Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 10 / 01.03.2004
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Elisabeth Boesen und Georg Klute

Direkt von der Wüste in die Stadt

Moderne Migration von Nomaden aus dem Sahara-Sahelraum

Die größte Wüste der Erde und ihr südlich angrenzendes "Ufer" werden vor allem als Hunger- oder Krisengebiete, allenfalls als touristische Regionen wahrgenommen. Sahara und Sahel gelten als Ränder der bewohnten Welt. Obwohl Mobilität die moderne Gesellschaft auszeichnet, ist die Teilhabe an ihr offenbar an Sesshaftigkeit gebunden. Wo Nomadismus herrscht, ist Peripherie. Die Verdichtung des globalen Austauschs erfasst diese Peripherie nur partiell - als sporadische Hungerhilfe, zunehmender Touristenstrom, zur Rohstoffgewinnung oder aber in einem Spektakel wie der Rallye Paris-Dakar.

Auch innerafrikanische "Ströme" berühren das Gebiet nur flüchtig; es ist ein Transitraum zwischen getrennten ökonomischen und kulturellen Regionen. Die Wüste trennt Schwarzafrika vom Maghreb. Sie war aber auch immer Durchgangs- und Lebensraum, was spätestens dann deutlich wird, wenn ihre Bewohner - wie in der Westsahara, Algerien, Mali und Niger - sie zeitweilig mehr oder weniger unpassierbar machen. In jüngster Zeit ist die Vorstellung von dieser Peripherie denn auch durch eine weitere ergänzt worden: als Heimstatt von Rebellen und Terroristen erscheint sie gleichzeitig als Ort, an dem Informations-, Waren- und Kapitalströme zusammenfließen. Mit den Tuareg-Rebellionen der 90er-Jahre und der Geiselnahme vom vergangenen Jahr hat die Sahara die Qualität des "deterritorialisierten" Raumes angenommen.

Seit der Dürre der 70er-Jahre verbinden Nomaden aus dem Sahara-Sahel-Raum ihre Viehhaltung in zunehmendem Maße mit anderen mobilen Aktivitäten, in erster Linie saisonaler Arbeitsmigration in urbane Zentren. Welche ökonomischen und sozialen Auswirkungen diese Reisen auf die Herkunftsregionen haben, ist kaum bekannt. Es spricht einiges dafür, dass die Herkunft der Migranten ihren modernen Nomadismus, ihre Teilhabe an urbanen und globalen Austauschprozessen, in spezifischer Weise prägt.

Noch bis in die 70er-Jahre wurde die mobile Vieh-haltung vor allem als Anpassung an ökologische Bedingungen betrachtet. Die Wanderungen von Nomaden leitete man als Variable des Vorhandenseins von Weide und Wasser ab, als reagierten die Nomaden, wie ihre Tiere, ausschließlich auf die Erfordernisse der Natur. Damit wurde ihnen eine primitive Lebensweise unterstellt, die mit moderner wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung unvereinbar sei. Andere betonten die Irrationalität dieser Wirtschaftsweise, die der Umwelt schade. Die Sesshaftwerdung schien aus diesem Blickwinkel wünschenswert zu sein.

Die von dem norwegischen Anthropologen Frederick Barth gewonnene Einsicht, dass die Sesshaftwerdung die reichsten und die ärmsten Nomadenfamilien betrifft, die sich anderen wirtschaftlichen Aktivitäten zuwenden, wurde weitgehend als allgemeingültiger Prozess anerkannt. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Annahme von einem kontinuierlichen Rückgang der nomadischen Bevölkerung jedoch fragwürdig geworden. Sie hat sich als flexibel und innovativ erwiesen und ist der Stadt und dem städtischen Leben näher gerückt, ohne ihre nomadische Identität einzubüßen. Die seit Ibn Khaldun bestehende Vorstellung von der zersetzenden Wirkung des städtischen Lebens auf die asketische Nomadenkultur trifft auf die aktuellen Entwicklungen offenbar nicht zu. Man könnte sogar meinen, dass der Fortbestand nomadischer Gruppen zunehmend von ihrer Integration in moderne urbane Strukturen abhängt.

