Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 19.04.2004
Zur Druckversion .
Andrea Dunai

Noch verhält sich der Gesetzgeber oft wie ein Macho

Ungarns Frauen müssen selbstbewusster werden

"Braucht Ungarn überhaupt den Feminismus?", fragte die führende ungarische Sozialwissenschaftlerin Zsuzsa Ferge 1987. Sie wusste genau, warum sie diese Frage stellte. In der Ära Kádár trug die durchschnittliche ungarische Frau wie eh und je den Nachnamen ihres Ehemannes, ging täglich acht Stunden zur Arbeit, kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder. Die berufliche Karriere galt als Männersache - abgesehen von den Vorzeigefrauen in Partei und Staat.

Westliche Frauenforschung, die die osteuropäischen Staaten nach der Wende mit Vorliebe zum Gegenstand ihrer Analysen machte, musste in Ungarn zunächst gründliche Aufklärungsarbeit leisten, denn die Wellen der feministischen Bewegungen waren an den ungarischen Frauen vollkommen spurlos vorbeigegangen. Frauen für Frauen haben in der Ära Kádár nur einmal ihre Stimmen laut erhoben: 1973, als die Regierung plante, das Abtreibungsgesetz zu verschärfen, hatten einige Studentinnen gegen diese Maßnahme eine Unterschriftensammlung organisiert. Zur Vollständigkeit gehört die Tatsache, dass diese Aktivistinnen bereits vor der Wende das Land verlassen hatten, ohne ihr geistlich-feministisches Erbe neuen Kandidatinnen zu überlassen.

In diesem Nichts brach die politische Wende von 1988/89 an. Das erste Zeichen der marktwirtschaftlichen Umstellung, die Massenentlassungen, hat zunächst infolge der Rationalisierung der Schwerindustrie die männliche Gesellschaft getroffen. Erst später folgten die Kündigungen in den administrativen Bereichen. Die westlichen Forscher waren nach ihren ersten Interviews mit ungarischen Frauen verblüfft, da die in ihren Augen objektiv schlechten Verhältnisse aus Sicht der ungarischen Frauen gar nicht so schlecht waren. Was sie vermissten, waren eher die guten, staatlich geförderten Kindergärten und Schulen sowie die sicheren Arbeitsplätze. Erst Mitte der 90er-Jahre veränderte sich das Bild allmählich, und das auch nur, weil die unerwünschten Nebenprodukte der westlichen Demokratie plötzlich auch in Ungarn sichtbar wurden: die Entstehung der Sexindustrie, die Behauptungen in den Medien, die die Frauen für den abnehmenden Bevölkerungszuwachs verantwortlich machten, und nicht zuletzt die Zunahme von Gewaltakten innerhalb von Familien. So finden sich unter den landesweit 57.000 eingetragenen zivilgesellschaftlichen Organisationen nur etwa 150, die ihre Sensoren auf die Belange der Frauen ausrichten.

Einige Frauen begannen allerdings, sich doch intensiver mit ihren Rechten und ihrer Rolle in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Die wahrscheinlich kämpferischste von ihnen war Katalin Lévai. Die studierte Sozialwissenschaftlerin, in den 70er-Jahren beteiligt an den Aktionen der demokratischen Opposition, begriff die Wende als einmalige historische Chance für die benachteiligten Bevölkerungsgruppen, wozu die Frauen gehörten. Sie wurde Mitbegründerin der Ungarischen Frauenstiftung MONA und versuchte die verschiedenen sowohl generationsmäßig als auch politisch unterschiedlichen Frauengruppen auf eine gemeinsame Plattform zu bringen. Dies war kein einfaches Unterfangen. Einerseits war die ungarische Öffentlichkeit in jeder möglichen Frage gespalten, andererseits flossen die notwendigen Förderungsbeträge, milde gesagt, ziemlich schleppend in die Frauenorganisationen. Diese Situation änderte sich erst als Frau Lévai im Kabinett Medgyessy den Posten einer "Ministerin für Chancengleichheit" erhielt.

Im Dezember 2003 war die "Bewegung weißes Band" bereits in vollem Gange. Katalin Lévai hatte Ungarns männliche Bürger - in Anlehnung an eine kanadische Initiative - aufgefordert, als Beweis ihrer Ablehnung von Gewalt gegen Frauen 16 Tage lang auf der Straße ein weißes Band an ihrem Mantelkragen zu tragen. Die Abzeichen sind leider in den verschneiten Budapester Straßen vollständig untergegangen. Frau Lévai lässt sich aber nicht so leicht entmutigen. Auf die Initiative der ehemaligen Aktivistin der demokratischen Opposition wurde vor zwei Jahren das Ministerium für Gleichstellungsfragen ins Leben gerufen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten ist sein Jahresetat nun gesichert. Der Ministerin und ihren wenigen Mitarbeitern stehen 2004, in dem Jahr, das in Ungarn als Jahr der Erneuerung der Wohlstandspolitik gilt, nun 13 Milliarden Forint (5,2 Millionen Euro) zur Verfügung. Daraus finanziert die Ministerin nicht nur eine Vermittlungstätigkeit zwischen den verschiedenen Sektoren der Regierung, sondern betreibt ihr "eigenes Projekt": Die Gründung des ersten Frauenhauses in Budapest.

