Bevor die Frauen mit den schweren Bündeln auf dem Kopf das Ziel ihres Fußmarsches erreichen, legen sie im Schatten eines Baumes eine Ruhepause ein. In den wenigen Minuten der Erholung von der stechenden Sonne in der Savanne holen sie aus ihren Bündeln Sandalen aus weichem, aufgeschäumten Plastik hervor. Damit laufen sie die letzten Meter zum Markt. Sie wissen nur zu gut, wie schlecht haltbar ihre Fußbeklei-dung ist. Deshalb legen sie die Sandalen erst kurz vorher an. Auf dem Markt werfen sich alle Besucher in ihre besten Gewänder. Kaum jemand käme hierher ohne Sandalen oder Schuhe.
Die Sandalen stammen meist aus China oder Thailand und gehören zu den alltäglichen Gütern. Auch auf den ländlichen Märkten in Westafrika sind fast überall Händler zu finden, die mit einigen Dutzend Paaren solcher Sandalen und anderen Waren auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads morgens zum Markt kommen. Durch ihre Auslagen mit bunt leuchtenden Sandalen und nicht weniger grell gefärbten Plastikgefäßen versuchen sie, die Aufmerksamkeit potentieller Käufer auf sich zu ziehen. Plastiksandalen sind - wenigstens im ländlichen Afrika - bei Männern und Frauen beliebt.
Zu ihrer Verbreitung hat der niedrige Preis beigetragen, der diese Güter für viele erschwinglich macht. Mit 70 Cent bis 1 Euro sind die Plastiksandalen in Burkina Faso etwa halb so teuer wie die seit Jahrhunderten in der Region hergestellten aus Leder. Einerseits hat der Preisunterschied das Handwerk der Lederarbeiter weitgehend zum Verschwinden gebracht, andererseits haben die billigen Industrieerzeugnisse für große Gruppen der Bevölkerung das Tragen irgendeiner Fußbekleidung erst ermöglicht. In diesem Sinne sind die Plastiksandalen nicht nur ein Ersatz für ihr lokal hergestelltes Gegenstück aus Leder, sondern lassen neue, zuvor undenkbare Formen des Konsums zu.
Das gilt besonders für Frauen, die vor der Einführung dieser Plastikschlappen ohne Schuhwerk unterwegs waren. Wer die steinigen Pfade und die zahlreichen Dornensträucher an den Wegrändern in Afrika kennt, wird nicht bezweifeln, dass diese Sandalen eine echte Erleichterung darstellen - wenn sie denn getragen werden. Denn so niedrig ihr Preis, so kurz ist auch ihre Lebensdauer in einer Gegend, in der nur wenige Wege eben sind. Schon nach wenigen Wochen lösen sich Teile der Plastiksohle auf. Oder die dünnen Plastikriemen reißen. Eine Taktik, dem Zerfall der Sandalen zu entgehen, ist die Schonung auf Kosten der bloßen Füße, die dann den spitzen Steinen und Dornen ausgesetzt sind.
Auf dem gleichen Markt findet man aber auch Sandalen-Flicker, die allerlei Reparaturen ausführen. Nicht selten handelt es sich um den gleichen Handwerker, der früher seine Fertigkeiten zur Bearbeitung von Leder anbot und nun mit anderen Techniken auf Kundschaft wartet. So hat ein Sandalenflicker neben Resten alter Plastiksandalen als Lager für Ersatzteile stets Eisendraht vorrätig, um gerissene Riemen zusammenzufügen. Er unterhält an seinem Marktstand auch ein Holzkohlenfeuer, an dem er Ränder von Plastikteilen einschmilzt, um sie miteinander zu verkleben. Solche Reparaturen kosten zwischen 5 bis 15 Cent. Für manchen Benutzer dieses Schuhwerks sind sie eine immer wieder notwendige Erledigung auf dem Markt.
