Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 26 / 21.06.2004
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Hartmut Hausmann

Ein nicht ganz neues Europa-Parlament

Extrem niedrige Wahlbeteiligung

Wenn die vom 10. bis 13. Juni neu gewählten Europa-Abgeordneten Ende Juli zu ihrer konstituierenden Sitzung in den Straßburger Plenarsaal einziehen, beginnt eine neue Herausforderung für das Vielvölker-Parlament. Es muss sich mehr als bisher mit seiner Arbeit Gehör in Europa verschaffen. Die Wahlbeteiligung war mit 45,3 Prozent noch niedriger als vor fünf Jahren. Besonders gering war sie in den neuen EU-Mitgliedsländern: In Polen nahm nur jeder fünfte Bürger sein Wahlrecht wahr, in der Slowakei wollten nur knapp 17 Prozent der Bevölkerung darüber entscheiden, wer sie künftig in Straßburg vertritt. Dass die Gesamtwahlbeteiligung in der EU nicht noch katastrophaler ausfiel, ist den Ländern zu verdanken, in denen zum Teil unter Strafandrohung Wahlpflicht herrscht.

Diejenigen, die künftig auf dieser Grundlage im Europa-Parlament arbeiten werden, können sich schwerlich auf einen europäischen Wählerauftrag oder auf eine Wiederwahl wegen ihrer Gesetzgebungsarbeit in der vergangenen Wahlperiode berufen. Zu sehr bestimmte die jeweils nationale Politik in den einzelnen Ländern den Wahlausgang. Wenn die Europa-Parlamentarier also die Aufmerksamkeit der Wähler dauerhaft erringen wollen, müssen sie dort, wo sie am meisten zu sagen haben und zugleich die Interessen der Menschen unmittelbar vertreten, wie beispielsweise beim Verbraucherschutz, dies auch öffentlichkeitswirksam tun.

Dazu aber wäre es im Interesse der Sache notwendig, näher zusammenzurücken und künftig auf parteipolitische Show-Gefechte mit Blick auf die nationale Politik zu verzichten. Zugleich sollte das Parlament seine Chance suchen, als die einzige unmittelbar vom Volk legitimierte europäische Institution stärker für die Ausweitung der Parlamentsrechte und damit für eine demokratisch verfasste EU zu kämpfen. Vor allem müsste es sich gegen die im Ministerrat vertretenen 25 Regierungen der Mitgliedsländer öffentlichkeitswirksam behaupten, die sich oft fast allmächtig aufführen, wie zuletzt in der Frage der Übermittlung von Fluggastdaten an die USA. Ohne Hemmungen setzten sie sich über das Votum der Abgeordneten hinweg und warteten auch nicht das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ab, der prüfen soll, ob dies mit den europäischen Datenschutzbestimmungen vereinbar ist. Und die Finanzminister planen gar, die Haushaltsrechte der Parlamentarier wieder einzuschränken.

Auf den ersten Blick ist in Straßburg, wie Fernsehkommentatoren in der Wahlnacht voreilig und ungeachtet der zum Teil heftigen Verschiebungen in einzelnen Mitgliedstaaten vermeldeten, fast alles gleich geblieben. Nur größer sind die meisten Fraktionen wegen der zehn neuen Mitgliedstaaten geworden. Da sich aber sowohl die Gesamtzahl der Parlamentsmitglieder von 526 auf 732 Sitze erhöht hat, während gleichzeitig bis auf Deutschland (99) und Luxemburg (6) die Zahl der Abgeordneten verringert wurde, helfen nur Prozentzahlen bei einem Vergleich weiter. Mit 37,2 Prozent haben die in der Europäischen Volkspartei (EVP) zusammengeschlossenen Christdemokraten unter dem bisherigen und wohl auch künftigen Fraktionsvorsitzenden Hans-Gert Pöttering ihre Position als stärkste Gruppe behauptet und werden damit auch den Parlamentspräsidenten stellen wollen. Ob sie dabei wieder eine Absprache mit den Liberalen treffen, ist eher unwahrscheinlich, da es inhaltlich zwischen beiden Lagern doch größere politische Differenzen gab.

Die Eigenständigkeit der Liberalen könnte nach der deutlichen Verbesserung ihrer Position von 8,1 auf neun Prozent, was vor allem auf die Rückkehr der deutschen FDP in das Straßburger Parlament zurückzuführen ist, eher noch zunehmen. Stattdessen könnten die von 28,8 auf 27,5 Prozent zurückgefallenen Sozialdemokraten an einer Absprache interessiert sein, um nach langen Jahren wenigstens in der zweiten Hälfte der Wahlperiode den Präsidentenstuhl zu besetzten und damit ihre Chancen bei der nächsten Wahl zu erhöhen.

Wesentlich deutlichere Verluste mussten die Grünen (von 7,7 auf 5,7 Prozent) und die Vereinigte Linke (von 6,7 auf 4,9 Prozent) in ihrer Straßburger Präsenz hinnehmen. Die Ursache liegt darin, dass die ökologische Bewegung in den neuen Mitgliedstaaten noch schwach vertreten ist und die kommunistischen Parteien in Frankreich, Spanien und Italien die Hälfte ihrer Mandate verloren haben.

Während die bürgerliche, aber eher nicht integrationsorientierte Fraktion "Europa der Demokratie und der Unterschiede" mit 2,5 Prozent (-0,1) unverändert blieb, kann die bisher kleine Gruppe der Europagegner "Unabhängige für das Europa der Nationen" (von 4,2 auf 3,8) noch auf Zuwachs hoffen. Immerhin 69 zumeist antieuropäische, radikale Abgeordnete (9,4) haben sich noch nicht für einen Anschluss an eine Gruppe entschieden oder keine Aufnahme gefunden. Darunter die zwölf britischen Abgeordneten der überraschend stark gewordenen "United Kingdom Independence Party".

Auch wenn somit noch leichte Verschiebungen in der Straßburger Fraktionslandschaft möglich sind, scheint eines doch sicher: Bei nun rund 100 gegenüber bisher 56 Abgeordneten extremer Parteien müssen die demokratischen Gruppen auch deshalb künftig enger zusammenarbeiten, wenn sie Europa voranbringen wollen, weil sie nur so die für die Gesetzgebung erforderliche Mehrheit von 367 der 732 Abgeordneten erreichen können.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.