Es war einmal ein Mann. Und dieser Mann hat einem anderen Mann eine Ohrfeige verpasst. Nichts Dramatisches; nichts, was den Getroffenen wirklich hätte verletzen können. Trotzdem ist eine Ohrfeige in unseren zivilisierten Zeiten nicht der Regelfall untereinander. Und sie ist alles andere als normal, wenn sie den Bundeskanzler trifft. So gesehen hat Jens Ammoser mit seiner Watsch'n für Gerhard Schröder etwas Bemerkenswertes getan. Auf alle Fälle etwas, das Schlagzeilen produziert hat in den deutschen Medien.
Besonders ist an der kleinen Affäre um Herrn Ammoser und den Kanzler deswegen nicht, dass über sie berichtet wurde. Besonders ist, wie berichtet worden ist. Denn Ammoser, ein arbeitsloser Lehrer, wohnhaft im Schwarzwald, 52 Jahre alt und seit neun Jahren ohne Job, hat nach seinem Angriff auf den Bundeskanzler genau das erhalten, was er sich gewünscht hat: höchste publizistische Aufmerksamkeit.
Im Duktus der Aufklärung, aber ganz und gar in der voyeuristischen Manier des Boulevard haben ihn gleich zwei führende Nachrichtenmagazine ausführlich zu Wort kommen lassen - mit Zorn über diesen Kanzler, mit Ärger über dessen Politik, mit Warnungen wie "Lieber jetzt 'ne Ohrfeige als später 'ne Bombe". Renommierte Tageszeitungen haben Reporter losgeschickt, um Ammosers Hintergründe zu erforschen, um ein Psychogramm zu erstellen und am Ende vor allem eines festzustellen: dass der Mann keineswegs verrückt ist, dass er keine schlechte Kindheit hatte, dass er die Ohrfeige lange im voraus geplant hat. Anders ausgedrückt: Dass er ganz kühl kalkulierend zu geschlagen hat - im tatsächlichen wie im übertragenen Sinne. Er wollte los werden, für wie schlecht er diesen Kanzler hält. Dafür musste er die Medien aktivieren. Das ist ihm gelungen. Und genau das muss zu denken geben. Wenn eine Ohrfeige gegen einen Politiker es schafft, mit politischen Statements des Schlägers aufgefüllt statt schlicht abgelehnt und verurteilt zu werden, dann wird sich die politische Auseinandersetzung in Deutschland verändern. Und die Medien werden daran ihren nicht geringen Anteil haben.
Nun könnte man den Umgang mit Herrn Ammoser als Einzelfall beschreiben. Man könnte und wird sagen, dass Aufklärung wichtiger ist alles Verschweigen. Ehrlicher aber wäre es festzustellen, dass die Medien "einen Erfolg witterten" und ihren Lesern Ammosers Geschichte als besonderes Produkt bieten wollten. Das ist in Zeiten rasant wachsender Konkurrenz und dramatisch zunehmender Überlebensangst verständlich. Aber es ist auch ein Synonym dafür, wie sich die Koordinaten verschieben. Dass die Medien neben ihrer politischen Rolle als Aufklärer auch eine politische Verantwortung haben, dass sie sich trotz einer verlockenden Geschichte manchmal fragen müssen, ob ebendiese Geschichte ihre Berechtigung hat, was sie bewirkt, wozu sie einlädt, ob dabei noch Maß und Mitte gehalten werden, tritt immer häufiger in den Hintergrund.
Und dieses Problem ist längst kein Kleines mehr. Es hat sich eingeschlichen und verselbstständigt, ist Teil auch jenes Systems geworden, das sich mit den Stichworten Politik, Hauptstadt und Parlamentsberichterstattung verbindet. Es gibt in immer mehr Medien die immer rücksichtslosere Tendenz zur Zuspitzung, zur Verschärfung (und oft genug auch Verzerrung) von Nachrichten und Äußerungen, weil immer mehr Medien und Politiker sich an der Quantität der mit dem eigenen Namen verbundenen Agenturmeldungen messen. Nur wer den Weg in die Agenturen findet, taucht in anderen Zeitungen auf. Nur wer das schafft, ist was wert.
Masse schlägt Sache, Menge regiert über Gewissenhaftigkeit. Das Nachrichtenwesen ist zum Durchlauferhitzer geworden - für Politiker, mehr und mehr aber auch für Journalisten und Zeitungen, die nach Karriere oder Wettbewerbsvorteil streben. Mit anderen Worten: auch durch die Medien wird der Wind wichtiger als das Segelboot, das er antreiben soll. Da wird aus der nachdenklichen Selbstkritik eines SPD-Bundestagsabgeordneten eine "Attacke gegen Ulla Schmidt" und aus den nicht minder nachdenklichen Interviewsätzen des damals Noch-SPD-Generalsekretärs Olaf Scholz über mögliche Fehler bei Tempo und Vermittlung der Reformen die angebliche Parole "Das Nötige ist getan". Auf diese Weise ist den beteiligten Zeitungen und Magazinen das Zitiertwerden in den Agenturen sicher. Nur die Wirklichkeit, auch die des durchaus kritikwürdigen Heute-nicht-mehr-Generalsekretärs, haben sie um eine kleine, aber entscheidende Nuance verfehlt: Dass er - erkennbar bei voller Lektüre des Interviews - gerade nicht angekündigt hatte, die SPD werde ihre Reformbemühungen einstellen.