Es ist gewissermaßen ihr "Kind". Die Räume in der Nähe des Budapester Stadtwäldchens sind bereits bemalt, letztendlich fehlen nur noch die Einrichtungsgegenstände. Zur Klientel des Hauses werden diejenigen Frauen oder Kinder gehören, die vor ihren gewalttätigen Familien hier professionelle Hilfe suchen. Die Initiative versteht sich als offenes Haus, das auch präventiv gegen die Diskriminierung der Frauen vorgehen wird. Von hier aus sollen Medienkampagnen, Informationsveranstaltungen in Schulen oder Weiterbildungskurse für Romafrauen gestartet werden.

Die Protagonistinnen der linksliberalen Regierung verbinden mit dieser Initiative noch andere Hintergedanken. Der Bevölkerungsrückgang in der ungarischen Republik beginnt dramatische Züge anzunehmen. Laut pessimistischer Prognose werden in 40 Jahren nur noch ungefähr neun Millionen Menschen in Ungarn leben. Junge Frauen müssten daher motiviert werden, Kinder zur Welt zu bringen. Auslöser des Bevölkerungsrückgangs (nach der Wende wurden im Durchschnitt jährlich 40.000 Kinder weniger geboren, als in den 70er- und 80er-Jahren) seien in erster Linie die instabilen Familienverhältnisse. Und darunter werden nicht ausschließlich diejenigen subsumiert - insgesamt an die drei Millionen im Land -, die unter dem Existenzminimum leben. Gerade um dieses Thema Geburtenrückgang gibt es in Ungarn allerdings eine heftige Kontroverse. So stellen Sozialarbeiter der alten Schule die Frage gern konservativer: Für sie ist es nicht normal, dass Frauen ungern Kinder gebären, und lehnen deshalb die liberale Haltung nach dem Motto "Mein Bauch gehört mir" ab. Der weltbekannte Genetiker Endre Czeizel wiederum plädiert dafür, dass die Familien aufgrund von Chromosomenuntersuchungen frei über das Geschlecht ihrer Kinder entscheiden können. Die "halboffizielle" Haushebamme Ágnes Geréb und ihre kleine Crew hingegen kämpfen darum, aus der Illegalität herauszukommen und den Gesundheitssektor dazu zu bewegen, Hausgeburten zu genehmigen und ein Geburtshaus in der Nähe einer Klinik aufzubauen. Bis dahin bleibt sie leider auf die Geldbörse ihrer Privatpatientinnen angewiesen.

Die "kleine" und die "große" Politik unterschieden sich kaum voneinander. Katalin Lévai und ihre Mitstreiterinnen stoßen immer wieder auf massiven Widerstand. Besonders hartnäckig scheinen manche Regierungsmitglieder zu sein, obwohl ausgerechnet sie entsprechend den EU-Normen handeln müssten. Bestimmte Reaktionen fielen einfach plump aus. So lösten zu Beginn des vorigen Jahres veröffentlichte Statistiken, wonach jede fünfte verheiratete Frau regelmäßig geschlagen wird, bei Justizminister Péter Bárándy keine Betroffenheit aus. Seine coole Haltung hat er auch - in ungeschickter Weise - in seiner Rede anlässlich des internationalen Frauentages vertreten: "Solange die Gesellschaft Gewalt in den Familien akzeptiert, kann man gegen dieses Phänomen nicht mit rechtlichen Regelungen vorgehen. Mit der Gewalt in Familien ist es wie mit Gewalt außerhalb derselben." Nur die politisch besonders Versierten wussten, dass die zynische Haltung des Ministers nicht EU-konform war, umso weniger, als die UNO bereits im August 2002 die Ungarische Republik aufforderte, den tatsächlichen und potentiellen weiblichen Opfern von Gewalttaten Rechtsschutz und -mittel zu gewähren.

Typisch für die Behandlung des Problems war auch die Parlamentsdebatte um das Allgemeine Antidiskriminierungsgesetz. Eine neu gegründete Dachorganisation von 40 Frauengruppen, das so genannte Bündnis der Interessenvertretung der Ungarischen Frauen, richtete einen Protestbrief an alle Regierungsparteien. Die Frauen bemängelten in erster Linie die Tatsache, dass in dem Gesetzentwurf die Besonderheiten der gegen Frauen, unter anderem Romafrauen, gerichteten Diskriminierung mit keinem Wort erwähnt werden. Es wurden insgesamt 98 Vorschläge zur Besserstellung der Frau unterbreitet, doch die Staatsmänner ließen sich durch die Vertreterinnen des "schwächeren Geschlechts" nicht beeinflussen. Das Pauschalgesetz untersagt zwar jede Art der Diskriminierung, trägt aber keineswegs dazu bei, dass Bürgerinnen und Bürger des Landes, die von Haus aus gehemmt sind, ihre Interessen souverän vertreten und ihre Beschwerden mit mehr Nachdruck artikulieren können.

Nichts charakterisiert die Machohaltung der Gesetzgeber hingegen besser als folgende Beispiel: Auf Druck des privaten Mittelstandes verschwand die Pflicht für Unternehmer, einen Gleichstellungsplan zu entwerfen, in Windeseile aus dem Entwurf. Die Öffentlichkeit zeigte kein Zeichen von Widerstand. Wie die Frauenaktivistin Ida Csapó sagte, "auf den Rücken der ungarischen Frauen kann man Holz zerhacken, da sie zum Erdulden sozialisiert wurden". Die meisten Ungarinnen und Ungarn glauben leider nicht daran, dass die Politik ihre Lebensverhältnisse verbessern wird.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.