Ausgangspunkt aller Bemühungen um eine Neueinrichtung des Bildungswesens war und ist das beschämende Abschneiden deutscher Schüler beim Program for International Students Assessment, PISA genannt, im Herbst des Jahres 2001. Die Wirkung dieser Botschaft wird als Schock bezeichnet, zu Unrecht allerdings, da der Schock ja ein harter und unerbittlicher Lehrmeister ist. Wer eine schockartige Erfahrung macht, der muss, bei Strafe eines zweiten Schocks, der dann noch härter zuschlägt als der erste, sein Leben ändern. Doch davon, von der Bereitschaft und Entschlossenheit, die Schule besser zu gestalten, kann in Deutschland bis heute keine Rede sein.
In den gut zwei Jahren, die seit Bekanntwerden der PISA-Ergebnisse vergangen sind, ist alle paar Wochen eine neue Expertise, ein neues Gutachten, ein neuer Generalplan zur Modernisierung des deutschen Bildungswesens veröffentlicht worden. Was da an Rezepturen angeboten wurde, war aber alles andere als neu. Die Reformpädagogen mögen von ihren Illusionen nicht lassen und empfehlen, die Schule von morgen nach den Plänen von gestern zu errichten.
Seitdem die Pädagogik sich als Wissenschaft versteht, seit ihrer empirischen Wende vor etwa 50 Jahren also, glaubt sie es den anderen Wissenschaften nachtun und alle Tage etwas Neuem in Umlauf bringen zu müssen. Als Fortschritt angepriesen wird dann das eine Mal die Integrierte Gesamtschule, das andere Mal die Ganztagsschule, zunächst der wissenschaftsorientierte und dann der kindgemäße Unterricht, vorgestern die Stundentafel, gestern der Lernzielkatalog und heute die Bildungsstandards für alle. Diese Neuerungssucht, die zwar den Wandel, aber keinen Fortschritt garantiert, stiftet eine Unruhe, die der Schule auch dann schadet, wenn sich unter dem ständig wechselnden Angebot tatsächlich so etwas wie das Ei des Kolumbus befinden sollte. Bisher war das freilich noch nie der Fall, und es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass es jemals so weit kommt. Über gute und schlechte Erziehung lässt sich nämlich nicht viel Neues sagen, seit zweieinhalb Jahrtausenden nicht. Über den Sokrates, der durch bloßes Fragen aus einem Analphabeten die richtige Antwort auf das Problem hervorlockt, wie sich der Flächeninhalts des Quadrates verdoppeln lässt, ist kein Reformpädagoge hinausgekommen.
Den Teufelkreislauf durchbrechen
Eines der niederschmetternden Ergebnisse der PISA-Studie war die Erkenntnis, dass nirgends sonst der Schulerfolg so eng mit der sozialen Herkunft verbunden ist wie in Deutschland. Völlig zu Recht konzentrieren sich die Überlegungen und Bemühungen darauf, den Teufelskreis aus Benachteiligung und Rückstand, aus Rückstand und Unwissenheit, aus Unwissenheit und Misserfolg, aus Misserfolg und Rückstand, aus Rückstand und Benachteiligung zu durchbrechen. Bevor die Bildungsexperten aber nun wieder einmal die Ärmel hochkrempeln und sich an die Arbeit machen, sollten sie doch einen Blick zurück werfen, auf die Arbeit ihrer Vorgänger, und sich daran erinnern, dass sie beileibe nicht die ersten sind, die den Zusammenhang zwischen Herkunft und Schulerfolg aufbrechen wollten. Das haben die engagierten Schulreformer seit eh und je gewollt. Das Ziel, dem sie sich verschrieben hatten, hieß Chancengleichheit, und die war definitionsgemäß dann erreicht, wenn der Schulerfolg statistisch unabhängig war von allen Einflüssen der Konfession, der Herkunft, des Geschlechts und des Wohnorts. Symbolfigur des chancengeminderten Schulkindes war das katholische Arbeitermädchen vom Lande, in dem alle vier Handicaps zusammenkamen.
Schon vor einem halben Jahrhundert waren sich die Reformer darin einig, dass statt der überkommenen, angeborenen oder anerzogenen Merkmale im Bildungswesen nur noch ein einziges zählen sollte, die Leistung. In der reformorientierten Schriften der 50er- und 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts lässt sich das auf vielen tausend Seiten nachlesen. Warum ist daraus nichts geworden? Was haben die Reformer falsch gemacht? Woran sind sie mit ihrem lobenswerten Vorsatz gescheitert? Die Antwort ist klar: Am eigenen Widerspruch. Sie waren nämlich so inkonsequent, dasselbe Kriterium, das alle anderen ersetzen und als einziges übrig bleiben sollte, die Leistung eben, zu diskreditieren. Den meisten unter ihnen galt Leistung als ein bürgerliches oder spätbürgerliches Vorurteil, das den Begriff "Druck" assoziierte, der seinerseits mit "Verweigerung", mit Leistungsverweigerung beantwortet werden musste. Die traurigen Opfer dieser Verwahrlosungspädagogik haben wir als Angehörige der Null-Bock-Generation kennen gelernt. Sie fanden und sie finden sich auf allen Stufen des deutschen Bildungswesens, besonders zahlreich allerdings auf dessen unteren Etagen, als Ungelernte, Hauptschüler ohne Abschluss oder Mitläufer im Berufsgrundbildungsjahr. Gelernt haben sie nur eins: Dass Leistung keine Freude macht und nicht viel bringt. Mit dieser Einstellung haben die gelernten Leistungsverweigerer genau die Art von Zukunft vor sich, die sie durch ihren Schulbesuch vermeiden wollten. Sie sind die Absteiger, die Arbeitslosen und die Randständigen von morgen.