Plastiksandalen haben die Tätigkeit dieser Handwerker grundlegend verändert, ihnen aber nicht die Möglichkeit des Broterwerbs genommen. Das gilt auch für das Handwerk des Schneiders, der heute in Westafrika viel häufiger mit der Reparatur von Secondhand-Kleidung befasst ist, als mit dem Nähen von Gewändern aus lokal hergestellten Stoffen.
Plastiksandalen stehen hier für viele Alltags-Gegenstände, die in Afrikas Haushalten Verwendung finden: Gefäße aus Plastik, Emaille oder Aluminium. Oder die Bekleidung, die zum großen Teil aus Altkleidersammlungen der Konsumgesellschaften stammt. Oder Haushaltsgeräte wie Messer, Löffel, Siebe. All die importierten Sachen, oft aus China und anderen Ländern Asiens oder Europas, machen einen großen Anteil der materiellen Güter aus. In einer Studie über ländliche Haushalte im südlichen Burkina Faso wurde festgestellt, dass weit über die Hälfte der Alltagsgüter von außerhalb Afrikas stammt. Es handelt sich zum Teil um Dinge, die an die Stelle lokaler Erzeugnisse getreten sind. Das gilt für Keramik, die durch Plastik- und Metallgefäße ersetzt wird, oder für Bekleidung, die früher von Webern der Region aus Baumwolle gefertigt wurde.
Von der Anzahl bedeutender ist die Zahl der Güter, die es früher nicht gab und die als Ausdruck einer Expansion zu verstehen sind. So wie die Frauen nicht mehr barfuß laufen wollen - wenigstens nicht, wenn sie auf dem Markt ankommen -, so gibt es zahlreiche Dinge, die, auch wenn sie erst in den vergangenen Jahrzehnten gebräuchlich wurden, heute zu den unverzichtbaren Alltagsgütern gerechnet werden.
Der rasche Wandel des Konsums und die Selbstver-ständlichkeit, mit der diese neuen Sachen im Alltag verwendet werden, stehen in deutlichem Widerspruch zu einem in Europa verbreiteten Bild der afrikanischen Gesellschaften. Dort überwiegt nach wie vor der Glaube, der afrikanische Alltag werde weitgehend aus lokalen Ressourcen bestritten und das Leben gestalte sich unabhängig von weltweit verbreiteten Mustern des Konsums. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade Konsumgüter des Alltags sind ein Bereich, in dem Einflüsse von außerhalb Afrikas eine große Rolle spielen. Die oft explizit ausgedrückte Wertschätzung solcher Dinge ist zudem als Zeichen der Offenheit afrikanischer Gesellschaften gegenüber Neuem zu verstehen. Die Praxis der Aneignung solcher Güter ist auch lebendiger Ausdruck der Überlebensfähigkeit dieser Gesellschaften. Die Gegenwart derart globaler Güter wird keinesfalls als Bedrohung für die eigene Kultur empfunden oder als Entfremdung. Im Gegenteil, viele neue Sachen sind hoch begehrt, ihr Besitz gilt als Ausdruck besonderer Weltoffenheit und Wohlstandes.
Zugleich geht die Aneignung der Güter mit der kreativen Ausformung eigener Vorstellungen und Techniken des Gebrauchs einher. Gebrauchsweisen, Wissen über Dinge und die Einordnung in spezifische Kontexte der lokalen Gesellschaften sind aber auch kontrovers empfundene Prozesse, die Zeit brauchen. Der Übergang von einer lokalen Ordnung, in der - auf das Beispiel der Sandalen bezogen - das Tragen der teuren, zum Teil kunstvoll verzierten Ledersandalen ein exklusives Vorrecht älterer Männer war, bis zu dem heutigen Zustand, in dem jedermann seine Plastiksandalen trägt, impliziert nicht nur ein neues Konsumverhalten, sondern hat auch eine neue soziale Einordnung von Kleidung insgesamt zur Folge, und damit ein Stück weit auch eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses. Frauen entscheiden selbst, ob sie solche Sandalen erwerben, so wie überhaupt ein großer Teil der neuen, alltäglich gebrauchten Konsumgüter von ihnen beschafft und verwendet wird. Diese Dinge eröffnen Frauen neue Möglichkeiten der Artikulation. Sie tragen außerdem dazu bei, alte Vorstellungen über Geschlechtsunterschiede zu überwinden.