Bei den Migrationen im Sahara-Sahelraum handelt es sich um ein relativ rezentes Phänomen. Während die Wanderarbeit in bäuerlichen Gemeinschaften Westafrikas seit der Kolonialzeit allmählich zu einem Bestandteil der Ökonomie geworden war, setzte die massenhafte Migration bei Viehhaltern erst mit der Dürre der 70er-Jahre ein. Dass Nomaden nun in großer Zahl zum Verlassen ihrer Region gezwungen waren, hat aber nicht nur ökologische Ursachen. Der umfassende soziale Kontext ihrer Ökonomie hatte sich verändert. Zum einen konnten sie auf die Krise kaum mehr durch die (Wieder-) Aufnahme landwirtschaftlicher Aktivitäten reagieren, weil die verfügbaren Anbauflächen durch Bevölkerungswachstum, "cash-crop"-Produktion et cetera merklich zurückgegangen waren.

Zum anderen waren die Grundlagen der nomadi-schen Wirtschaft mit Beginn der Kolonisation immer labiler geworden. Im Fall der Tuareg waren die Einnahmen aus dem Transsaharahandel schon vor der eigentlichen kolonialen Eroberung zurückgegangen. Ein verstärktes Ausweichen auf die Viehzucht und - regional begrenzt - den Ackerbau konnte diese Verluste eine Zeitlang kompensieren. Mit der massenhaften Einführung von Anbaukulturen für den Markt seit den 50er-Jahren jedoch wurden die Viehhalter zunehmend ihrer besten, südlich gelegenen Weiden beraubt. Die Zunahme von Motorfahrzeugen hatte zur Folge, dass auch die Dienstleistungen von Nomaden im regionalen Transportwesen immer weniger nachgefragt wurden.

Die regionalen sozio-ökonomischen Systeme erwiesen sich in der Krise als nicht länger funktionstüchtig, die Nomaden mussten ihren Handlungsraum zu einem "transnationalen" ausweiten. Dieser Begriff ist im nomadischen Kontext wenig hilfreich, da nationalstaatliche Grenzen regelmäßig überschritten werden. Sinnvoller ist es, von "Translokalität" zu sprechen, wenn "Lokalität" nicht nur räumlich, sondern als Handlungs- und Erfahrungsraum begriffen wird.

Nomadische Lebensweise bedeutet einerseits Randständigkeit und Isolation. Andererseits waren Nomaden stets auf sesshafte Bevölkerungen angewiesen. Allerdings gibt es auch Unterschiede: Bei den modernen Migrationen werden heute einerseits größere Distanzen zurückgelegt, zum anderen handelt es sich bei der modernen Migration nicht länger um Tätigkeiten, die nur von vergleichsweise wenigen beziehungsweise nur in Krisenlagen ausgeübt werden. Vielmehr ist die Migration bei den Nomaden des Sahara-Sahelraumes zu einem allgemeinen Phänomen geworden.

Während der Austausch mit Sesshaften bei traditi-onalen Nomaden begrenzt ist, sind ihm in den Städten kaum mehr Grenzen gesetzt. Doch scheinen die Migranten sich in der Stadt weitgehend auf Aktivitäten zu beschränken, die mit ihrer Herkunft, mit ihrer Nomaden-Identität assoziiert werden oder mit bestimmten nomadischen Qualitäten und Wertorientierungen in Einklang zu bringen sind. Dies trifft beispielsweise auf die Tätigkeit als Nachtwächter zu. Diese Arbeit verlangt einerseits Eigenschaften, die die städtische Bevölkerung mit dem Hirtenleben in der Wildnis assoziiert wie Tapferkeit und Wachsamkeit, andererseits sind mit ihr keine physischen Anstrengungen verbunden, die von Nomaden als beschämend empfunden werden könnten. Eine weitere bedeutende Aktivität ist der Handel mit bestimmten Gütern, der nicht selten von der Art grenzüberschreitenden, von den Staaten als illegal definierten Schmuggels ist.

Nomadische Migranten scheinen die anderweitige Vielfalt der Stadt, insbesondere das Angebot zum Erwerb neuartigen Wissens und neuartiger Güter, stärker zu nutzen als die urbanen Arbeitsmöglichkeiten. Moderne Tuaregmigranten haben die Idee einer "nationalen Befreiung" in Palästina erlernt, wo sie als Söldner für den libyschen Revolutionsführer gekämpft haben, um sie einige Jahre später in "eigene" Aufstände gegen die Regierungen ihrer Herkunftsländer zu übersetzen. Durch die modernen Wanderungen könnten auch Transformations- oder Modernisierungsprozesse befördert werden. Anders als Modernisierungstheorien postuliert hatten, haben bäuerliche Migrationen in der Regel keineswegs einen Entwicklungsschub in den Herkunftsregionen bewirkt. Einnahmen der Wanderarbeit flossen kaum je in die landwirtschaftliche Produktion und wurden sehr häufig auch nicht in andere Erwerbszweige investiert.

Vieles deutet darauf hin, dass sich migrierende Nomaden in wirtschaftlicher Hinsicht anders verhalten. Lange Zeit galten der Traditionalismus, das Festhalten an einer nomadischen Lebensweise und vor allem die Bindung an ihr Vieh als Entwicklungsproblem: afrikanische Nomaden schienen zur Modernisierung ihrer Wirtschaftsweise nicht bereit. Es stellt sich jedoch die Frage, ob nicht gerade dieses Festhalten und das Beharren auf ihrer Identität hilft, moderne Elemente in die familienwirtschaftlich orientierte Ökonomie von Nomaden zu integrieren. Das erklärte Ziel vieler moderner Nomaden, die inzwischen auch in den west- und nordafrikanischen Metropolen zuhause sind, ist die Investition ihres Verdienstes in Vieh als die Bewahrung einer nomadischen Lebens- und Wirtschaftsweise und die Erhaltung eines nomadischen Lebensraumes.

Die Migrationen von Nomaden aus dem Sahara-Sahelraum haben bislang nicht zu deren Sesshaftwerdung geführt. Die Aufenthalte in den Städten sind in aller Regel kurz; an eine Niederlassung ist nicht gedacht. Ein "Sich-Einrichten" findet in begrenztem Maße statt; Nomaden leben in den Städten als "Fremde".

Auch die Sahara-Touristen werden von der Idee des Fremden angezogen. Sie wollen gerade nicht die Assimilation der nomadischen an die westliche Lebensweise. Sie erwarten das ganz Andere, das (exotische) "Fremde" zu sehen, und sie bekommen in aller Regel, was sie erwarten und wofür sie zahlen. Die Begegnungen der Nomaden mit Touristen in der Sahara und ihre Migrationen aus dem Sahara-Sahel-Raum in die Städte West- und Nordafrikas aber deuten an, dass die Marginalität dieser Nomaden heute weit geringer ist, als gewöhnlich unterstellt wird. Überhaupt ist die Vorstellung, Sahara und Sahel seien Randgebiete der bewohnten Welt und nur peripher im Vergleich zum westlichen Zentrum, angesichts eines immer dichter werdenden globalen Austausches kaum noch aufrechtzuerhalten.

Dr. Elisabeth Boesen ist Ethnologin am ZMO und arbeitet derzeit mit Georg Klute in einem Forschungsprojekt über "Moderne Migrationen von Nomaden". Georg Klute ist Professor für Ethnologie Afrikas an der Universität Bayreuth.


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