Die immer neuen Schreckensmeldungen vom Ausmaß der Epidemie in Afrika haben dazu geführt, die Bekämpfung der Krankheit zu einer der wichtigsten gesundheits- und entwicklungspolitischen Aufgaben der Weltgemeinschaft zu machen. Im Juni 2001 diskutierte sogar der Weltsicherheitsrat darüber. Nach UNAIDS trugen im Jahr 2003 circa 25 bis 28 Millionen Afrikaner das Virus in sich. Im selben Jahr haben sich 3,2 Millionen Menschen neu angesteckt. Dabei gibt es extreme Unterschiede in der Verbreitung der Epidemie sowohl innerhalb der einzelner Länder, insbesondere zwischen Stadt und Land. Während nur ein Prozent der mauretanischen Bevölkerung betroffen ist, führen Botswana und Swaziland mit 40 Prozent Infizierten weltweit die Statistik an.
Im Unterschied zu den westlichen Ländern verbreitet sich AIDS in Afrika vornehmlich durch heterosexuelle Beziehungen und tangiert so die Geschlechterbeziehungen fundamental. In den besonders betroffenen Gebieten von Ost-, Zentral- und Südafrika sind vor allem die ökonomisch und sexuell aktivsten Bevölkerungsgruppen sowie die Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren infiziert, wobei die Zahl der jungen Frauen die der jungen Männer um das Zweieinhalbfache übersteigt. Noch düsterer sieht die Zukunft aus, wenn man sich die Infektionswege genauer anschaut. Eine von fünf Müttern im südlichen Afrika trägt laut UNAIDS das HI-Virus in sich; die Zahl der Waisen steigt angesichts der hohen Mortalität der Elterngeneration beständig.
Das nicht enden wollende Sterben setzt die Ordnung der Dinge außer Kraft, verlangt nach Sinndeutung und Erklärung, nach Überprüfung alter Traditionen im Bereich von Sexualität, Fruchtbarkeit und Tod, mobilisiert Krisenerfahrungen und Bewältigungsstrategien. AIDS greift tief in die Lebensverhältnisse der Betroffenen ein. Was sich auf individueller Ebene als persönlich-familiäre Tragödie entfaltet, erschüttert auf kollektivem Niveau die bescheidenen Erfolge, die afrikanische Staaten trotz ständiger Katastrophenmeldungen erzielt haben. Eindeutiges Zeichen dafür ist der Rückgang der Lebenserwartung, die in den Ländern des südlichen Afrika dramatisch gesunken ist. In Botswana fiel sie von 64 Jahren (1980) auf 38; in Sambia von 54 auf 37 Jahre.
Die kurz- und langfristigen Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft sind längst nicht absehbar. Der durch AIDS bedingte Mangel an qualifizierten Arbeitskräften ist nicht so schnell ersetzbar und stellt neue Anforderungen an Unternehmen und das Arbeitsrecht. Das Bildungswesen steht angesichts der Tatsache, dass eine ganze Generation gut ausgebildeter Beamter, Unternehmer und Akademiker Opfer der Epidemie geworden ist, vor fast unlösbaren Problemen.
Auch im sozialen Bereich sind die Folgen gravierend. Die Solidarität der Großfamilien lässt sich angesichts der Opfer nur noch bedingt aufrechterhalten, obwohl es falsch wäre von einem Zusammenbruch der Solidarbeziehungen zu sprechen. Die Rückkehr der Kranken und Sterbenden in ihr heimatliches Dorf, in dem sie beerdigt werden müssen, um die Familien vor weiterem Unglück zu schützen, garantiert zwar den emotionalen und rituellen Zusammenhalt innerhalb der Verwandtschaftsgruppen, ist aber auch Ursache für die Zunahme innerfamilialer Zerwürfnisse. Da die Bewältigung von Krankheit und Tod in Afrika zur Aufgabe der Lineageverbände gehört, werden die Todesursache und deren Deutung kollektiv ausgehandelt und führen zu Schuldzuweisungen, Hexereianklagen und Konflikten, die sich hauptsächlich an den Auseinandersetzungen über Erbschaftsregeln entzünden. Vor allem Gesellschaften mit matrilinearer Erbfolge sind konfliktanfällig, da es hier zu grundlegenden Interessenkonflikten zwischen der Wertegemeinschaft der Lineage als kollektivem Eigentümer von Land und den Witwen und Waisen des Verstorbenen kommt. Das berüchtigte "property-grabbing" der Verwandten mütterlicherseits ist zu einem Symbol der gegenwärtigen Krise des Verwandtschaftssystems geworden, das zwar auch schon vor der Epidemie bestand, durch diese aber beschleunigt wurde.