Neue globale Güter führen aber auch zu neuen sozialen Unterschieden. Ein Beispiel dafür ist die Situation der jungen Männer, die mit Luxusobjekten wie Kleidung, Radio, Armbanduhr aus der Arbeitsmigration an die Orte ihrer Herkunft zurückkehren und somit ein Konsummuster vorführen, das mit lokalen Mitteln unerreichbar wäre. Die wenigen, die sich solche Dinge leisten können, markieren zugleich ihre Überlegenheit im sozialen Ansehen. Die anderen haben keine Chance, mit ihnen gleich zu ziehen.
Dieser Kontext ermöglicht ein besseres Verständnis der geschilderten Handlungsweisen der Frauen auf dem Weg zum Markt. Trotz dem niedrigen Preis ist der Erwerb solcher Sandalen für sie keine Selbstverständlichkeit. Für viele stellt es vielmehr eine große Ausgabe dar. Da sie auf dem Markt dennoch zeigen wollen, dass sie es sich leisten können, müssen sie die Sandalen bis unmittelbar davor schonen. Nicht anders verhält es sich mit Kleidung: die Anschaffung "neuer" Secondhand-Sachen ist für viele Frauen eine große Belastung. Daher ziehen sie es vor, diese Stücke nur am Markttag zu tragen. Wenn sie schon nicht über Radio und Armbanduhr verfügen, wollen sie mit ihren geringen Mitteln dennoch zeigen, dass sie mit anderen mithalten können.
Neben Ledersandalen und Plastikschlappen jedoch gibt es noch eine dritte, überall in Afrika verbreitete Form des Schuhwerks: Sandalen aus Autoreifen, echte Recycling-Objekte, die von vielen Handwerkern nach dem immer gleichen Prinzip hergestellt werden. Aus der Profilseite des Reifens werden die Sohlen zurechtgeschnitten und die flexiblen Seiten sind als Ausgangsmaterial für die Riemen verwendbar. Durch Drahtstifte werden die Teile miteinander verbunden und ergeben eine besonders stabile Form von Sandalen, die dazu mit 50 Cent auch recht günstig ist. Die recycelte ist im Gegensatz zur Ledersandale nicht empfindlich gegen Feuchtigkeit; gegenüber dem weichen Plastik ist sie durch ihre größere Haltbarkeit von Vorteil. Allerdings sind wenigstens im Süden Burkina Fasos Frauen kaum mit diesen Sandalen anzutreffen. Beliebt sind sie eigentlich nur bei den Bauern, die angesichts der immer größeren Distanzen zu ihren Feldern deren besondere Robustheit schätzen.
Im Vergleich zwischen der Plastikschlappe und dem Recyclingmodell zeigt sich, dass der Gebrauch der neuen Güter nicht nur an Erwägungen der Nützlichkeit gebunden ist. Er ist auch Ausdruck lokal dominierender Moden und - trotz großer Armut - der genauen Vorstellung davon, wie "richtige Kleidung" auszusehen hat. Recycling-Sandalen werden im Vergleich nicht ohne Spott beschrieben. Man erkennt in der neuen Verwendung jedoch auch die Kreativität im Umgang mit dem, was an globalen Gütern verfügbar ist. Und an abgenutzten Reifen herrscht in Burkina Faso kein Mangel.
Kreativität und Verwendung sonst unbrauchbarer Reifen sind die eine Seite. Auf der anderen steht das Faktum, dass kaum ein Bauer die Möglichkeit hat, jemals einen Pkw zu besitzen. Bei den Kasena im Süden Burkina Fasos kommen Aneignung und Distanz auch in der Benennung der Sandalen zum Ausdruck. Man nennt sie, nicht ohne ironischen Unterton, kar-kobi - das, "was das Auto zurückgelassen hat".
Hans Peter Hahn ist Privatdozent für Ethnologie an der Universität Bayreuth.