Keine der früheren Erweiterungsschritte der Europäischen Gemeinschaft hat eine Debatte über die Grenzen Europas provoziert. Im Falle des Europarates sind in den vergangenen Jahren auch Staaten des ferneren Ostens bis hin zu Aserbaidschan mit sonderbarer Selbstverständlichkeit aufgenommen worden. Jetzt aber wirft die EU-Osterweiterung wegen ihres verbindlicheren Charakters die Frage auf, wo denn der europäische Osten seine Grenzen hat. Who's next? Die Ukraine? Sie hat immerhin schon mal den Europäischen Schlagerwettbewerb gewonnen. Und Polen lässt uns wissen, dass es nicht am Rand der EU bleiben, sondern eine mittlere Stellung zwischen Westen und Osten einnehmen will.
In den vergangenen Monaten haben die Medien noch und noch über organisch gewachsene Regionen berichtet, die durch die neue EU-Außengrenzen zerschnitten werden. Die alte Teilung von 1945 ist um den Preis neuer Teilungen rückgängig gemacht worden. So sieht sich die EU vor die Aufgabe gestellt, ein Modell der Nachbarbeziehungen zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern zu entwickeln, das die Draußenbleibenden nicht zu stark diskriminiert und sie auch nicht ganz im Integrationssog aufgehen lässt. Denn wenn es eine Grenze gibt, dann ist es die der organisatorischen Handhabbarkeit der EU, wobei auch diese Grenzen unterschiedlich eingeschätzt werden.
Europa erschien schon immer als im Osten auf unheimliche Weise offen, jedenfalls trotz Ural und Kaukasus nicht durch klare geografische beziehungsweise "natürlichen" Grenzen abgeschirmt. Zudem weiß man, dass auch die "natürlichen" Grenzen in vielen Fällen keine sind, sondern im Gegenteil recht eigentliche Brücken, wie das im Mittelmeer immer wieder in drastischer Weise vorgeführt wird.
Die Annahme, dass Europa im Süden und Westen klare Grenzen habe, ist zu relativieren. Im Süden war das Mittelmeer über Jahrhunderte eine Art Binnensee; es war der erste große Wirtschaftsraum und mehr "zone de contact" als "ligne de fracture". Im Westen gibt es bis heute enge politische, kulturelle, militärische Bande, welche aus der alten und der neuen Welt so sehr eine atlantische Einheit machen, dass das kleine Kap des asiatischen Kontinents (Paul Valery 1919) näher beim Hudson und Potomac liegt als beim Dnjepr oder bei der Wolga. Und im Norden kommt ohnehin vieles nahe zusammen: Europa, Russland, Amerika.
Sofern man schematisierende Raumbilder benötigt, dürfte der Entwurf des Historikers Theodor Schieder eines der brauchbarsten sein: Er trägt in seiner Einleitung zum Handbuch der europäischen Geschichte der relativen Offenheit Europas nach allen Seiten Rechnung, indem er von drei Vorfeldern spricht: dem eurasischen, dem atlantischen und dem mittelmeerisch-afrikanischen. Vorfeld, Überlappungen, variable Geometrie: Wir müssen und wir können damit leben, dass die Dinge kompliziert sind und dass Regionen geomorphologisch, aber nicht kulturell oder - umgekehrt - kulturell, aber nicht geomorphologisch (und klimatisch) zu Europa zählen.
Es gibt einen verständlichen Hang, Europa auf Grund vorgegebener Tatsachen definieren zu wollen. Zum Beispiel eben mit Hilfe der Geografie als der härtesten Prämisse, dann auf Grund von Geschichte, Kultur, Religion, et cetera. Diese Verstehensweise geht davon aus, dass sich die Gegenwart nach der Vergangenheit zu richten oder dieser wenigstens - wissend und verstehend - zu entsprechen habe. Gegenwarts- und Zukunftsarbeit wäre demnach so etwas wie ein permanentes Wiederentziffern des Vergangenen.
Dem steht die Gegenauffassung gegenüber, dass der gegenwärtige Realisationswille das Verständnis und die entsprechenden Definitionen bestimmt. Die karolingische Zeit ist, um nur gerade dieses Beispiel zu nennen, bloß in dem Maße eine noch immer nachwirkende und mitbestimmende Kraft, als wir dies hier und heute so sehen und so haben wollen, zum Beispiel zur Rechtfertigung von "Kerneuropa". Damit ist nicht einer völligen Beliebigkeit das Wort geredet, sondern die Geschichte nur als gegebenes Potenzial verstanden, das man - wiederum wissend und verstehend - aktivieren kann, so man will.
