Im Jahr 2000 trat Volker Rühe als CDU-Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein an, um die Regierung von Ministerpräsidentin Heide Simonis abzulösen. In seinem Programm fand sich eine kleine Sensation. Neben die bis dahin von der Koalition propagierte Ostseezusammenarbeit sollte eine Nordseekooperation treten. Dieser Ansatz war neu. Nach der verlorenen Wahl geriet dieser Plan jedoch wieder in Vergessenheit.
Schleswig-Holstein liegt zwischen zwei Meeren: der Ostsee und der Nordsee, die die Dänen zutreffender Vesterhavet (Westmeer) nennen. Warum sind nur die Nachbarn im Ostseeraum aber nicht die Nordseeanrainer im Fokus der Kieler Regierung? Und vor allem: Was hat diese "Nebenaußenpolitik" dem nördlichsten Bundesland bislang gebracht ?
Auf die erste Frage gibt es eine geographische, eine historische und eine politische Antwort. Das Meer verbindet immer dann, wenn Schiffe fahren. Kiel und Lübeck liegen als einzige nennenswerte Fährhäfen des Landes an der Ostsee. Historisch hatte es Schleswig-Holstein immer mit den Machtzentren des Ostseeraumes zu tun. Über Jahrhunderte befanden sich die Gottorfer Herzöge im machtpolitischen und dynastischen Spannungsfeld zwischen St.Petersburg und Kopenhagen.
Wirklich entscheidend für die spätere politische Ostsee-Ausrichtung des Landes aber war die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. 1945 fiel östlich von Lübeck der Eiserne Vorhang. Schon bald darauf begannen Kiel und Lübeck, auf kommunaler Ebene Kontakte nach Skandinavien und sogar in den kommunistischen Machtbereich zu knüpfen. Sportereignisse wie die Kieler Woche halfen dabei. Höhepunkt war die Begründung einer Städtepartnerschaft zwischen Kiel und Tallinn im damals noch sowjetisch besetzen Estland. Wenig später folgten sogar formelle Freundschaften mit Königsberg (Kaliningrad) und Tilsit (Sovietsk).
Die Mächtigen in Ost und West tolerierten diese Politik des angelehnten Fensters. Während deutsche Spitzenpolitiker Besuche im Baltikum vermieden, um keine Anerkennung der sowjetischen Okkupation zu implizieren, schüttelten Kiels Stadtväter in Tallinn fleißig die Hände ihrer kommunistischen Amtskollegen.
Bis 1988 ignorierte die damalige CDU-Landesregierung diese Entwicklung. Man ließ die Städte zwar gewähren, tat sich mit eigenen Aktivitäten aber schwer. Mit der Regierungsübernahme durch Björn Engholm änderte sich das schlagartig. Außenpolitik wurde Chefsache. Der neue Ministerpräsident besuchte die Nachbarn, knüpfte Kontakte und förderte den kulturellen Austausch. Und auch nach dem Wechsel von Engholm zu Simonis 1993 blieb die Ostseekooperation wichtig. Die Federführung wechselte von der Staatskanzlei zu Justiz- und Europaminister Gerd Walter, der durch seine vielfältigen Kontakte schnell zum "Mister Ostsee" avancierte.
Gleichwohl änderten sich ab 1992 die Rahmenbedingungen entscheidend. Mit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten und den ersten Überlegungen zur EU-Osterweiterung gewann die Ostseekooperation nationales Format. Gesprächspartner der Regierungen von Finnland, Estland oder Dänemark war ohnehin in erster Linie Berlin und nicht Kiel. Geblieben ist die Zusammenarbeit auf Gebieten, wo ausschließlich die Länder zuständig sind, vor allem beim kulturellen Austausch. Bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität steht die Landespolizei in enger Beziehung mit den Kollegen im Baltikum. Und die Investitionsbank Kiel ist zur zentralen Abwicklungsstelle der EU-Förderprogramme für den Ostseeraum geworden.
Was früher sensationell und politisch heikel war, ist heute Normalität. Betrachtet man die Besuchsprogramme bei offiziellen Reisen von Ministerpräsidentin Simonis nach Skandinavien, so erscheint manches Treffen mit Regierungsmitgliedern des Gastlandes inzwischen als reine Höflichkeit. In den Beziehungen zu Polen konzentriert sich Kiel auf die Ebene der Wojwodschaften. An Glanz und politischer Bedeutung verloren hat die Konferenz der Parlamentarier des Ostsee-Raums, zu der alljährlich der Landtag anlässlich der Kieler Woche einlädt. Während früher viele Parlamente ihre erste Garnitur an die Förde schickten, sind heute manche Staaten gar nicht mehr vertreten.
Wirtschaftlich hat die Ostseekooperation Schleswig-Holstein bislang nicht nennenswert vorangebracht. Direktinvestitionen der skandinavischen Nachbarn sind selten. Und umgekehrt finden die Produkte der mittelständisch geprägten Wirtschaft Schleswig-Holsteins nur selten den Weg in die Regale der Ostseeanrainer. In einem finnischen Supermarkt ist zwar die Konfitüre eines hessischen Herstellers erhältlich, nicht jedoch das Produkt aus Bad Schwartau.
Harte Konkurrenten
Auch die millionenschweren Dienstleistungsverträge zwischen finnischen Sozialversicherungsträgern und medizinischen Einrichtungen über Herzoperationen und Hüftgelenke gehen an Schleswig-Holstein vorbei nach Großbritannien oder in die Niederlande - Ergebnis einer intensiven Akquisitionsstrategie, wie sie ein finanzschwaches Bundesland allein nicht leisten kann. Einzig die frühere Landesbank Kiel (heute HSH Nordbank) schaffte es, sich mit einer konsequenten Strategie im gesamten Ostseeraum gut aufzustellen.
Die Regierung in Kiel hat aus der Entwicklung den richtigen Schluss gezogen. Sie hat die Ostseekooperation vom Kabinettsrang auf Referentenebene degradiert und konzentriert sich heute stattdessen auf die über Jahrzehnte hinweg vernachlässigte Zusammenarbeit mit dem Nachbarn Hamburg - mit Erfolg, wie die Zusammenlegung der Landesbanken und wichtiger Behörden zeigt. Damit hat ein wohl nicht mehr umkehrbarer Paradigmenwechsel in der "Außenpolitik" Schleswig-Holsteins stattgefunden - vom Nordosten nach Süden.