Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 25 / 14.06.2004
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Hans Monath

Ein bisschen Bindung darf's schon sein

Die Familie wird immer attraktiver. Tatsächlich macht sie nicht so unfrei, wie ihre Kritiker behaupten

Es kommt nicht oft vor, dass die Journalisten der Berliner "tageszeitung" (taz) von einer Entwicklung kalt erwischt werden und schlicht nicht mehr verstehen, was in ihrem Land vorgeht. Zu viel große politische und gesellschaftliche Umbrüche in Deutschland haben die "taz"-Macher in den vergangenen 15 Jahren miterlebt, kommentiert und selbst durchlitten. Von vielen alten Gewissheiten ist wenig geblieben. Vor wenigen Wochen aber zeigten sich die linksalternativen Meinungsmacher ausnahmsweise einmal völlig verwirrt von der Konfrontation mit einem sozialen Phänomen - und das ausgerechnet beim Thema Familie und Kinder.

In einem Interview der Zeitung nämlich beschrieb der Soziologe Heinz Bude mit großem Einfühlungsvermögen die wachsende Attraktivität des Kinderkriegens in Deutschland und sagte der politischen Kraft Erfolg bei den nächsten Bundestagswahlen voraus, die für die starken Bedürfnisse von Familien die richtigen Antworten liefere. Während die Journalisten zwischen Staunen und Abwehr schwankten, erklärte der Wissenschaftler die neue Anziehungskraft der alten Lebensform aus ihrem Bindungsangebot: "Man will nicht immer nur von sich aus denken, sondern sich durch einen anderen festlegen lassen. Das ist eine konservative Tendenz in der Gesellschaft."

Nun mag Bude, der gerne provoziert, den konservativen Zug der Familie bewusst herausgehoben haben. Doch die Abwehrhaltung der "taz" ist trotzdem symptomatisch - weit über den Kreis der Zeitung und ihres Milieus hinaus. Man kann den Familienpolitikern einer beliebigen Partei zuhören. Man kann sich wahllos eine Publikumszeitschrift greifen. Man kann die Demoskopen fragen, sich TV-Werbung ansehen oder in die Statistik schauen. Überall wird man den gleichen Befund finden, egal ob er in nüchternen Zahlen ausgedrückt ist oder von einem Fotografen inszeniert wird mit rotbäckigen Vorzeigekindern, die mit ihren Eltern fröhlich und farbenbunt über den Strand rollen, um für hoch wirksame und sichere Medikamente zu werben: Kinder sind ein Glücksversprechen, Familie ist angesagt zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Aber ihre Renaissance im öffentlichen Diskurs gilt manchem als gesellschaftspolitischer Rückschritt.

Während bei den Jüngeren der Kinderwunsch fast von Jahrgang zu Jahrgang wächst, sind die Vorurteile vor allem unter Menschen verbreitet, die älter als 40 sind und damit in den gesellschaftspolitischen Nachfolgedebatten der 68er sozialisiert wurden. Als jüngere Grüne ein Jahr vor der Bundestagswahl 2002 die Familie als Kernthema im Wahlkampf ihrer Partei verankern wollten, schlug ihnen zunächst einmal heftige Skepsis eines Teils des Parteiestablishments entgegen - jenes Teils nämlich, der sich offenbar noch immer in der Tradition des Kampfes gegen eine spießige Gesellschaft sieht, zu deren angeblich erstickenden Werten auch das Bekenntnis zur Familie gehörte. Für sie bleibt die Familie weiter ein Hort der Unfreiheit und der soziale Ort, an dem im emotionalen Nahkampf mit herrischen Vätern und klammernden, überbesorgten Müttern von jedem Überlebenden schwere Neurosen ausgebrütet werden.

