Atatürk hatte ein klares Ziel vor Augen, als er aus den Trümmern des Osmanischen Reiches die moderne Türkei formte und ihr sechs Grundsätze verordnete: Nationalismus, Säkularismus, Modernismus, Republikanismus, Populismus, Etatismus. Ein großer Anhänger des Mehrparteiensystems war der Republikgründer jedoch nicht.
Als sich, kurz nach der Konstituierung des Parlaments, der Großen Türkischen Nationalversammlung, neben seiner eigenen Partei, der Volkspartei, die Fortschrittliche Republikanischen Partei gründete, handelte er rasch: Die Volkspartei wurde zur Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partesi, CHP) umbenannt und die ungeliebte, eher konservative und religiöse Konkurrenz schon 1925 verboten. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sollte die Türkei ein Einparteienstaat bleiben.
Erst 1950, nachdem die CHP von der langen Regierungszeit verschlissen und von Abspaltungen geschwächt war, kam es zu den ersten wirklich freien Wahlen. Als Sieger aus diesen Wahlen ging die marktwirtschaftlich orientierte Demokratische Partei (Demokrat Parti, DP) hervor, die Dank der wirtschaftlichen Fortschritte, die in ihrer Regierungszeit gemacht wurden, ihre Dominanz immer mehr ausbauen konnte.
In jener Zeit war die Türkei ein Zweiparteienstaat, und das ist sie seit den Wahlen im November 2002 wieder. Seit den Parlamentswahlen 2002 wird die Türkei wieder mit absoluter Mehrheit regiert - eine Ausnahme in den vergangenen Jahrzehnten. Oft wirkte die Parteienlandschaft auf Beobachter chaotisch.
Der regierenden AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) steht als Opposition im Parlament nur die noch von Atatürk gegründete, laizistische CHP gegenüber, die von 1999 bis 2002 jedoch nicht im Parlament vertreten war. Die AKP sieht sich als eine islamisch-demokratische Partei und vergleicht sich mit den deutschen Christdemokraten. Von ihren islamistischen Wurzeln hat sich die Partei offiziell getrennt. Inwieweit dieser ideologische Wandel das Ergebnis einer politischen Neuorientierung ist oder aber von der Angst, verboten zu werden, diktiert wurde, wird wohl erst die Zukunft zeigen. Ihre Existenz verdankt die AKP jedenfalls dem Verbot der islamistischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi, RP) des Islamistenführers Necmettin Erbakan, aus dessen moderatem Flügel sie sich zusammensetzt. Dank der Erfolge bei Nachwahlen verfügt sie mittlerweile über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament.
Ihre Politik ist jedoch moderat und nicht davon gekennzeichnet, die Dominanz auszuspielen: Partei- und Regierungschef Tayyip Erdogan will die Türkei in die EU führen, engagiert sich auch für eine Lösung des Zypern-Konfliktes und legt auf eine gutes Verhältnis mit dem Nachbarland Griechenland wert.
Die Zweidrittelmehrheit der AKP geht jedoch nicht auf einen vergleichbaren Rückhalt in der Bevölkerung zurück, sondern auf eine Besonderheit des türkischen Wahlrechts: Wegen des Verhältniswahlrechts und einer Zehn-Prozent-Hürde reichten der AKP 34,2 Prozent der abgegebenen Stimmen, um diese Fraktionsgröße zu erlangen. Außerdem hatten sich die Wähler von den etablierten Parteien abgewandt. Sie scheiterten alle an der Zehn-Prozent-Wahlhürde. Die DYP von Tansu Çiller erhielt 9,54 Prozent, Devlet Bahçelis MHP 8,36 Prozent, die ANAP des ehemaligen Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz nur 5,13 und die sozialdemokratische die DSP von Bülent Ecevit nur 1,22 Prozent der Stimmen.
Für den radikalen Wandel der Wählergunst gab es zahlreiche Gründe. So sind die türkischen Wähler sehr mobil und nicht allzu eng an eine Partei gebunden. Heftigste Stimmengewinne und Verluste sind die Folge. Die türkischen Parteien sind zudem in hohem Maße von ihren Vorsitzenden abhängig. Das ist in Deutschland so kaum vorstellbar, aber in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Italien oder Griechenland ähnlich, wo man neben einem Programm auch einen charismatischen Parteivorsitzenden braucht, um erfolgreich zu sein. Verlieren diese Parteiführer an Strahlkraft, versinkt oftmals auch die Partei ins Nichts.
Auch das Versagen der etablierten Eliten in Folge des Erdbebens von 1999, als sowohl Regierung wie auch Militär überfordert waren, haben ebenso zu einer Veränderung der politischen Stimmung beigetragen wie die Streitereien innerhalb des Regierungslagers, die schließlich zum Ende der Regierung Ecevit beitrugen und zu den vorgezogenen Neuwahlen 2002 führten.
Es gibt jedoch auch zahlreiche Kernkonflikte innerhalb der türkischen Gesellschaft, die nie endgültig ausgetragen wurden. Die kemalistische Ideologie von einem säkularen, europäisch geprägten Staat, der vom türkischen Volk getragen wird, verursacht wegen ihrer geringen Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zahlreiche Konflikte, die sich häufig unter den Politikern, aber auch zwischen der politischen und der militärischen Klasse, als welche sich die türkische Armee sieht, entzünden.
Wie religiös ist die Türkei?
Die Türkei ist kein Staat der Türken, sondern ein Vielvölkerstaat, dessen Bevölkerung in ihrer Mehrheit verschiedenen Varianten eines Volksislams anhängt. Die Frage, wie religiös der Türkei ist, wurde bislang nicht beantwortet. Sicher ist nur, und das zeigen auch die Erfolge von Erbakan und Erdogan, dass sich viele Türken eine größere Bedeutung der Religion im öffentlichen Leben wünschen.
Der andauernde Konflikt mit den Kurden hat zu zahlreichen Parteienverboten und Parteineugründungen geführt. Bei der letzten Wahl konnte jedoch keine kurdische Partei die Zehn-Prozent-Hürde nehmen, und auch in der Osttürkei wurden die Parteien AKP und CHP gewählt, die beide einen gesamttürkischen Anspruch haben.
Lange Zeit herrschte auch ein tiefer Streit über den richtigen Weg der türkischen Wirtschaft. Der von Atatürk vorgeschrieben Weg des Etatismus hatte nicht dazu beigetragen, die Türkei wirtschaftlich zu entwickeln. Wie viel Markt ist nötig, wie viel wünschenswert - auch das war ein Konflikt, der aber mit dem Bekenntnis aller relevanten Parteien zum EU-Beitritt endgültig zugunsten der Marktwirtschaft beantwortet worden zu sein scheint.
Wie in den meisten Demokratien haben sich die Extreme bei allen Parteien in den vergangenen Jahrzehnten abgeschliffen: Keine der wichtigen Parteien fordert mehr die Einführung des Sozialismus oder die Gründung einer islamischen Republik. Im Fordergrund stehen die Lösung der wirtschaftlichen Probleme und die Annäherung an Europa. Mit Utopien gewinnt man auch in der Türkei keine Wahlen mehr. Und wer die Probleme nicht effektiv löst, wird, wie die Wahlen 2002 gezeigt haben, gnadenlos abgestraft.
Stefan Laurin arbeitet als freier Journalist im Ruhrgebiet.