Es gibt keine absoluten Antworten. Man muss sich fragen, welche Funktion diese oder jene Betrachtungsweise hat. Man kann, man muss aber nicht über eine Verfassungspräambel zum Ausdruck bringen, dass in Europa während einer gewissen Zeit die christliche Kultur ein bestimmendes Moment gewesen ist. Und man kann, muss aber nicht, das als eine Tatsache verstehen, welche die Mitgliedschaft nicht eines muslimischen Staates, sondern eines säkularen Staats mit muslimischer Gesellschaft ermöglicht oder verunmöglicht.
Oft wird die Erweiterung als Chance einer Wiedervereinigung Europas gesehen. Wiedervereinigung nach der Teilung durch die militärischen Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges (Stichwort: Jalta) oder Wiedervereinigung des Habsburger Imperiums, Wiedervereinigung des römisch-katholischen Kirchengebiets, oder gar, wie der italienische Kommissionspräsident ausgerufen hat, des Römischen Reiches. So verständlich diese Wiedervereinigungsrhetorik ist - ihr gegenüber wäre Skepsis angebracht: Denn erstens entspricht sie nicht den historischen Realitäten: Europa war nie im heutigen Sinn eine Einheit; zweitens verträgt sich die Metapher von der Verschmelzung schlecht mit der harten Realität der weiterhin national geführten Wirtschaftsbuchhaltungen und Beitrags- wie Bezugsrechnungen; drittens sollte man gerade als Historiker davor warnen, dass Gesellschaften ihren Status stärker durch Retrospektive als durch Prospektive definieren. Zukunftsidentitäten sind besser als Vergangenheitsidentitäten.
Für die neuen Mitgliedsländer ist die Idee nicht wichtig, dass man eine historische Einheit, die so nie bestanden hat, wieder herstellen möchte. Es geht nicht um eine Rückkehr in die Vergangenheit, sondern um einen Aufbruch in bisher nicht gehabte Verhältnisse - in echte Zukunft also. Statt mit geografischem und historischem Lexikonwissen Europa zu definieren, kann man mit einer neuen Art von Normativität sagen, dass Europa da liegt, wo dieser Aufbauwille vorhanden ist.
Europa war im vergangenen halben Jahrhundert wegen des "Eisernen Vorhangs" markanter zwischen Westen und Osten aufgeteilt, als dies den historisch-kulturellen Gegebenheiten entsprach. Jetzt, da dieser Limes aufgehoben ist, meldet sich aber nicht automatisch die "Einheit" zurück, die es in gewisser Hinsicht in gewissen Momenten vielleicht einmal gab. Was sich vor allem zurückmeldet, ist Zentraleuropa, die Mitte zwischen Westen und Osten, und dieses wiederum in eine westliche und östliche Region unterteilt.
Der so genannte "Osten" ist in vielen Köpfen des "Westens" eine dunkle Gefahrenzone, vermeintliche oder reale Quelle anhaltender Bedrohung, von den Hunnen über die Türken zu den Bolschewisten. Für diese Einschätzung steht die mehrfach geäußerte Annahme, dass mit der Osterweiterung nun die Kriminalität in Westeuropa zunehmen wird. Dem polizeilichen Kooperationsmodell von "Schengen" wird a priori Wirkungslosigkeit gegen derartige Gefahren unter-
stellt und dabei völlig übersehen, dass für die erweiterten Gebiete "Schengen" noch gar nicht in Kraft gesetzt und so trotz der Erweiterung vom 1. Mai die "schützende" Grenze zwischen den alten und neuen EU-Mitgliedern noch gar nicht aufgehoben worden ist. Die Neuen sind dagegen verpflichtet worden, ihre östlichen Außengrenzen zusätzlich zu sichern.
Der Blick auf Mittel- und Osteuropa ist manchmal auch von Mitleid, oft aber auch von Geringschätzung beziehungsweise Überheblichkeit geprägt. In diesen Fällen ist nicht das Gemeinsame, sondern das Trennende wichtig. Der "Osten" wurde auch im 19. Jahrhundert immer wieder als negative Folie zur positiven Selbstdefinition verwendet. Und das tatsächlich bestehenden West-Ost-Gefälle bezüglich Industrialisierung, Wohlstandsverbreitung und Demokratie schien diesen Bewertungen Recht zu geben. Eine Aufgabe der "Osterweiterung" besteht darin, diesen historischen Trend auszugleichen. Dabei wird der Westen nicht nur der Gebende, sondern auch der Nehmende sein.
Kann man von der Europäischen Gemeinschaft sagen, dass sie eine Willensgemeinschaft ist? Nicht mehr und nicht weniger als im Falle der Nationen. Da man aber generell geneigt ist, gegenüber der EU einen anderen, einen anspruchsvolleren Maßstab anzuwenden als gegenüber den (eigenen) nationalen Gemeinschaften, hat man Mühe, sich "Europa" als Willensgemeinschaft vorzustellen. Und doch muss man bei genauerem Überlegen zum Schluss kommen, dass in dem beschränktem Maß, in dem dieser Grundsatz auch für den Nationalstaat überhaupt zutrifft, dies für die EU ebenfalls gelten kann und gelten muss.
