Für die Vertreibung aus dem Paradies reichte ein einziger Apfel. Deutsche Supermärkte, gewissermaßen die Fortsetzung des Schlaraffenlandes mit anderen Mitteln, bieten heutzutage eine Handvoll verschiedener Apfelsorten an. Vor nicht allzu langer Zeit gab es deren noch Hunderte. Vorbei, durch`s Logistikraster der Handelsgötter gefallen.
Zum Trost haben die uns Früchte aus aller Welt geschenkt. Und sich selbst, ganz nebenbei, Lagerung und Transport erleichtert. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die Welt für deutsche Gaumen und Mägen so grundlegend verändert wie nie zuvor. Ob Nasi Goreng, Gyros, sieben mal sieben verschiedene Nudelsorten, kartonverpacktes Tomatenpüree, folienverschweißtes Fleisch, gefriergetrocknete Früchte oder halbgare Aufbackwaren. Nie zuvor hatte unser täglich Brot so viele und - nüchtern betrachtet - so wunderliche Antlitze wie heute. Nie zuvor konnten seine Eigenschaften durch zahlreiche Aromen, Farb- und Zusatzstoffe und technologische Kniffe nahezu beliebig gestaltet werden.
"Wer würde schon eine Welt retten wollen, in der es nur noch Tütensuppen gibt?", fragte der Filmkritiker Georg Seeßlen sich und seine Leserschaft vor einiger Zeit. Bereits 1886 schenkte Erfinder Julius Maggi der Welt die erste Fertigsuppe und traf vor allem den Bedarf der im Zuge der Industrialisierung in die Städte geströmten Massen. Binnen zweier Jahre soll das Angebot bereits auf zweiundzwanzig Sorten angewachsen sein.
Fertig konfektionierte Lebensmittel machen inzwischen die eigenhändige Zubereitung selbst einfachster Gerichte überflüssig. Längst gibt es Pfannkuchenteig als Brei-im-Beutel fertig zu kaufen. Zwischen dem weit verbreiteten Anspruch, sich gesund, leicht, bekömmlich und frisch zu ernähren, und dem real existierenden Küchenelend klafft eine immer größere Lücke. Dass die auch vor Bio-Käufern nicht halt macht, lehrt ein Blick in die Ökoläden. Vorgefertigte "Convenience"-Produkte und Snacks haben längst die ehedem puristischen Regale lebensmitteltechnologisch in Stand besetzt. Kochen ist nicht nur bei Singles, sondern auch in immer mehr Familien eher die Ausnahme denn die Regel. Und statt des Dunstabzugs schalten wir die Glotze ein, um uns fehlende eigene Schnippelerfahrungen von fingerflinken Fernsehköchen vorführen zu lassen.
Die Anschaffung kaum genutzter Designerküchen ist zwar prestigeträchtig, wirkt aber wie das möbelgewordene schlechte Essens-Gewissen. Familien, Landstriche und ganze Nationen wurden und werden bis heute mit bestimmten Rezepten oder Spezialitäten in Verbindung gebracht. Doch kaum jemand bringt die Gerichte noch selbst zustande. Während zwischen einzelnen Regionen lautstarke Scharmützel um die Frage ausgefochten werden, in wessen Küchen der erste Sauerbraten eingelegt wurde, scheint klammheimlich die Zeit seiner allerletzten Zubereitung anzubrechen. Egal ob im Rheinland oder in Schwaben.
Jeder mittelmäßige Supermarkt hat heute rund 20.000 Artikel gelistet. Scheinbar alles ist überall und jederzeit zu haben. Die Hersteller buhlen bei den mächtigen Handelsketten um die lukrativsten Regalmeter. Wer keine großzügigen Werbeaktionen verspricht, muss leider draußen bleiben - oder in die unteren Regaletagen. Dem Tiefkühlspezialisten Frosta gelang es zwar, seine Fertiggerichte ohne Geschmacksverstärker und sonstige Zusatzstoffe zu fabrizieren, aber der Durchbruch im Supermarkt blieb aus. Im Kampf um die Kühltruhen unterlag er jenen Mitbewerbern, die über die größeren Werbebudgets verfügen. Reklamemacht geht nun mal vor Produktqualität.
