Wenn von politischen Grenzen die Rede ist, wird fast immer auf das Einengende, Blockierende und Negative verwiesen. Politische Grenzen sind zu einem Synonym für die Einschränkung individueller Freiheit geworden. Wenn Grenzzäune abgebaut werden und Grenzziehungen ihre Bedeutung verlieren, ist dies fast immer von der Zustimmung des Publikums begleitet. Darüber wird die Produktivität politischer Grenzen übersehen: Grenzziehungen im Raum sind immer auch ein Schutz gegen politische Maßlosigkeit, gegen immer weitere Expansion, gegen das Versickern politischer Projekte in der Weite des Raumes. Am Umgang mit politischen Grenzen zeigt sich der Unterschied zwischen staatlicher und imperialer Macht. Vor allem aber: erst durch Grenzziehung nach außen wird Integration im Innern möglich.
Im Unterschied zur Politik hat die Wirtschaft das Grenzziehen nie sonderlich geschätzt. Sie nämlich integriert Räume nicht durch das Ziehen von Grenzen, sondern durch das Bahnen von Strömen und Kanälen, in denen sich dann Waren und Menschen, Informationen und Kapitalien bewegen lassen. Insofern bedienen sich Politik und Wirtschaft seit jeher unterschiedlicher Methoden und Formen der Integration. Politische Grenzen zielen eher auf eine statische, wirtschaftliche Kanäle dagegen auf eine dynamische Integration. Gelegentlich finden beide auch zusammen, wie etwa in der Hochzeit der Nationalökonomie, als sich das Bahnen von Strömen auf den politisch umgrenzten Raum konzentrieren und ihn zum Blühen bringen sollte. Die politischen Grenzen sollten zugleich Prosperitätsgrenzen werden. Das Problem dieses Projekts war, dass es die Anreize für eine gewaltsame Grenzüberschreitung der Nachbarn erhöht hat. Oder auch das Gefühl der Prosperierenden, sie könnten der Nachbarn leicht Herr werden und diese würden ihrer Eroberung zustimmen, weil sie dann Teil des Prosperitätsraums sein dürften. Der zeitweilig in Europa unternommene Versuch, politische und wirtschaftliche Grenzen zur Deckung zu bringen, hat die Wahrscheinlichkeit von Kriegen erhöht.
Schon nach dem Ersten Weltkrieg gab es darum Vorschläge, einen europäischen Integrationsprozess durch die Entflechtung der politischen von den wirtschaftlichen Grenzziehungen in Gang zu setzen beziehungsweise die Ströme des wirtschaftlichen Austauschs nicht länger durch politische Grenzziehungen blockieren zu lassen. Was nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als Montanunion und dann als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in Gang kam, folgte weitgehend diesem Modell der Grenzentflechtung. Erst im Verlauf der 80er- und 90er-Jahre hat sich in Europa wieder die Idee durchgesetzt, politische und wirtschaftliche Grenzen müssten zur Deckung gebracht werden, und dementsprechend sollte der inzwischen entstandene Wirtschaftsraum auch als einheitlicher politischer Raum ausgestaltet werden. Ob das gut gehen kann, wird man noch sehen müssen. Der Entschluss, den politischen und den wirtschaftlichen Raum wieder zur Deckung zu bringen, war sicherlich auch eine Reaktion darauf, dass die Ströme der Wirtschaft sich inzwischen der politischen Kontrolle zu entziehen drohten, weniger im europäischen als im globalen Rahmen. Europäische Grenzen sollten darum die Flut der Globalisierung eindämmen.
Das ist die andere Seite der Grenzziehung: die Abschottung nach außen, die Abschließung von Räumen gegen alle, die in sie hineinwollen. Solche Grenzziehungen folgen zumeist den Imperativen der Besitzstandswahrung und des Vermögensschutzes. Man hat, was man hat, und möchte es mit niemandem teilen - schon gar nicht mit den Habenichtsen aus aller Welt. Vielleicht lassen sich Grenzziehungen aus politischer Urteilskraft von Grenzziehungen aus Furcht unterscheiden? Zumindest analytisch müsste dies möglich sein, während bei tatsächlichen Grenzziehungen wohl beide Elemente stets zusammenspielen und immer sowohl das eine als auch das andere anzutreffen ist. Aber die Gewichtungs- und Einflussverhältnisse unterscheiden sich von Fall zu Fall, und dementsprechend kann der Charakter dieser Grenzziehungen genauer bestimmt werden.
In Europa begann die politische Karriere der Grenzziehungen mit dem Übergang vom Personenverbandsstaat zum institutionellen Flächenstaat. Personenverbandsstaatliche Ordnungen, wie sie die antike Polis, aber auch der mittelalterliche Lehensverband darstellen, begründen Zugehörigkeit und Loyalität auf der Grundlage persönlicher Merkmale und Verbindungen. Nicht das Territorium von Attika, sondern die athenische Bürgerschaft machten den Stadtstaat Athen aus, und wer als athenischer Bürger zu gelten hatte, wurde in inneren Machtkämpfen und Beschlussfassungen festgelegt. Expansion nach außen vergrößerte nicht das Staatsgebiet, sondern nur die Anzahl der von Athen abhängigen Städte. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Zeit der Lehensordnungen. Herkunft, Beziehungen und personale Loyalitäten bildeten den Kern der politischen Ordnung; territoriale Grenzen konnten sich daraus ergeben, aber sie spielten eine eher marginale Rolle. Dies zeigt sich auch darin, dass Konflikte und Kriege so gut wie nie aus Grenzstreitigkeiten entstanden. Tatsächlich vorhandene Grenzen waren politisch nur schwach codiert.
