Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 / 14.06.2004
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Der Staat muss dienen und nicht herrschen

Auszüge aus der Parteitagsrede des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle

Wir erleben seit Jahren, dass Investitionen und Arbeitsplätze auswandern oder ausländische Investitionen einen Bogen um den Standort Deutschland machen. Auf diese Entwicklung lautet die Antwort der SPD: Patriotismus! Wer im Ausland investiere, so der Vorwurf an die deutsche Wirtschaft, sei unpatriotisch. Der SPD-Generalsekretär Benneter hatte dem noch einen draufgesetzt und das Wort von den "Vaterlandslosen" gebraucht. Vaterlandslos und unpatriotisch sind nicht Unternehmer, die sich mit neuen Märkten vor der Pleite schützen wollen. Vaterlandslos und unpatriotisch ist eine Politik, die Unternehmen ins Ausland oder in die Pleite treibt. Das ist die eigentliche Lage in Deutschland...

Im letzten Jahr hat die Regierung über Steuersenkungen und Flexibilisierung geredet. Heute sind die Themen Ausbildungsplatzabgabe, Vermögensteuer, Erbschaftssteuer und Mehrwertsteuer. Die SPD betreibt einen Agendawechsel. Der mag gut sein für die Seele der SPD, aber er ist ein Programm zur Arbeitsplatzvernichtung in Deutschland... Die Ausbildungsplatzabgabe wird nur dazu führen, dass noch mehr mittelständische Unternehmen in die Pleite geraten. Genau das müssen wir in Deutschland verhindern. Im letzten Jahr gab es über 40.000 Pleiten, insbesondere im Mittelstand. Wer Pleite geht, kann auch nicht ausbilden. Der Mittelstand muss gestärkt werden, dann wird auch mehr ausgebildet. Unsere Wirtschaftspolitik ist eine bessere Sozialpolitik, weil sie die Grundlage für den Wohlstand schafft. Unsere Mittelstandspolitik ist eine bessere Arbeitnehmerpolitik.

Das ist nicht nur ein ökonomischer Unfug. Durch die Ausbildungsplatzabgabe wird nicht ein einziger Ausbildungsplatz in Deutschland geschaffen. Die Stadt Dresden müsste rund 750.000 Euro Ausbildungsplatzabgabe zahlen. Ausgerechnet die Gewerkschaft, die sich besonders für die Zwangsabgabe stark gemacht hat, verdi, hat bei ihren über 4.000 Beschäftigten gerade einmal 20 Auszubildende, das entspricht einer Ausbildungsquote von gerade einmal 2,44 Prozent...

Die Vermögensteuer war zu zwei Dritteln eine betriebliche Vermögensteuer. Wer die Realität des Wirtschaftslebens kennt, weiß, dass der Mittelstand zwischen betrieblichem und privatem Vermögen kaum praxistauglich trennen kann. Und wer die Erbschaft-steuer erhöhen will, vegisst, dass alles, was man am Ende seines Lebens an seine Kinder und Enkelkinder vererben möchte, im Laufe dieses Lebens bereits x-mal versteuert wurde.

Jetzt streitet die Union über die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Es ist halt so: Auch die Union hat noch marktwirtschaftlichen Klärungsbedarf. Im Bundestag und im Bundesrat regiert noch immer eine Mehrheit der Verteilungsfürsten. Mehr als 800 Milliarden Euro hat der Staat insgesamt im letzten Jahr eingenommen. Wir brauchen keine neuen Steuererhöhungen in Deutschland, auch keine Mehrwertsteuererhöhung, wir brauchen Ausgabendisziplin.

Noch gefährlicher als der ökonomische Irrsinn, der in dieser Steuerpolitik liegt, ist das dahinter stehende Denken. Es ist das Denken in den Kategorien der Neidgesellschaft. Es ist Zeit, der Neidgesellschaft eine neue Anerkennungskultur entgegenzusetzen. Es ist zutiefst unfair, wenn jemand mit viel Risiko und Fleiß eine Firma aufbaut, dafür aber nur Neid erntet. Fair ist, wenn derjenige, der Besonderes leistet, auch besondere Anerkennung erhält...

Wir stehen vor der Neugründung unserer sozialen Sicherungssysteme. Der Reparaturbetrieb bei der Rente funktioniert nicht mehr. Diese Bundesregierung hat die Renten zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik real gekürzt und auch noch die so genannte Schwankungsreserve, also den Notgroschen der Rente aufgebraucht. Wenn jetzt nicht ein Systemwechsel erfolgt, werden regelmäßige Beitragssteigerungen und Rentenkürzungen folgen. Diese politischen Notoperationen ohne einen Systemwechsel sind unfair gegenüber der jetzigen Rentnergeneration, weil sie in Ansprüche eingreifen, die die Rentner im Vertrauen auf eine verlässliche Rente durch Arbeit erworben haben. Für Liberale ist Rente kein Almosen, sondern eine Gegenleistung für lebenslanges Arbeiten. Diese Politik ist unfair gegenüber der arbeitenden Generation, weil sie bei den Beiträgen weder Stabilität noch Entlastung bringt. Und diese Politik ist unfair gegenüber der jungen Generation, weil die soziale Sicherheit in Anbetracht der veränderten Altersstruktur unserer Gesellschaft nicht zukunftstauglich wird... Wir müssen jetzt unser Rentensystem so umbauen, dass die Altersvorsorge zur Hälfte auf einer beitragsfinanzierten gesetzlichen Grundsicherung und zur anderen Hälfte auf einer privaten oder betrieblichen kapitalgedeckten Altersvorsorge ruht. Nur so lassen sich Rentensicherheit, Beitragsstabilität und Generationenfairness erreichen.

Die gesetzliche Pflegeversicherung trägt auf Grund der demographischen Entwicklung ebenfalls den Sprengsatz immer weiterer Beitragserhöhungen in sich. Bei ihrer Einführung Anfang der 90er-Jahre konnten wir uns nicht durchsetzen. Nun ist genau das eingetreten, was wir vorausgesagt haben. Wir sollten jetzt wenigstens die Konsequenz ziehen und die gesetzliche Pflegeversicherung durch eine private, kapitalgedeckte Pflegeversicherung ersetzen.

Was im Gesundheitswesen als Jahrhundertreform bezeichnet wird, hat doch bestenfalls noch die Halbwertzeit von zwei, drei Jahren. Wir brauchen auch hier eine Neugründung unserer sozialen Sicherungssysteme. Nicht mehr Zwangskassen sind nötig, sondern mehr Versicherungsfreiheit.

Nicht nur Rot-Grün, sondern auch maßgebliche Teile der Union sind für die Einführung einer Zwangskasse unter dem Decknamen "Bürgerversicherung". Als ob ein Fass ohne Boden gefüllt werden könnte, indem immer mehr Menschen gezwungen werden, ihr Geld dort hinein zu schütten. Das Gefäß muss neu gezimmert werden.

Die gesetzlichen Krankenkassen wollen wir in private Gesundheitsversicherungen überführen. Wir wollen also aus den gesetzlichen öffentlich-rechtlichen Körperschaften private Unternehmungen machen, die in einem echten Wettbewerb zueinander stehen. An die Stelle der Pflichtversicherung setzen wir eine Pflicht zur Versicherung, bei der die Bürger selbst zwischen Anbietern und Tarifen für sich maßgeschneidert auswählen können...

Und wenn der Staat von Bürgern und Unternehmen verlangt, sich dem Prinzip des Wettbewerbs zu stellen, darf er sich selbst nicht dem Wettbewerb entziehen. Deshalb treten wir Liberale für einen Wettbewerbsföderalismus ein, mit erkennbaren Verantwortlichkeiten. Dazu zählt die Abschaffung der Mischfinanzierung zwischen Bund und Ländern. Klare Verantwortlichkeiten stärken die Bürgermacht. Mit anderen Worten: Wer die Musik bestellt, soll sie auch bezahlen. Und wer sie bezahlt, bestimmt auch das Lied, das gespielt wird.

Ob beim Privatisierungsgebot, der Steuerpolitik, dem Subventionsabbau, der Reform der sozialen Sicherungssysteme oder dem Bürokratieabbau, dahinter steht ein liberales Staatsverständnis, das sich von den anderen Parteien unterscheidet. Der Staat muss dienen, nicht herrschen. Er soll nützen, nicht belasten. Was der Staat nicht regeln muss, das soll er auch nicht regeln dürfen...


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.