Zweieinhalb Milliarden Euro pumpt die Ernährungsindustrie jedes Jahr in die Werbung, rund ein Viertel davon für Süßwaren. Die Produkte können noch so zucker- und fettreich sein, als "Kinderlebensmittel" beworben versprechen sie Extraprofite. Die angebliche "Extraportion Milch" in so genannten Kindermilchriegeln besteht aus Milchpulver, Butterreinfett und Zusatzstoffen wie Emulgatoren, Aromen, bedenklichen Farbstoffen und Konservierungsmitteln. Der Zuckergehalt wird auf dem Etikett geschickt hinter der Bezeichnung "Kohlehydrate" versteckt. Ein neunjähriges Kind müsste, um seinen Tagesbedarf an Kalzium zu decken, 17 Milchschnitten essen - und würde damit gleichzeitig 40 Stück Würfelzucker und ein halbes Paket Butter zu sich nehmen!
Wen nimmt es da Wunder, dass inzwischen bereits die Bauchspeicheldrüsen fünfjähriger, überfütterter Kinder vor derartigen Kalorien-Exzessen kapitulieren. Dieses landläufig als Altersdiabetes bezeichnete Phänomen ereilte bislang Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Ratlos fragt man sich, was Eltern umtreibt, die ihren Kindern süße und noch dazu teure Snacks statt Apfel und Pausenbrot in die Schultaschen stecken. Während die Politik die Ernährungsbranche an runde Tische und McDonald`s die bewegungsscheue Kundschaft zum Einsatz eines Schrittmessers einlädt, wähnen andere sich einen Schritt weiter. So zum Beispiel Nestlé mit ihrer "Nutrel" getauften neuen Palette an "functional foods". Deren "funktioneller" Zusatznutzen soll Genuss ohne Reue sein. Die dazugehörige Werbebeichte "Ich habe GESUNDigt" liefert die Absolution gleich mit.
Die Logik industrieller Produktionsprozesse gilt längst für die Herstellung der Mehrzahl aller Lebensmittel. Hoch spezialisierte Zulieferer bieten ballaststoffreiches Gummi Arabicum statt schlichter Kleie für den Müsliriegel oder getrocknetes Olivenöl in Pulverform fürs Aufbackbrötchen im angesagten Ciabatta-Style. Farben aus umfangreichen Katalogen sorgen für ein perfektes Essens-Make-up, das sogar Bratrohr oder Mikrowelle übersteht. Was immer wir beim Essen zu riechen, sehen oder schmecken glauben, kann simuliert, synthetisiert oder sonst wie lebensmitteltechnologisch herbeigezaubert werden. Das fängt beim Rohstoff an. Bereits dem Tierfutter werden appetitanregende Aromen und Geschmacksverstärker beigemischt. Aus süßen, kleinen Ferkeln werden so dank täglicher Gewichtszunahme von 800 Gramm in Windeseile Schnitzel, Schinken und Knackwurst.
Die annähernd 6.000 Unternehmen der deutschen Ernährungsindustrie erwirtschaften mit rund einer halben Million Mitarbeitern einen Jahresumsatz von
128 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Die gesamte deutsche Automobilindustrie bringt es auf etwa 200 Milliarden Euro. Weitgehend unbehinderter Import von unverarbeiteten Rohstoffen aus aller Welt bei gleichzeitiger Abschottung des EU-Binnenmarktes für verarbeitete Lebensmittel verschaffen willkommene Marktvorteile.Während private Haushalte für Lebensmittel vor 50 Jahren fast die Hälfte ihres verfügbaren Einkommens ausgeben mussten, reicht heute ein Achtel aus. Die dadurch anderweitig verfügbare Kaufkraft half der Nachkriegswirtschaft auf die Beine. Verpackte Käse- und Wurstscheiben galten vor dreißig Jahren als Zeichen des Fortschritts und die vermittels "Ultrahocherhitzung" dauerhaltbar gemachte H-Milch im Karton eroberte zunächst die Supermarkt- und dann die heimischen Vorratsregale.