Gescheiterte Kampagnen
In diesem Kontext stellt sich die Frage nach den Handlungsstrategien afrikanischer Staaten im Umgang mit ihr. Trotz des Problems von Verallgemeinerungen angesichts der Heterogenität staatlichen Handelns legten die Regierungen des südlichen Afrika nach einer Phase anfänglicher Passivität in den 80er-Jahren ihr Hauptgewicht auf die Prävention. Afrikas Städte sind voll mit Plakaten, die vor ungeschütztem Geschlechtsverkehr warnen, dauerhafte Partnerschaften oder wenigstens Kondome empfehlen. Auch in den Medien ist das Thema ständig präsent, ohne dass die Bereitschaft der Bevölkerungen zur Prävention nennenswert zugenommen hätte. Die meisten Experten sind sich in der Einschätzung des Scheiterns der Kampagnen einig, sieht man von wenigen Ländern wie Uganda und Zambia ab, die ihre AIDS-Raten signifikant senken konnten.
Gründe für das Scheitern gibt es viele. Einer der wichtigsten liegt in der Übernahme westlicher Aufklärungsmodelle, die lokale Vorstellungen von Sexualität und Fruchtbarkeit ebenso missachten wie die darin implizierten Konzeptionen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Die den Zusammenhang von Prävention, Armut und Verhandlungsmacht gerade im Hinblick auf die Vulnerabilität junger Mädchen und Frauen unterbewerten; gleichzeitig aber den Wunsch nach Konsum und besseren Lebensbedingungen unterschätzen. Und die aufgrund der Alltäglichkeit von AIDS den Abstumpfungseffekt ignorieren, der durch die beständige Propagierung der Gefahr eher verstärkt wird. Dass tansanische junge Männer und Frauen AIDS mit einem Unfall auf der Straße gleichsetzen, muss auch als Absage an das westliche Konzept vom "Gesundheitsmanagement" des eigenen Körpers gelesen werden.
Das Staatsversagen beschränkt sich indes nicht nur auf die präventive Ebene, sondern wirkt sich noch drastischer bei der konkreten Bekämpfung der Seuche aus. Es fehlt an Grundlegendem. Mangelnde finanzielle Mittel verhindern eine flächendeckende Grundversorgung mit westlichen medizinischen Einrichtungen, deren technische Ausstattung ebenso mangelhaft ist wie ihr Personalbestand. Strukturen der Ungleichheit im nationalen und internationalen Kontext bestimmen den Zugang zu den lebensverlängernden antiretroviralen Medikamenten, die sich die große Mehrzahl der Betroffenen - trotz den Konzernen abgerungener Kostensenkungen - nicht leisten kann. Selbst Vitamine oder andere Aufbaupräparate sind für sie unerschwinglich. Deshalb wenden sich die Schwächsten an internationale und nationale NGOs, die Hilfe und konkrete Versorgung im Krankheitsfall anbieten. Einige dieser Organisationen engagieren sich auch dafür, den HIV-Infizierten wieder eine Perspektive zu geben, indem sie - "Living Positively with HIV" - der "Kultur des Schweigens" entgegentreten, um die Ausgrenzung und Stigmatisierung der Kranken zu bekämpfen.
