Die Aufregung war enorm. Die weltweite Internet-Gemeinde bekam sofort hohes Klick-Fieber. Ein paar unscharfe Fotos mauserten sich innerhalb weniger Stunden zu den meistangesehenen des World Wide Web. Die US-Medien überschlugen sich vor Empörung. Der Fernsehsender CBS, der die Bilder gezeigt hatte, musste sich für die Obszönität entschuldigen. Vorübergehend wurde sogar das Suchwort "11. September" von "Janet + Jackson + Superbowl + Brust" überholt. Amerika hatte sein "Nipplegate". Und der Rest der Welt hatte etwas zu schmunzeln.
Was Anfang Februar 2004 als Posse um eine halb entblößte Brust begann, zieht weit reichende Konsequenzen nach sich: Die Sängerin Janet Jackson wurde zur öffentlichen Persona non grata erklärt und von allen wichtigen Preisverleihungen des Frühjahrs ausgeladen. Zensur-Software für TV-Sender hat Konjunktur. Denn der Anblick eines blanken Busens vermag in Amerika viele Menschen zu verletzen.
Was aus europäischer Sicht schon vor Monaten absurd wirkte, scheint heute erst recht lächerlich. Angesichts von Folterbildern aus dem Irak und immer verstiegeneren Ausreden der zuständigen Politiker fragt man sich: Was ist obszöner? Wie sieht ein echter Skandal aus? Wo werden oder wurden wirklich Tabus verletzt? In der Superbowl-Pause oder in Abu Ghureib? Die Antwort darauf fällt nicht überall gleich aus. Denn Tabus sind die Grenzsteine einer Gesellschaft. Zudem hat jede Person, je nach Herkunft und Zeit, sehr unterschiedliche Ansichten darüber, was verboten ist und was sich gehört. Denn viele Tabus sind individuell, relativ und einem ständigen Wandel unterworfen.
Blickt man mit der Gelassenheit von heute auf den "Stern" vom Juni 1971, der dadurch zum Total-Skandal wurde, dass im Heft 374 Frauen bekannten "Ich habe abgetrieben", dann wird klar, wie sehr sich die Zeiten geändert haben und mit ihnen die Empörungsschwellen. Ähnlich geht es einem mit der Wünsch-dir-was-Sendung von 1973, in der eine junge Frau mit halbdurchsichtiger Bluse vor die Kamera trat. Oder mit einer Folge der Satiresendung "Scheibenwischer" von 1986, aus der sich der Bayerische Rundfunk ausschaltete, weil man in München die Frage nach Radioaktivität im toten Opa für pietätlos hielt. Die Katastrophe von Tschernobyl lag da noch nicht lange zurück. Heute regt man sich lieber über Kakerlaken-Bilder aus dem Dschungel-Camp auf, über Nachtsichtbilder vom Kuschel-Sex bei "Big Brother" oder über Fans, die sich mit dem Geld von MTV von Schönheitschirurgen in Doppelgänger ihrer Idole verwandeln lassen.
Die Gesellschaft ändert sich rasant, und mit ihr die großen und kleinen Tabus. Hatte der Filmemacher Rosa von Praunheim 1991 mit dem "Outing" von Hape Kerkeling als Homosexuellem noch für Furore und für einen Karriereknick des Showmasters gesorgt, so trug Ronald Schill 2003 mit ähnlichem Geraune über Ole von Beust dazu bei, dass dieser die nächste Bürgerschaftswahl fast im Alleingang gewann. Auch die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern gewinnt inzwischen weltweit an Akzeptanz, obwohl dies vor allem für Konservative einen Tabubruch darstellt. Erst vor kurzem gestattete der US-Bundesstaat Massachusetts die so genannte Homo-Ehe. Die Bush-Administration erwägt unterdessen eine Verfassungsänderung, um das Rad der Geschichte zurück zu drehen.