Kulinarische Reisemitbringsel wie Pizza, Pasta und Co. wurden zunächst am heimischen Herd nachgekocht, mutierten inzwischen jedoch, ebenso wie Türkisches und Asiatisches, zu Tiefkühlklassikern. Lange bevor die deutsch-deutsche Soljanka-Grenze fiel, hatte, wer im Westen etwas auf sich hielt, von Sushi mindestens gehört und Olivenöl längst in die eigene Küche integriert. Gastronomische Vorlieben folgen nicht nur dem Wechsel der Moden, sie gehören für manch einen zur imageträchtigen Performance. In welcher Verkleidung typisch deutsche Küche wieder en vogue kommt, entscheiden womöglich die heutigen Bärlauch-Avantgardisten in der übernächsten Saison.
Trends wie Skandale sind beim Essen leicht verderbliche Ware. Nur ein paar Jahre ist es her seit der Rinderwahnsinn Hochsaison in Europa hatte. Am Anfang der BSE-Krise standen unverantwortliche Sparmaßnahmen bei der Beseitigung von Tierkörpern in Maggie Thatchers privatisiertem Königreich. Das gesamte Ausmaß von BSE aber ist die Folge des Versagens der europäischen Politik auf nahezu allen Ebenen. Die hat zwischenzeitlich immer wieder Besserung gelobt. Doch da auch andere Lebensmittelskandale nach ähnlichen Mustern ablaufen, ist mehr als Skepsis angebracht. So lautstark die Entrüstung der Politiker und das mediale Raunen über den Nitrofenskandal im Frühsommer 2002 gewesen sind, so sang- und klanglos durfte die ermittelnde Staatsanwaltschaft ihre Bemühungen Ostern 2004 einstellen, ohne dass irgendjemand zur Verantwortung gezogen worden wäre.
Jahrzehntelang rührten Politik und Ernährungswirtschaft nämlich jenen sinnestäuschenden Brei an, den wir heute in nahezu beliebigen Variationen mampfen. Wie zum Beispiel so genannten Erdbeerjoghurt, der in Wahrheit nur den Bruchteil einer tatsächlichen Erdbeere enthält, seinen Geschmack australischen Holzspänen und seine Konsistenz nicht gemächlicher Reifung, sondern allerlei Zusatzstoffen verdankt.
Am Anfang stand die Verheißung, dass Nahrungsmittel immer billiger hergestellt werden könnten, ohne an Güte und Wert einzubüßen. Lobbyisten und Gesetzgeber haben deshalb über Jahre hinweg standardisierter Massenware den Weg förmlich planiert. Gewürzt mit EU-weit jährlich 40 Milliarden Subventions-Euro und versteckt hinter klein gedrucktem Etikettenkauderwelsch entstand eine beklagenswerte Mischung aus massenhafter Arbeitsplatzvernichtung auf dem Land und beim Ernährungshandwerk, Preisillusion bei den Konsumenten und Qualitätsbeliebigkeit bei den Produkten. Was wir aber brauchen sind Regeln und Gesetze, die den Wettbewerb um echte und wahre Qualität fördern und entsprechend engagierte Produzenten belohnen. Regeln, die den Lebensmittelhandel zu klarer und allgemeinverständlicher Kennzeichnung zwingen. Damit wir billige Kunstfarbe von echter Fruchtfarbe unterscheiden können. Damit wir wissen, woher der Geschmack auf der Pizza in Wahrheit kommt. Damit wir erfahren, welche Pestizide in welchen Mengen in welcher Winterpaprika oder Früherdbeere stecken. Damit wir unterscheiden können, wann ein billiges oder teures Angebot wirklich preiswert ist. Die Qualität unseres Essens ist längst eine politische Angelegenheit geworden, nicht erst seit der Debatte um Gentechnik. Vielleicht, dass wir in einen Apfel beißen müssten, um zu erkennen...
Matthias Wolfschmidt arbeitet bei der Verbraucherorgansiation foodwatch.