Weitere Beispiele erbeten? Leider kein Problem. Da wäre Florian Gerster, ehedem Vorsitzender der Bundesagentur für Arbeit. Der Mann hat einige schwere Fehler gemacht. Er ist reichlich uneinsichtig gewesen. Er hat sich gegenüber dem Parlament arrogant gegeben. Doch alle Kritik an dem Ex-Vorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit begann mit einem Skandal, der keiner war. Die Meldung kam auf, er habe für Millionen sein Büro luxuserneuert. Eine Meldung, die gut klang, eine, die von vielen Medien übernommen wurde und bis in die letzten Tage Gersters als Amtschef am Leben blieb. Sie stimmte nur nicht. Gerster hat Geld in die Räume für die Presse gesteckt, aber bis zum Schluss in den Möbeln seines Vorgängers Jagoda gearbeitet.
Oder Friedrich Merz. Er ist bekannt als streitbarer Konservativer. Er ist angriffslustig und schießt dabei auch mal über das Ziel hinaus. Da passte es für eine sich links und liberal verortende "Tageszeitung" gut, dass er auf einer CDU-Veranstaltung in seiner Heimatstadt Brilon zum ??Sturm auf das Rote Rathaus" aufrief - und dabei auch noch daran erinnerte, dass sein Großvater zwanzig Jahre lang in ebendiesem Rathaus regiert hatte. Die Zeitung bemerkte, dass vier dieser zwanzig Jahre in die Herrschaft der Nazis fielen. Also suchte sie nach belastendem Material gegen den Großvater, wähnte sich nach kurzer Zeit fündig und brauchte nur Stunden, um Merz zu einem ??biologischen und politischen Enkel von Nazikollaborateuren" zu machen.
Dabei hatte die Zeitung nur übersehen - oder viele Tage lang nicht zu Ende recherchiert -, dass der Großvater von Friedrich Merz am Ende seiner Amtszeit von den Nazis wegen Unbotmäßigkeit aus dem Amt gehievt worden war. Mehr noch: dass er später nach dem Krieg von jüdischen Mitbürgern entlastet wurde. Doch statt das oder auch einfach nur sich selbst vor der Veröffentlichung zu prüfen, griff der verantwortliche Redakteur tagelang zum Telefon, um die Kollegen in anderen Redaktionen und Korrespondentenbüros auf die doch so brisante Geschichte aufmerksam zu machen.
Wie es zu dieser Fehlentwicklung kommen konnte? Wer sich das fragt, stößt natürlich auf den gestiegenen Wettbewerb zwischen den Medien. Er stößt auf die Folgen des Umzugs von Bonn nach Berlin, der - ähnlich der Börsenblase bei der New Economy - die Zahl der Journalisten wie der Jobs in der Hauptstadt anschwellen ließ, um anschließend, als die wirtschaftliche Krise zahlreicher Verlage begann, mindestens ebenso viele Journalisten wieder auf die Straße zu werfen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Medienunternehmen sind längst bei den Journalisten direkt angekommen. Und die Not der arbeitslosen Journalisten wie die Sorge vieler Arbeitsplatzbesitzer erhöht mindestens den gefühlten Druck, Besonderes zu liefern.
Das hat eine weitere Konsequenz: Der Raum für Politik wird immer enger, im tatsächlichen wie übertragenen Sinn. Die Zeit zum Nachdenken schrumpft nicht auf Tage, sondern oft auf Stunden zusammen, bei Politikern wie Journalisten. Jede Fraktions-, jede Präsidiums- und jede Klausursitzung ist längst keine geschlossene Veranstaltung mehr. Offene Gespräche, wirkliche Diskussionen können dort nicht mehr geführt werden, ohne dass sie - wenn es lohnt - öffentlich werden. Parteigremien verlieren ihre meinungsbildende Kraft. Politik wird zum Geschäft kleinster Zirkel.
Nun wäre es verlogen, die Schuld dafür nur bei den Medien zu suchen. Auch viele Politiker haben sich in dieser ganz eigenen Erlebniswelt prächtig eingerichtet. So mancher von ihnen spielt ausgesprochen gut auf der Klaviatur schneller Erregung - und verdrängt dabei leicht, dass er nicht immer die reine Wahrheit zur Erregung verwendet. Ein Beispiel der vergangenen Tage: Als eine Zeitung noch einmal ausführlich berichtete, dass im Zuge des Subventionsabbaus auch die Förderung für Ostdeutschland schrumpfen werde, beschwerten sich die ostdeutschen Ministerpräsidenten lautstark über diesen Skandal - obwohl sie davon im Zuge des Vermittlungsausschusses längst wissen mussten. Schreien schien besser mit Blick auf die Wähler. Begründen wäre wohl schwerer geworden.
Höher, schneller, weiter: So flott und mutig und entschlossen dieser olympische Spruch auch klingt, er ist dabei, die Medienwelt zu prägen - und zu untergraben. Denn dabei gehen Grundsätze verloren, die selbst im schärfsten Wettbewerb nicht verloren gehen dürften: dass eine Information durch zwei weitere Quellen geprüft werden muss; dass eine Agenturmeldung noch kein Faktum sein muss; dass die Wirklichkeit oft differenzierter ist, als es fürs Schreiben eines Textes angenehm wäre.
Hoffnung kommt dieser Tage, manchen mag es verwundern, ausgerechnet aus den Vereinigten Staaten. Dort ist geschehen, was es so vielleicht noch nie gegeben hat: Eine Zeitung bat um Verzeihung. Und nicht einmal irgendeine Zeitung irgendwo im Mittleren Westen. Die New York Times ist es gewesen. Sie hat mehrere Redakteure mehrere Wochen alle eigenen Artikel über die Zeit vor dem Irakkrieg studieren lassen. Ihr Ergebnis: Wir waren schlampig und unkritisch, wir haben nicht nachgefragt und übertrieben, wir bedauern das und wir wollen daraus lernen. Das ist schwer im Konkurrenzkampf unserer Tage. Und doch ist es offenbar möglich.
Stefan Braun ist Korrespondent im Parlamentsbüro der Stuttgarter Zeitung.