr Geld zur Verfügung haben, weil sie nicht mehr soviel in ein umlagenfinanziertes System stecken müssen und viel risikobereiter sind."

Natürlich, meint Wagner seien die Systeme nicht einfach übertragbar. Aber man könne, wenn unser gesamtes Sozialleistungssystem sich verändert, doch an eine stärkere Umstellung vom System Bismarck auf ein System der Basis-Sicherung denken; das sei ein Trend, der sich in den nächsten Jahrzehnten auswirken werde und nicht nur negative Effekte habe, sondern auch Anreize bieten sollte - Anreize für eine Veränderung jener Mentalität, die eben über lange Frist dazu führt, dass die Geburtenrate zu niedrig ist.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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