Tabus gibt es in Europa strenggenommen erst seit 1780. Der Entdecker James Cook hatte das einprägsame Wort zuerst auf den Südseeinseln Tonga, Tahiti und Hawaii gehört. Der Begriff, zu dem sich Cook ausführliche Notizen im Logbuch machte, schien dort vielfältige Verwendung zu finden. Immer ging es darum, dass eine Sache unberührbar, ein Ort heilig oder eine Handlung verboten war. Wurde ein Tabu verletzt, erfolgte die soziale Ausgrenzung des Tabubrechers. Manchmal war eine Reinigung durch religiöse Riten möglich. Wenn nicht, bedeutete das den Tod des Ausgegrenzten. Cook selbst wurde auf der Reise Opfer eines Tabubruchs. Eingeborene erschlugen ihn, nachdem er in einer Bucht geankert hatte, die vorher von einem Häuptling für tabu erklärt worden war. Die schnelle Übernahme des Begriffs durch die Europäer nach der Rückkehr der Expedition zeigt, dass es auf dem alten Kontinent zwar vergleichbare Phänomene gab, aber noch kein passendes Wort. 1854 taucht der Begriff erstmals in der deutschsprachigen Real-Enzyklopädie auf, dem Vorläufer des Brockhaus.
Seitdem hat das einfache Wort weltweit Karriere gemacht. So findet sich das Inzest-Tabu bei fast allen Kulturen, ebenso wie die Abscheu vor Kannibalismus. Eine Reihe von selbstverständlich erscheinenden Berührungs- und Umgangs-Tabus regelt das Verhältnis von Männern und Frauen. Teilweise haben Tabus (wie das Verbot, Schweinefleisch zu essen) Eingang in religiöse Schriften und deren Gebote gefunden. Sie dienen so der sozialen Kontrolle und definieren gemeinsame Werte einer Gesellschaft und grenzen sie von anderen Gesellschaften mit anderen Tabus ab.
Tabus tragen zusammen mit religiösen Ritualen, alten Mythen und politischen Überzeugungen zum Aufbau eines Identitätsgefühls in Familien oder Staaten bei. In England echauffiert sich die Boulevardpresse über unscharfe Fotos der schwer verletzten Lady Diana in einem amerikanischen Fernsehbericht, obwohl die Prinzessin zu Lebzeiten zu den meistfotografierten Personen der Zeitgeschichte gehörte.
Auch in Deutschland gibt es gleich eine ganze Reihe von Themen, die heftig diskutiert werden, weil sie an geschichtliche, ethische, religiöse oder parteipolitische Tabus rühren: Antisemitismus, Bombenkrieg, Sterbehilfe, Gentechnik, Abtreibung, Vertreibung, Wehrmachtsverbrechen, Bau von Moscheen, Präimplantationsdiagnostik, Political Correctness, Kopftuchverbot, Klonen, Sozialabbau. Möglicherweise treibt schon die willkürliche Aneinanderreihung dieser Begriffe manchem Leser den Butdruck nach oben.
Wer innerhalb seines Freundeskreises oder seiner Partei ein als sinnvoll und mächtig erachtetes Tabu verletzt, wird durch Abwendung, Ächtung und Ausschluss bestraft. Diese Erfahrung mussten zum Beispiel Jürgen Möllemann und Martin Hohmann nach ihren unsäglichen Äußerungen über Juden machen. Die Reaktion zeigte auch, dass Antisemitismus ein überaus lebendiges Tabu darstellt. Ähnlich vehement reagiert die Öffentlichkeit auf das Thema Folter: Dem Bundeswehrprofessor Michael Wolffsohn bläst seit einem Interview, in dem er die Anwendung von Folter bei Terroristen als "legitim" bezeichnet hatte, ein kalter Wind ins Gesicht.
Dabei gilt es spätestens seit 1968 als chic, Tabus zu brechen. Die sexuelle Revolution und die Aufarbeitung des Nationalsozialismus sehen viele aus dieser Generation ebenso als Erfolgsgeschichte an wie den Tabubruch, eine neue Ostpolitik zu wagen. Allerdings funktioniert das Zerbröseln heiliger Fundamente nur, wenn sie de facto bereits ausgehöhlt sind, also ihre schutz- und identitätsstiftende Funktion längst verloren haben und einer Weiterentwicklung der Gesellschaft im Wege stehen. Für die deutsche Bevölkerung des 21. Jahrhunderts heißt das: Sie wird bei existenziellen Herausforderungen wie der Überalterung, der Staatsverschuldung, der Energieversorgung, den Gesundheitskosten und anderem alte Wahrheiten über Bord werfen und dafür neue etablieren. Der Prozess kann schmerzhaft werden. Er kann auch misslingen. Aber das ist unwahrscheinlich. Schließlich sind leidenschaftliche Diskussionen und gute Argumente alles andere als tabu.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin.
Buchtipp: Kraft, Hartmut: Tabu. Magie und soziale
Wirklichkeit. Patmos Verlag, 2004. 19,90 Euro.