Aus dieser Vorgeschichte folgt zunächst einmal die Empfehlung, mit dem Leistungsgedanken wieder ernst zu machen. Also Abschied zu nehmen von der Schonraumpädagogik, wie sie von den Reformern jahrelang propagiert und praktiziert worden ist. Das klingt härter als es ist, denn Leistung bedeutet ja nicht nur Druck, sie macht auch Freude; diese elementare Wahrheit in Erinnerung zu rufen und sich nach ihr zu richten, wäre die erste von allen weiteren "Reformen". Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen, heißt der berühmte Anfang eines nicht minder berühmten Buchs, der Metaphysik des Aristoteles. Von Natur aus: Damit ist alles schon gesagt. Die Kinder bringen alles mit, der Erzieher muss sie nur lassen, also alles vermeiden, was die angeborene Neugier und das natürliche Wissenwollen verschütten könnte. Erziehung, heißt es bei Lessing, gibt dem Menschen nichts, was er nicht schon besäße; sie gibt ihm das, was er schon besitzt, nur schneller und leichter.
Das wird verhindert, wenn der Stoff, wie er im Pädagogenjargon immer noch heißt, im allzu harten Panzer von Pflicht und Zwang daher kommt. An deutschen Schulen ist zu oft vom Müssen und zu selten vom Dürfen die Rede. Beispiele dafür werden jedem von uns aus seiner eigenen Schulzeit in großer Zahl vor Augen stehen.
Zweitens heißt es mit der Erkenntnis ernst zu machen, dass in der Erziehung alles Entscheidende früh passiert, sehr früh sogar. Eltern haben das immer schon gewusst, während sich die Pädagogen mit der Einsicht in ihre Grenzen aus professionellem Ehrgeiz schwer tun. Wenn sie die Kinder in die Hand bekommen, üblicherweise also mit Beginn der Schulpflicht, im Alter von etwa sechs Jahren, sind die Würfel längst gefallen, in vielen Fällen sogar unwiderruflich. Die moderne Hirnforschung hat eindrucksvolle Belege dafür zusammengetragen, wie früh und wie gründlich ein Kind durch das geprägt wird, was es in den ersten Wochen und Monaten erlebt beziehungsweise eben nicht erlebt. Beides ist wichtig und hat Folgen, der dargebotene genauso wie der vorenthaltene Reiz. Konsequenzen daraus sollten nicht nur die Politiker ziehen, indem sie mehr tun für Bildung und Betreuung im frühen Kindesalter, sondern auch und vor allem die Eltern. Sie sind es ja, denen das Grundgesetz die Pflege und die Erziehung ihrer Kinder als Recht und "zuförderst ihnen obliegende Pflicht" zugesprochen hat; ihnen und nicht dem Staat. Die natürlichen Sprachlehrer der Kinder sind nun einmal ihre Eltern, zu allererst die Mütter. Sozialpädagogen und Kindergärtnerinnen können und sollen sie ergänzen; ersetzen können sie die Eltern aber nicht.
Schulorganisatorisch folgt aus alledem ziemlich wenig, weniger zumindest, als die Bildungsplaner wahrhaben wollen. Die erste und wichtigste Konsequenz ist rein negativer Art: sie verlangt, alles zu vermeiden, was die natürliche Vielfalt der Begabungen und die genauso natürliche Varianz der individuellen Erziehungsstile verarmen lassen könnte. Was gegen die Einheitsschule in welcher Ausprägung auch immer spricht, ist nicht die eine oder andere Besonderheit, sondern der simple Anspruch, den sie im Namen trägt. Die eine Schule für alle Kinder gibt es eben nicht, und wenn, dann leistet sie nicht das, was man von einer guten Schule erwarten darf. Der Staat soll nicht als Monopolist, sondern als einer unter vielen auftreten. Neben den öffentlichen muss es private, neben den Halbtags- muss es Ganztagsschulen, neben den Waldorf- muss es Schulen in kirchlicher Trägerschaft geben. Wer alle Schulen gleich machen und sie nach einem einzigen Muster flächendeckend, wie die verdächtige Metapher heißt, über das Land verstreuen will, wird sie nur alle gleich schlecht machen.
Diese erste verlangt nach einer weiteren Konsequenz. Ein vielfältig gegliedertes Schulwesen wird von den Eltern nur dann akzeptiert werden, wenn es Sack-gassen vermeidet. Positiv formuliert, läuft das auf eine Wiederholung der alten Forderung nach Durchlässigkeit hinaus. Das deutsche, horizontal und vertikal differenzierte Schulwesen leidet daran, dass es durchlässig vor allem in eine Richtung ist, nach unten nämlich. Wer im Gymnasium nicht mitkommt, wechselt auf die Realschule, von dort vielleicht auf die Hauptschule und, wenn es das Unglück will, am Ende auf die Sonderschule. Und jeder dieser Wechsel dürfte mit einem Verlust an Zuwendung, an Förderung, an Einsatz und an Hoffnung verbunden sein. Das ist unverantwortlich gegenüber dem Einzelnen und teuer für den Staat.
"Keiner darf verloren gehen", diese im Ausland geläufige Forderung muss auch in Deutschland heimisch werden, für alle Begabungen und alle Berufungen, für alle Neigungen und alle Talente. Sie zu entdecken, zu fördern und zu vertiefen, ist die vornehmste Aufgabe der Lehrer und Erzieher und, wo sie gelingt, ihr schönster Lohn. Wem das Aufspüren und Entwickeln von Talenten keine Freude macht, taugt nicht zum Pädagogen. Denn für das Lehren gilt dasselbe wie für das Lernen: Die Sache muss Spaß machen. Dann ergibt sich alles Weitere von selbst.
Konrad Adam ist Redakteur der Tageszeitung "Die Welt" in Berlin.