"Der vollkommen freie Handel: ein Paradies, in dem der individuelle Vorteil mit dem allgemeinen Wohle des Ganzen verbunden ist." Diese Aussage entstammt keiner Image-Broschüre eines Wirtschaftsverbandes zum Thema Globalisierung, sondern den Schriften eines Wirtschaftstheoretikers des späten 18. Jahrhunderts. David Ricardo, englischer Bankier und Nationalökonom, war überzeugt, dass es für das Wohl der Menschheit das Beste sei, wenn jedes Land sich auf die Herstellung der Güter spezialisiert, für die es den vergleichsweise geringsten Arbeitsaufwand benötigt - und alle anderen Güter im freien Handel erwirbt.
Frei nach dem Motto "Keiner kann alles" sollte dadurch jeder erfahren, dass er den anderen braucht: Selbst der Stärkste benötigt Handelspartner, und auch das schwächste Glied in der Kette hat Stärken, mit denen es im Handel aufwarten kann. In der berühmt gewordenen Theorie der komparativen Kostenvorteile wollte Ricardo deutlich machen, dass jeder vom freien Handel profitiert: Es ist nie ein Nullsummenspiel; jeder kann auf seiner Seite stets ein Haben verbuchen.
Soviel zur idealen Seite des freien Handels. Die globalisierte Realität knapp 200 Jahre später sieht anders aus: Der in der Theorie versprochene Wohlstand kommt nicht allen gleichermaßen zugute. Im Gegenteil: Der Abstand zwischen dem reichsten und dem ärmsten Fünftel aller Nationen hat sich binnen dreißig Jahren mehr als verdoppelt. Mehr als die Hälfte der Menschen lebt von weniger als zwei Euro pro Tag. Ein Viertel der Weltbevölkerung ist vom Zugang zu sauberem Trinkwasser ausgeschlossen. Die negativen Folgen der Globalisierung machen nicht an den Grenzen der Industrieländer halt: Der Konkurrenzdruck sorgt zwar für eine billige Warenvielfalt, aber auch dafür, dass Arbeitsplätze gestrichen oder verlagert werden. "Ein intensiver Handel erfordert einen ständigen Strukturwandel: Einzelne Unternehmen und Produktionszweige kommen durch Importe in Schwierigkeiten und müssen sich umstellen oder den Betrieb ganz einstellen. Auf der Arbeitnehmerseite sind vor allem die Geringqualifizierten betroffen, weil sie einem verstärkten Wettbewerb mit Geringqualifizierten aus anderen Ländern ausgesetzt werden", erläutert Johann Eekhoff, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Köln. Der Faktor Arbeit ist längst nicht so mobil wie der Faktor Kapital: Arbeitnehmer und ihre Familien erleben die Gefährdung ihrer Jobs und ihres Lebensunterhalts.
Sollte der englische Visionär Ricardo so falsch gelegen haben? In der Tat ist zwar seit Jahrzehnten ein hohes Wachstum des Welthandels zu beobachten, und wahrscheinlich waren Volkswirtschaften noch nie so abhängig vom Welthandel wie heute. Aber die Reichweite der internationalen Handelsverflechtung ist nicht global im eigentlichen Wortsinne. Der Wirtschafts- und Gesellschaftsethiker Friedhelm Hengsbach beschreibt in seinen Schriften, dass ein Drittel des Welthandels im Grunde genommen konzerninterner Handel ist. Allenfalls 30 Prozent der Weltbevölkerung sei direkt in die Weltwirtschaft integriert. Der Großteil des Welthandels spielt sich innerhalb der großen Handelsblöcke EU, Nafta, Asean und Mercosur ab - und fast ein Viertel allein innerhalb der Europäischen Union. Beispiel Deutschland: Die Bundesrepublik wickelte im vergangenen Jahr 75 Prozent ihres Exports in westliche Industriestaaten ab. Der wichtigste Handelspartner sowohl beim Im- als auch beim Export ist nach wie vor Frankreich. "Die Weltwirtschaft wird durch die Existenz der regionalen Blöcke strukturiert, was natürlich auch ein stabilisierendes Element in sich trägt. So ist der EU-Binnenhandel - also über die Hälfte unseres bisherigen Außenhandels - eigentlich kein Außenhandel mehr; die außenwirtschaftliche Abhängigkeit ist damit geringer geworden", argumentiert Henrik Uterwedde, Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg.
