Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 / 14.06.2004
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Ines Gollnick

Den ganzen Menschen bilden

Johannes Rau's Plädoyer für eine Bildungsreform

Es ist sein letztes Buch als Bundespräsident. Wie um dem Rechnung zu tragen, steht "Johannes Rau" in viel größeren Buchstaben auf dem Umschlag, als in der Regel üblich; darunter ein Foto, auf dem das Staatsoberhaupt Jugendlichen die Hand reicht, ein Foto der Nähe und der Harmonie, vielleicht auch symbolisch für Verantwortung. Der etwas umständliche Buchtitel klingt zwar nicht, macht aber deutlich, um was es Rau im Kern geht.

Rau plädiert für ein ganzheitliches Bildungsverständnis, - ein Ansatz, von dem er offenbar glaubt, dass er in der aktuellen Diskussion mit Begriffen wie Bildungs- und Qualitätsstandards, Ganztagsschulen, Eliten und Bildungsökonomie zu wenig Beachtung findet. "Bildung ist Persönlichkeitsentwicklung. Da geht es um Geist und Gefühl, um Körper und Seele. Bildung hat ihren eigenen Sinn und ihren eigenen Wert, jenseits aller Nützlichkeit im Arbeitsleben."

Wer Rau mit diesem Ansatzpunkt einen hoffnungslosen "Romantiker" nennt, hat ihn nicht verstanden: "Ich bin fest davon überzeugt, dass ein ganzheitliches Verständnis von Bildung heute noch wichtiger ist. Wer sich in einer Welt zurechtfinden will, die sich immer schneller verändert und die immer unübersichtlicher wird, der braucht mehr als Fachwissen. Der braucht Eigenverantwortung und Gemeinschaftssinn, Kreativität, Urteilsvermögen und Orientierungsfähigkeit."

Bildungsfragen standen bei Rau immer ganz oben. Er ist gelernter Verlagsbuchhändler, leitete einen Verlag (1954 - 67), bevor er Wissenschaftsminister (1970 - 1978) und Ministerpräsidnet in NRW war. Dass er als Vater von drei Kindern (Jahrgang 1983, 1985 und 1986) beim Thema Bildung zudem persönlich eingebunden ist, gibt seinen Ausführungen mehr Überzeugungskraft.

Fachleuten bietet das Buch nichts wirklich Neues, denn die Texte wurden nicht extra für den Band geschrieben. Er enthält Reden von Rau aus den vergangenen vier Jahren - insgesamt 29 -, die in den fünf Abschnitten ("Bildung und Wissen", "Schule und Demokratie", "Aus- und Weiterbildung", "Wissenschaft und Hochschule", "Musische Bildung") zusammengefasst sind. Für alle anderen Leser bietet das Buch eine Vielfalt an Themen zu allen Bereichen der Bildung, ob politische und musische oder Aspekte, die Bildung und ihre Rolle für die Integration unterstreichen.

Die Texte lassen sich, eben weil es Reden sind, schnell und flüssig lesen. Wer Raus Reden kennt, weiß, dass gerade ihre Verständlichkeit ein Markenzeichen ist. Hierin liegt auch die Chance, andere Leserschichten zu erreichen, - Menschen, die nicht unbedingt Vielleser sind. Und gerade für sie wäre der Quellennachweis, also welche Rede wo gehalten wurde, am Anfang zur Orientierung hilfreich gewesen, damit die zeitliche Einordnung leichter fällt. Ein Manko ist auch, dass ein Sach- und Personenregister fehlt.

Eine Sonderstellung nimmt der Schlusstext ein, Raus Rede zum Gedenken an die Opfer des Mordanschlags in Erfurt im Mai 2002 mit der Überschrift "Einander achten und aufeinander achten". Dramaturgisch bewusst als Schlusspunkt gesetzt, ist er ein Plädoyer dafür, jenseits von allen notwendigen Reformen und Anforderungen den ganzen Menschen im Auge zu behalten. Diese, seine schwerste Rede, wie er selber sagt, betrifft die Schule in Erfurt, an der er selbst als Evakuieerungskind lernte.

Johannes Rau

Den ganzen Menschen bilden - Wider den Nützlichkeitszwang.

Plädoyer für eine neue Bildungsreform.

Beltz Verlag, Weinheim 2004; 272 S., 14,90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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