Aber wer beim Wort "Familie" nur an die Welt der 50er-Jahre denkt, hat sich die Gegenwart mit ihren völlig anderen Familienarten nicht angesehen. Auch wenn Zweidrittel aller Kinder mit beiden leiblichen Eltern zusammen aufwachsen, hat sich die Familie heute zu einem so bunten Phänomen entwickelt, dass Soziologen so komplizierte Begriffe wie "Werkstattfamilie vor Ort", "Fortsetzungsfamilie", "Hybridfamilie" oder "postfamiliale Familie" erfinden mussten, um Ordnung in alle ihre Erscheinungsformen zu bringen. Es gibt auch keinen größeren Irrtum als den Glauben, die Gründung einer Familie im Jahr 2004 bedeute das Ende aller Entscheidungen und das Ende aller Freiheit. Denn die Herausforderung beginnt schon lange, bevor ein Kind überhaupt auf der Welt ist. Wer jemals einen Geburts-Vorbereitungsabend in einem größeren deutschen Krankenhaus erlebt und bestaunt hat, muss zur Kenntnis nehmen, dass sich schon für werdende Eltern Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungszwänge auftun, von deren Existenz diese zuvor keine Ahnung hatten: Soll die Geburt im Schwitzbad, in der Hängeschaukel, auf dem indianischen Hocker oder doch auf dem ganz normalen Bett vonstatten gehen? Der geduldig-freundliche Arzt am Pult erklärt seiner kritischen Kundschaft ohnehin gerade werbend, dass er nur dann eingreifen will, wenn es medizinisch geboten ist - alles andere überlässt er dem Ermessen der werdenden Mutter.

Von nun an heißt es nicht mehr nur: Entscheide für dich! Sondern vor allem: Triff die richtige Entscheidung für das Kind! Welches Essen bekommt dem Kleinen am besten? Welches Spielzeug fördert seine Anlagen? Welche Schule passt zu ihm - die nahe mit den vielen Schülern oder die ferne mit Englisch in der dritten Klasse und den Bastelkursen? Wer jemals in einem Kindergarten in die knallbunte Plastikbox mit dem gesammelten Hort-Frühstück für jedes einzelne Kind geschaut hat, wer darin neben fünf verschiedenen Obstsorten ein halbes Dutzend verschiedene Joghurts mit unterschiedlichen Fettgraden, Weiß-, Grau- und Schwarzbrotstullen und Süßigkeiten entdeckt hat, weiß: Jede Mutter und jeder Vater hat einen ganz speziellen Grund, genau dieses Frühstück einzupacken und kein anderes. Und die meisten haben sich etwas dabei gedacht. Schießlich verordnen sich schon Kleinkind-Eltern in Deutschland einen mindestens

14 Punkte umfassenden Mimimalkatalog von Förderaufgaben für den Nachwuchs, wie Pädagogen herausgefunden haben.

Von der Papa-Mama-Kind-Familie des ersten bundesdeutschen Familienministers Franz-Josef Wuermeling (der CDU-Politiker führte das Ressort von 1953 bis 1962) ist die moderne Familie zumindest in ihrem Selbstverständnis so weit entfernt wie eine Isetta oder ein Goggomobil von einem modernen Mittelklassewagen - meilenweit. Als Idealmodell galt im Westdeutschland der 50er-Jahre die Versorgerehe, bei der nur der Mann in den Betrieb oder ins Büro ging und die Mutter Heim, Herd und Nachwuchs hütete. "Für Mutterwirken gibt es nun mal keinen vollwertigen Ersatz", erklärte Minister Wuermeling damals und denunzierte ganz im Geist seiner Zeit weibliche Erwerbstätigkeit als Ausdruck materieller Gier: "Eine Mutter daheim ersetzt vielfach Autos, Musiktruhen und Auslandsreisen."

Zumindest dem Selbstverständnis nach sind Mütter und Väter der Gegenwart gleichberechtigt und versuchen beide, den Kinderwunsch und Erfolg im Beruf zu vereinen. Dass Familienministerin Renate Schmidt (SPD) mit besseren Betreuungsangeboten vor allem den Frauen die Erfüllung dieses Wunsches ermöglichen und so die Entscheidung für Kinder erleichtern will, honoriert sogar die Opposition. Denn faktisch sind es noch immer die Frauen, die beruflich zurück-stecken, wenn das Kind erst einmal da ist. Erziehungsurlaub nimmt nur eine verschwindend geringe Minderheit von Vätern. Gerne kommen die aber abends ins Kinderzimmer und geben den frisch geduschten Kleinen im wohl riechenden Schlafanzug einen Gutenachtkuss. Da hat die Mutter längst einen anstrengenden Tag hinter sich, in denen sie Windeln wechseln, Essen zubereiten, Hausaufgaben betreuen oder Streit schlichten musste. Und wenn sie versucht, ihren Beruf von zu Hause aus weiterzuführen, dann hat wahrscheinlich der Zweijährige ausgerechnet mitten im wichtigsten Telefonat des Tages mit einem Kreischanfall sein Recht auf Aufmerksamkeit unüberhörbar eingefordert.