Das änderte sich in Europa zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert. Der zentralen Formel des Augsburger Religionsfriedens, wonach dem, der das Land beherrsche, auch die Entscheidung über die konfessionelle Ausrichtung der darauf lebenden Menschen zustehe (cuius regio, eius religio), kam dabei eine herausgehobene Bedeutung zu. Sie ist ein Meilenstein bei der Entstehung des modernen institutionellen Flächenstaates, der Ordnung nicht mehr über Personen, sondern über Territorien definiert und infolgedessen territoriale Grenzen politisch erheblich stärker codiert. Diese Grenzen markieren von nun an die Reichweite der institutionell gesicherten Ordnung. Was jenseits dieser Grenzen liegt, gehört zu einer anderen institutionellen Ordnung. Und der Versuch, die Reichweite der jeweiligen Ordnungen zu verschieben, läuft zwangsläufig auf die Führung eines Krieges hinaus. Die Grenze im Raum ist insofern immer auch eine Grenze zwischen Krieg und Frieden.
Staaten arrangieren sich miteinander, indem sie sich auf klare Grenzziehungen verständigen und alle Zwischen- und Übergangsräume tilgen. Der Fortbestand von Übergangsräumen, in denen die Geltung einer rechtlichen und politischen Ordnung allmählich abnimmt und sich schließlich in der Weite des Raumes verliert, ist ein Indikator dafür, dass wir es hier nicht mit Staaten, sondern mit Imperien zu tun haben, für die äußere Begrenzungen immer semipermeabel sind: von innen nach außen sind sie beliebig überschreitbar, von außen nach innen keineswegs. Dagegen herrscht an zwischenstaatlichen Grenzen das Prinzip der Reziprozität; für beide Seiten gelten gleiche Rechte und gleiche Pflichten. Diese Reziprozitätsstrukturen der Staatenordnung, die unabhängig von der jeweiligen Macht und Größe der Staaten Gültigkeit haben, werden nirgendwo so sinnfällig wie an den zwischenstaatlichen Grenzen; allenfalls die Etikette der Diplomatie ist damit vergleichbar. Nichts ist darum so aufschlussreich wie ein Blick auf das Grenzregime.
Die innerdeutsche Grenze war bis 1989 ein gutes Beispiel für die Folgen fehlender Reziprozität. Die Staatsgrenze war zugleich eine Grenze politisch und wirtschaftlich unterschiedlicher Systeme. Sie hatte vor allem die Funktion, den sonst in Gang kommenden Menschenstrom von einem in den anderen Staat zu blockieren. Die Systemgrenzen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren in einer Weise übercodiert wie kaum eine Grenzziehung zuvor. Das Niederreißen dieser Grenze war zweifellos ein Akt der Befreiung. Aber deswegen ist noch lange nicht jede Art von Grenzbeseitigung ein Schritt zu größerer Freiheit.
In der Geschichte kann man zwei Strategien im Umgang mit politischen Grenzen beobachten: die Bündelung politischer und wirtschaftlicher, nationaler, kultureller und religiöser Grenzen auf der einen und deren Dissoziation auf der anderen Seite. Welche der beiden Strategien erfolgreicher ist, hängt von den Rahmenbedingungen und den jeweils verfolgten Zielen ab. Grenzbündelung kann der inneren Integration zugute kommen und die Solidarität einer politischen Gemeinschaft stärken; ebenso kann sie aber auch zu einer gesteigerten Konfliktfähigkeit dieser Gemeinschaft nach außen führen und die Auseinandersetzungen um den genauen Verlauf dieser Grenzen intensivieren. Das war in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Fall, als es um das Zur-Deckung-Bringen nationaler und staatlicher Grenzen ging. Aber auch die Separierung von staatlichen und nationalen Grenzen, wie sie für den südosteuropäischen Raum typisch ist, kann konfliktintensivierend wirken, wie der Zerfall der Donaumonarchie am Anfang und der Jugoslawiens am Ende des 20. Jahrhunderts zeigen.
Politische Grenzziehung ist eine Kunst, die mit mehr oder minder großem Geschick gehandhabt werden kann. Die Geschichte dieser Grenzziehungen zu studieren kann angesichts der nach wie vor nicht endgültig fixierten EU-Außengrenzen überaus lehrreich sein. Politische Pazifizierung und wirtschaftliche Konsolidierung dürften dabei die Maßstäbe bilden. Gelegentlich wird auch kulturelle Identität als Maßstab geltend gemacht. Aber damit droht ein weiteres Mal die Gefahr der Übercodierung von Grenzen. Die Mehrfachcodierung von Grenzen soll diesen Akzeptanz und Stabilität verleihen. Aber sie nimmt der Grenze dadurch an Flexibilität. Die Kunst der Grenzziehung besteht also in der Verbindung von Stabilität und Flexibilität. Wer sie beherrscht, wird von späteren Generationen als großer Staatsmann und Politiker gepriesen.
Herfried Münkler ist Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin.