Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 18 / 26.04.2004
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Claudia Roth

Die Beitrittsgegner tun heute so, als wäre dies eine neue Debatte

Die Türkei gehört zu Europa

"Die Türkei gehört zu Europa (\…) Die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein. Dieser Wunsch und die Tatsache, dass wir in ihm mit unseren türkischen Freunden einig sind, sind der stärkste Ausdruck unser Gemeinsamkeit." Dieses Zitat stammt nicht von Joschka Fischer oder Gerhard Schröder. Dieses Zitat stammt vom ehemaligen EG-Präsidenten und CDU-Politiker Walter Hallstein anlässlich der Unterzeichnung des Assoziationsabkommens der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit der Türkei am 12. September 1963 in Ankara.

Das Zitat belegt nicht nur eindrucksvoll, dass seit über 40 Jahren enge Beziehungen existieren, sondern auch dass bereits damals der Türkei die Möglichkeit einer Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft zugesichert wurde.

Einige Gegner eines Türkei-Beitritts in die EU tun heute so, als wäre der Beitritt eine völlig neue Debatte. Dabei existiert nicht nur diese gemeinsame Geschichte zwischen der EU und der Türkei, sondern für einen Beitritt zur EU gelten klare Regeln. Diese Kriterien wurden 1993 auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen festgelegt. Zu den politischen Kriterien zählen stabile rechtsstaatliche und demokratische Institutionen, die garantierte Einhaltung der Menschenrechte sowie der Schutz von Minderheiten. Diese Bedingungen sind nicht verhandelbar. Bevor Beitrittsverhandlungen beginnen können, müssen sie vom Kandidaten erfüllt sein. Im Dezember 1999 auf dem EU-Gipfel in Helsinki erhielt die Türkei den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten. Damit ist auch die EU eine Verpflichtung eingegangen, nämlich wenn die Türkei die politischen Kriterien erfüllt, dann müssen Beitrittsverhandlungen eröffnet werden, bis zu deren Abschluss viele Jahre vergehen.

Die glaubwürdige Perspektive eines EU-Beitritts hat in der Türkei eine enorme politische Dynamik ausgelöst und entscheidende Menschenrechtsreformen vorangebracht: Die Todesstrafe wurde abgeschafft, Folter verboten, das Vereins- und Versammlungsrecht liberalisiert und die Rechte religiöser Minderheiten gestärkt. Der Ausnahmezustand in den kurdischen Provinzen wurde aufgehoben und der Einfluss des Militärs eingeschränkt.

Ich bin vom Umfang und Elan der Reformen in der Türkei tief beeindruckt. Klar ist aber auch: Die beschlossenen Reformen reichen noch nicht aus. Wichtig sind nicht allein die Gesetze, auf die konkrete Umsetzung kommt es an. Für mich sind die tatsächliche Implementierung der Reformen Gradmesser für eine umfassende Demokratisierung. Erst wenn Folter gerichtlich und disziplinarrechtlich bekämpft wird, wenn die Rechte der Kurden anerkannt, die Minderheiten gleichberechtigt sind und Menschenrechte für alle gelten, haben die Reformen gegriffen

Die CDU/CSU schlägt statt eines Beitritts eine privilegierte Partnerschaft vor. Der Vorschlag zeugt von mangelnden europapolitischen Kenntnissen, denn eine solche besteht bereits - mit der Zollunion - seit 1996. Der Vorschlag zielt auf einen Stillstand in den Beziehungen und gefährdet so die weiteren Reformen in der Türkei. Deshalb nennt auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Volker Rühe (CDU), die privilegierte Partnerschaft "eine unrealistische Position".

Die Aufnahme der muslimisch geprägten Türkei in die EU hätte Modellcharakter. Sie würde zeigen, dass sich Islam, Demokratie und Menschenrechte verbinden lassen. Eine solchermaßen modernisierte Türkei könnte ein positives Beispiel für islamische Staaten sein. Ihr EU-Beitritt ist auch wichtig, um die Kluft zwischen "dem Westen" und "der muslimischen Welt" zu überwinden. Den Parolen islamistischer Terroristen von einem islam-feindlichen Westen könnte so entgegengewirkt werden. Dies brächte mehr Sicherheit in und für Europa. Eine demokratische, fest in der EU verankerte Türkei wäre gleichzeitig ein wichtiger Stabilitätsfaktor für die gesamte Nah-Mittelost-Region.

Deutschland ist seit langem der mit Abstand größte Handelspartner der Türkei, von einer Erweiterung würde nicht zuletzt auch die deutsche Wirtschaft profitieren. Nicht nur wirtschaftspolitisch, auch kulturell wäre der Beitritt ein Gewinn. Türkischer Hip-Hop aus Kaiserslautern und Berlin hat es in die Musikcharts beider Länder geschafft. Feridun Zaimoglu gewinnt mit seiner Literatur den renommierten Bachmannpreis, und Fatih Akin erhielt für seinen Film "Gegen die Wand" den Goldenen Bären. Das alles sind Beispiele, was für kulturelle Kraft und willkommener Reichtum aus Doppel-Infusion zweier Kulturen entstehen kann. In Deutschland leben circa 2,2 Millionen Menschen, die aus der Türkei stammen. Mit einem Beitritt der Türkei würde auch die Integration der hier lebenden türkischen Minderheit erleichtert.

Die CSU hat angekündigt den Beitritt der Türkei zum Wahlkampfthema bei der kommenden Europawahl zu machen und damit das Thema zu einem Religions- und Kulturkampf aufzuladen. Innenpolitisch, gegenüber der türkeistämmigen Minderheit, wäre ein solcher Wahlkampf fatal. Historiker datieren das Ende des Mittelalters auf 1453. Damals fiel das christliche Konstantinopel. Wenn ich die CSU über die Türkei reden höre, dann habe ich den Eindruck: In den Köpfen der CSU lebt das Mittelalter fort. Die CSU vergisst, dass Europa durch viele religiöse und nicht-religiöse Einflüsse geprägt wurde. Die EU definiert sich nicht über eine Religion oder über geografische Grenzen, sondern als eine auf gemeinsamen Werten basierende Gemeinschaft.

Bündnis 90/Die Grünen unterstützen die Politik der EU. Die EU hat der Türkei klare Bedingungen gesetzt. Erfüllt die Türkei diese, muss im Dezember der Beginn der Beitrittsverhandlungen beschlossen werden. Dafür steht die EU und dafür stehen wir im Wort. Falls die Gegner eines Beitritts die EU dazu auffordern, wortbrüchig zu werden, bekunden sie: Es geht nicht um Menschenrechte, Demokratisierung und Religionsfreiheit, sondern tatsächlich um einen christlich definierten Club, es geht nicht um Akzeptanz, sondern um Ausgrenzung.

Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.