In der politischen Sprache gibt es Sätze, die alle fünf Jahre hervorgekramt und dann immerfort verwendet werden. "Das hohe Amt des Staatsoberhaupts entzieht sich öffentlichen Erörterungen." Oder: "Über die Nachfolge des Bundespräsidenten zu spekulieren, verbietet die Würde des Amtes." Und: "Die Kandidatur für die Funktion des Staatsoberhaupts verträgt sich nicht mit parteipolitischem Gezänk." Alle diese Floskeln sind so abgegriffen und wertlos wie manche andere Formeln aus dem manchmal hohlen und unehrlichen politischen Wortschatz.
Denn fast jedesmal, wenn ein neuer Bundespräsident zu wählen ist, zanken sich die Parteien heftig um diese Spitzenpersonalie und es wird emsig spekuliert - nicht nur im politischen Raum, sondern auch in den Medien. So ist es auch jetzt, elf Wochen vor dem Tag der Präsidentenwahl am 23. Mai, dem Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes. Für diesen 23. Mai ist die 12. Bundesversammlung einberufen worden, der alle Bundestagsabgeordneten und ebensoviele Abgesandte aus den Ländern angehören, insgesamt also 1.206 Wahlfrauen und -männer. Sie haben das neunte Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 zu bestimmen: den Nachfolger oder die Nachfolgerin von Johannes Rau, der seit 1999 amtiert und wegen seiner persönlichen Lebensplanung in den Ruhestand geht.
Bisher stellte die CDU viermal den Bundespräsidenten (Heinrich Lübke, Karl Carstens, Richard von Weizsäcker, Roman Herzog), die FDP zweimal (Theodor Heuss, Walter Scheel) und die SPD ebenfalls zweimal (Gustav Heinemann und Johannes Rau). Bemerkenswert ist, dass in den 55 Jahren seit Gründung der Republik die CDU insgesamt 30 Präsidentenjahre hatte, die FDP 15, die SPD zehn. Vor diesem Hintergrund ist verwunderlich, dass ausgerechnet die überproportional bevorzugten Liberalen ihren Anspruch anmeldeten, schon wieder das Amt des Staatsoberhaupts zu besetzen.
Allein diese Tatsache belegt, dass es keineswegs um "die Würde des hohen Amtes" geht, über das "nicht spekuliert" werden dürfe, um es "nicht zu beschädigen". Es geht auch nicht um die beste Besetzung für die Funktion des obersten Staatsrepräsentanten und auch nicht darum, dass nach acht Männern endlich einmal eine Frau oder auch jemand aus Ostdeutschland dran wäre. Es ging immer und geht auch diesmal ausschließlich um parteipolitische Interessen. Obwohl etliche Namen ins Spiel gebracht wurden, ging es nicht um die Person oder um die Qualifikation des künftigen Präsidenten oder der Präsidentin, sondern um die Zukunft der Parteivorsitzenden, die sich über eine Kandidatur verständigen müssten. Dass es dabei in den Oppositionsparteien auch um Ausgangspositionen für den Anlauf zur nächsten Kanzlerkandidatur und um künftige Koalitionen ging, war eine unübersehbare Begleiterscheinung.
Was sich in den vergangenen Monaten abgespielt hat, war nach übereinstimmender Meinung der Medien eine "würdelose Hängepartie", "Kabale und Kuhhandel" und hat "die nach unten offene Niveauskala weiter gedrückt".
Noch nie wurden so inflationär viele Namen in die Öffentlichkeit gestreut wie diesmal. Dass bisher das Amt trotzdem nicht wirklich ernsthaft beschädigt worden ist, kann nur mit einer Erkenntnis zu tun haben: Trotz regelmäßigen Schachers um den Posten im Vorfeld der Wahl haben alle Bundespräsidenten (bis auf Lübke, der mit unbeholfenen Versprechern ständig für Heiterkeit sorgte) eine gute Figur abgegeben. Auch Herzog, der 1994 nur als Ersatzkandidat für den von Helmut Kohl auserkorenen und dann zurückgezogenen Steffen Heitmann zum Zuge kam.
Diejenigen, deren Namen jetzt in Zeitungen zu lesen waren, konnten sich nicht dagegen wehren. Denn sie wurden gar nicht gefragt, ob sie bereit wären oder nicht, sondern sie wurden als Spielmaterial, Täuschungsfiguren und menschliche Manövriermasse behandelt.
In der Wirklichkeit bestimmen nicht die 1.206 Mitglieder der Bundesversammlung, sondern nur drei: die CDU-Vorsitzende Angela Merkel, der CSU-Chef Stoiber und der FDP-Chef Guido Westerwelle. Ihre Parteien besitzen dort die Mehrheit. Und sie kalkulierten, dass sich ihre innerparteilichen Positionen und ihre überparteiliche Bedeutung damit verknüpfen, dass sie den Kandidatenhandel erfolgreich abschließen. Die unter öffentlicher Anteilnahme abgelaufene Posse, wie sich bei einem von allen Fernsehsendern beobachteten "Geheimtreffen" in Westerwelles Berliner Wohnung das Trio Merkel/Stoiber/Westerwelle nicht verständigen konnte und schließlich der erklärte Favorit der CSU, Wolfgang Schäuble, am Widerstand der FDP und am mangelnden Durchstehvermögen der CDU scheiterte, war nicht nur unwürdig, sondern erbärmlich.
Zwei geeignete Persönlichkeiten
Kurz bevor die staunende Öffentlichkeit des Gezerres überdrüssig wurde, präsentierten die Oppositionsparteien mit Horst Köhler einen kaum bekannten, aber beachtlichen Bewerber. Der Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist ein Fachmann mit ökonomischer Kompetenz. Sein Name war schon mehrmals ins Spiel gebracht worden, aber niemand hatte ihm ernsthaft eine Chance gegeben. Die SPD, die sich angesichts des Kandidaten-Chaos zuletzt amüsiert zurückgelehnt hatte, benannte als Gegenkandidatin die Präsidentin der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder, Gesine Schwan, ebenfalls eine Persönlichkeit, die im höchsten Staatsamt sicherlich eine gute Figur machen würde.
Beide werden aber zu spüren bekommen: das Amt ist ramponiert wie noch nie. Der Bundespräsident, das wurde spätestens jetzt offensichtlich, ist ein Spielball strategischer Strippenzieher, ein Opfer parteilicher Taktik und am Ende ein Ergebnis politischer Mathematik. Doch nach dem 1. Juli, wenn das neue Staatsoberhaupt sein oder ihr Amt angetreten hat, wird dieses Gezerre vergessen sein. Dann zählt nur noch: Kann der oder die Gewählte das Amt ausfüllen? Auch wer scheinbar zweite Wahl war, kann sich noch Respekt verschaffen.