Doch ihren gemeinsam geteilten Anspruch, dass beide Partner Beruf und Familie vereinbaren können, versuchen auch immer mehr Eltern mit viel Fantasie und noch mehr Organisationsgeschick einzulösen. Dann sieht der Alltag eben so aus, dass die Mutter auf dem Weg zu ihrem Termin, zu ihrem Kinobesuch oder zu ihrer Essensverabredung im fliegenden Wechsel im Treppenhaus am Vater der Kinder vorbeistürmt, der minutengenau zu Hause eingetroffen ist. Auch hat es sich bei einigen Eltern herumgesprochen, dass ein Mobiltelefon im Notfall allzeitige Erreichbarkeit garantiert und sich das nicht weniger moderne Festnetztelefon zu Hause ebenfalls programmieren lässt, damit auch ein kleineres Kind mit einem Tastendruck Mama oder Papa direkt am Hörer hat.

Wenn die Skeptiker einmal einen Blick in eine moderne Familie werfen würden, könnten sie auch schnell feststellen, dass dort anders als in den 50er-Jahren nicht etwa ein autoritärer "Pater familias" in strengem Ton Anweisungen austeilt, die seine Kinder prompt befolgen müssen. Das Prinzip Gehorsam ist dort längst dem Prinzip Verhandlung gewichen. Nicht als Autoritätsperson, sondern als Freunde und Partner wollen Mama und Papa heute ihrem Kind oder ihren Kindern entgegentreten. Schon gleich nach dem Aufstehen geht es doch heute in deutschen Familien zu wie in einer Runde der Tarifverhandlungen von

IG Metall und Metall-Arbeitgebern. "Was krieg' ich dafür, wenn ich zum Bäcker gehe?", heißt es da. Wenn schon ein elterliches Lockangebot unterbreitet wurde, wird kindseitig wenigstens versucht, die Höhe der Sonderzahlung zu steigern: "Dann möchte ich mir aber auch zwei Mohnschnecken mitbringen dürfen." Mit anderen Worten: Die Familie ist ein genaues Abbild und auch der Lernort jener Konsensgesellschaft, von der in der Debatte über Reformen so oft die Rede ist.

Ganz sicher ist die Familie auch da ein Abbild ihrer Gesellschaft, wo sie sich von Familien in anderen Ländern unterscheidet und zum Beispiel viel ängstlicher ist als bei anderen Europäern. In Deutschland stufen Gynäkologen 70 bis 80 Prozent aller Schwangerschaften als kontrollbedürftige Risikofälle ein, in den Niederlanden ist das Verhältnis umgekehrt: Nur

30 Prozent werden dort ärztlich kontrolliert. In Deutschland werden also auch jene Schwangeren intensiv überwacht, die offenbar nicht besonders gefährdet sind. Und trotzdem werden sie sich besser fühlen, wenn der Arzt ihnen bescheinigt, dass gar nichts ist.

Darum, dass die Gründung einer Familie die gewohnte Entscheidungsfreiheit einschränkt, sollte niemand herumreden: Wenn das Kind wirklich krank wird, kann niemand mehr durchschlafen und muss ein Elternteil womöglich zwei Wochen zu Hause bleiben. Materiell draufzahlen müssen Eltern ohnehin in einer Gesellschaft, deren größtes Armutsrisiko Kinder bilden. Die Angebote für den Kurztrip nach Paris oder die Ferien auf Korfu mögen schließlich noch so günstig sein: Sie helfen der Familie gar nichts, wenn sie außerhalb der Ferienzeit liegen. Da sich die Generationenabfolge verlängert hat, sind die Großeltern, diejenigen, die in früheren Generationen einen Teil der Erziehung übernommen haben, oft schon zu alt, um die Kinder mehrere Tage lang zu hüten. Aber manchmal finden sich dann doch gute Freunde, die zur Familie gehören und zwei Tage auf die Kinder aufpassen.

Man kann es auch umgekehrt sagen: Freier als die Gesellschaft kann auch die Familie nicht sein. Vielleicht aber ist auch die Preisgabe einer bestimmten Art von wohlfeiler Freiheit das geheime Erfolgsrezept der Familie. Der Soziologe Heinz Bude zumindest ist überzeugt: "Bindung ist das knappe Gut, für das die Familie sorgen muss." Insofern könnte man die Wiederkehr einer alten Lebensform in modernem Gewand und in vielen Konstellationen auch als ein sehr ermutigendes Signal für die Reformdebatte in Deutschland lesen. Denn der Mensch ist doch bereit, sehr viel zu geben, wenn er denn ganz persönlich spürt, was er damit gewinnt.

Hans Monath ist Redakteur im Parlamentsbüro des Berliner "Tagesspiegel".


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