Wille wozu? Man muss sich Europa als Vertragsgesellschaft vorstellen, wobei es weniger um den Rousseau'schen Gesellschaftsvertrag geht als um die Bejahung einer Reihe von Verträgen (Rom, Maastricht, Amsterdam, Nizza). Zusammengehalten durch die Vielzahl der seit 1948 zustande gekommenen Verträge, verbunden durch die im Dezember 2000 auf dem Gipfel von Nizza verabschiedete Grundrechtcharta und durch die seit Jahrzehnten stets in Arbeit befindliche und jetzt sich vielleicht sogar auf der Zielgeraden befindende Verfassung. Der Wille gilt der Gemeinschaft, er ist aber nicht einfach hingebungsvoll altruistisch, sondern beruht auf der berechnenden und nicht uneigennützigen Einsicht, dass die eigene Position (als Großgruppe oder Einzelperson) in dieser Gemeinschaft besser aufgehoben ist als in einem Alleingangszenario (oder einer anderen Allianz) und dass es gerechtfertigt ist, im Falle von untergeordneten Interessenkonflikten im übergeordneten Interesse auch Kompromisse einzugehen und "Preise" zu bezahlen.
Die Europäische Gemeinschaft will oder kann zwar kein Staat sein. Sie hat aber mit dem Wesen Staat gemein, dass ihre Grenzen die Reichweite des eigenen Rechts, des Europarechts, bestimmen, dass sie einen Rechtsraum bilden, für den bestimmte Gesetze gelten, Gesetze, die das gesellschaftliche Leben in bestimmten Punkten regeln. Insofern also Europa und EU identisch sind, kann man Europa als Rechtsraum mit elastischen Konturen bezeichnen und mit Wolfgang Schmierer feststellen: "Europa hat keine klaren Grenzen, aber die Europäische Union schafft welche."
Und die Identität? Sie ist das Sekundärprodukt von geschaffenen Tatsachen auf institutioneller Ebene. Wie im Falles des nation-buildings folgt auch beim supranation-building (im nichtmarxistischen Sinn) das Bewusstsein dem Sein. Zuerst die gemeinsame Verwaltung, das gemeinsame Gericht, die gemeinsame Währung, dann die Gemeinsamkeitsvorstellungen. Ge-
nährt wird europäische Identität durch die Reproduktion und Zirkulation gemeinsamer Zeichen wie Fahne, Passbüchlein und Fahrausweis, Autoschilder, seit Januar 2002 durch das gemeinsamen Erscheinungsbild der Euro-Münzen und -Noten. Hinzu kommen die mit europäischem Klang versehenen Ortsnamen und die bisher allerdings nicht sehr einprägsamen Außenaufnahmen von EU-Gebäuden (insbesondere des Straßburger Parlamentes) und beispielsweise das subkutane Einspeisen von Europabildern in Form von Wetterkarten oder Kulissenbebilderung von Pressekonferenzen.
Was es offenbar braucht, ist ein Gefühl der selbstverständlichen Zusammengehörigkeit, welche nicht mit letztlich doch artifiziellen Willensakten bekräftigt werden muss. Jürgen Kocka nennt das zutreffend "einen gemeinsamen Fundus von innerer Kommunikation und relevanten Gemeinsamkeiten". Das scheint sich wenig vom üblichen, auf die Nationen fokussierenden Diskurs über gemeinsame Kultur und Geschichte zu unterscheiden. Gemeint ist aber nicht in fundamentalistischer Weise selbstwirkende Vergangenheit, sondern der aktuelle und öffentliche Austausch zwischen Angehörigen einer Großgruppe, die dadurch definiert ist, dass in ihr ein privilegierter und verbindlicher Kommunikationsaustausch stattfindet.
Es sind, zusammengefasst, nicht die vorgegebenen Grenzen, nicht die Geografie, nicht externe Faktoren, die Europas Grenzen bestimmen. Auch ist das Sein in der territorialen Dimension nur eine Art des Existierens. Die andere ist die der Außenwirkung, der Präsenz in der Welt, ohne imperiale Ambition, im Gegenteil sogar mit der Absicht, das zum Teil wieder gutzumachen, was in früheren Phasen der außereuropä-
ischen Präsenz ungut verlief - als verantwortungsbewusster Teil der Welt. Da hat man die redundante Gewissheit, dass die Art, wie Europa diese Verantwortung einlöst, europäisch sein wird. Europa definiert sich weniger durch die Geschichte als durch die Gegenwart. Seine Grenzen liegen dort, wo im globalem Rahmen die verbindliche Präsenz Europas endet.
Georg Kreis ist Direktor des Europainstituts der Universität Basel und Autor des Buches "Europa und seine Grenzen", Haupt-Verlag, 2004.