Geistlicher Beistand - praktische Hilfe
Neben den NGOs sind es religiöse Institutionen, islamische und christliche Organisationen, die die Infizierten und Erkrankten sowohl durch ihren geistlichen Beistand als auch durch materielle und praktische Hilfe unterstützen. Während sich die ehemaligen Missionskirchen oft auf Aufrufe zur Keuschheit oder Kondombenutzung beschränken und die Wiederherstellung eines moralischen Lebens einklagen, gehen die Pfingstkirchen sehr viel offensiver vor. Ihrer Auffassung nach stellt AIDS eine Strafe Gottes für moralische Verfehlungen dar, die nur durch "Errettung" geheilt werden kann. Indem sich die Kranken von ihrem alten Leben lossagen und nach den Regeln der Kirche leben, können sie auf die Errettung durch Gott oder den Heiligen Geist vertrauen.
Die ungeheure Expansion dieser Kirchen in Schwarzafrika, die aufgrund internationaler Wirtschaftbeziehungen und häufig auch finanzieller Unterstützung aus den USA zum Teil potente Unternehmen darstellen, ist ohne Zweifel auf ihre erfolgreiche AIDS-Arbeit zurückzuführen. Der Preis dafür ist hoch: Die Ideologie der Errettung entzweit Familien, schwächt Verwandtschaftsbande und zerstört die Achtung vor der Tradition, die mit den Ahnen und dem eigenen Schöpfer in Verbindung gebracht wird. Zudem verstärken diese Kirchen mit ihrer moralischen Verdammung die Stigmatisierung der AIDS-Kranken, während die Mitglieder der radikaleren NGOs sich offen zur Krankheit bekennen.
Der Zusammenhang von Krankheit, Moralität und Identitätsverlust verdeutlicht keineswegs nur die individuelle Seite der Krankheitserfahrung, sondern spiegelt den gesellschaftlichen Diskurs wider, der die rapide Ausdehnung von AIDS als Konsequenz einer falsch verlaufenen gesellschaftlichen "Entwicklung" darstellt. "Omukithi gwonena" wird die Epidemie in Namibia genannt - "modern" oder auch "development disease" (Reimer Gronemeyer/Mathias Rompel).
Damit wird die Zunahme von AIDS im Verständnis der lokalen Gemeinschaft eindeutig als Folge der Veränderungen verstanden, die sich durch die Modernisierung und die mit ihr verknüpften Mobilitäts- und Zeitstrukturen ergeben haben. Der kapitalistischen Wirtschaft wird dabei die größte Zerstörungskraft zugeschrieben, da "die Gier nach Geld" die Beziehungen zwischen den Generationen sowie zwischen Männern und Frauen grundlegend verändert hat. Die dramatische Zunahme sozialer Ungleichheit, die zu Bin-dungslosigkeit, fehlendem Gehorsam und Respektlosigkeit sowie zur Ausbreitung von käuflichem Sex führt, sind in den Augen vieler Afrikaner Zeichen einer fehlgeleiteten Entwicklung, die die Moderne zum Symbol von Sittenlosigkeit und Verfall macht.
In dieser Deutung spiegelt sich nicht nur der klassische Bruch mit dem Alten und das Heraufkommen einer "Neuen Zeit"" (Koselleck), sondern auch grundlegende Zweifel an der Sinnhaltigkeit der eigenen gesellschaftlichen Entwicklung. Gleichwohl ist Afrika nicht nur Opfer der Krise, sondern begreift diese auch als Chance, überfällige Transformationsprozesse einzuleiten. Das schließt die Modernisierung des traditionalen Familienrechts nach westlichem Vorbild ebenso ein wie die Veränderung "traditioneller" Heilverfahren durch biomedizinische Erkenntnisse und die Überprüfung von althergebrachten Traditionen im Bereich von Sexualität und Fruchtbarkeit. In bezug auf Letzteres erweist sich indes, dass die Rückkehr zu den alten Regelungen gegebenenfalls ebenso sinnvoll sein kann.
Ute Luig ist Professorin für Sozialanthropologie an der Freien Universität Berlin.