Es handelt also längst nicht jeder mit jedem: Der Außenhandel zeigt einen Trend zur Regionalisierung. Die Produktion trägt da schon eher globale Züge: So wurden die Computerchips, die den Airbag eines Autos steuern, in Boston erfunden und werden dort bis heute hergestellt. Getestet werden die Chips jedoch auf den Philippinen, verpackt in Taiwan und ins Fahrzeug installiert in einem deutschen Motorenwerk. Die steigende internationale Arbeitsteilung ist nichts Schlechtes per se. Im Gegenteil deckt sie sich doch mit der bereits von Ricardo geforderten Spezialisierung. Aber die Globalisierung stellt bis zum heutigen Tage eben nicht mehr als einen Flickenteppich dar: mit Produktionsketten und Kapitalbewegungen über nationale Grenzen hinweg - und mit jeder Menge Regulierungen, die im Grunde immer noch protektionistische Ziele haben. So liegt das durchschnittliche Zollniveau immer noch bei acht Prozent, in Entwicklungsländern oft noch weit darüber. "Handel wird vor allem zwischen Ländern betrieben, die viel produzieren und konsumieren. Umso wichtiger ist es den Zugang der großen Märkte auch für die Länder mit geringer Wirtschaftsleistung zu verbessern. Ein Problem liegt vor allem darin, dass die 'reichen' Länder den Markt für landwirtschaftliche Produkte nicht ausreichend öffnen." Der Kölner Wirtschaftsprofessor Eekhoff legt den Finger in eine der offenen Wunden der Globalisierung: Agrarprodukte werden immer noch wesentlich stärker tarifär geschützt als Industrieprodukte. Entwicklungsländer sehen sich auf den Industrieländermärkten aber auch generell einer deutlich höheren Zollbelastung ausgesetzt - auch bei Verarbeitungserzeugnissen. Vice versa schützen sie sich mit über viermal höheren Industriegüter-Zöllen - vor allem gegen die Exportbemühungen anderer Entwicklungsstaaten.
Dazu kommt, dass die Zölle in vielen Entwicklungsländern eine nicht zu unterschätzende Einnahme darstellen. Oft sind Zölle die einzige sichere Einnahmequelle in Staaten, in denen Steuersysteme nicht funktionieren. Fallen auch diese Zolleinnahmen weg, besteht die durchaus reale Gefahr, die Finanzierung des Verwaltungsapparats durch Korruption sicherzustellen. Bereits heute fließen im Zusammenhang mit internationalem Handel mindestens 100 Milliarden US-Dollar in die Bestechung von öffentlichen Bediensteten, schätzt die Organisation Transparency International. Und Unternehmen, die sich international an korrupte Praktiken gewöhnen, importieren dieses Problem in ihre Heimatstaaten.
Zwar bemüht man sich vor allem in den Verhandlungsrunden der Welthandelsorganisation WTO, Zoll als die klassische Ausprägung des Protektionismus abzubauen. Andere Regulierungen treten jedoch an diese Stelle: Anti-Dumping-Verfahren, Visa-, Lande- und Lizenzgebühren, Hafensteuern, technische Standards und zahlreiche Handelspräferenzen zeigen einem freien Welthandel Grenzen auf. Dienstleistungsanbietern aus dem Süden wird der Marktzugang durch die subventionierten Konkurrenten aus dem Norden erschwert: Sie können nicht mit Firmen konkurrieren, die durch Exportförderprogramme und Ausfallbürgschaften subventioniert werden. Im Schlussbericht der Enquete-Kommission des Bundestags zur Globalisierung der Weltwirtschaft heißt es dazu: "Die Öffnung der Märkte für ausländische Dienstleistungen bringt spezifische ökonomische, soziale und ökologische Risiken mit sich. Im Mittelpunkt stehen Befürchtungen, den Einfluss auf bestimmte öffentliche Versorgungsleistungen zu verlieren. Ferner bestehen starke Vorbehalte hinsichtlich einer Liberalisierung der öffentlichen Auftragsvergabe."
Selbst beim kleinsten bilateralen Nenner sind wirtschaftliche Verflechtungen durch Vorurteile und Fehleinschätzungen getrübt. In einer Studie des Deutsch-Französischen Instituts und dem Commissariat général du Plan kommen Experten beider Seiten zu dem Schluss, dass selbst innerhalb der klein-globalen deutsch-französischen Perspektive noch ein weiter Weg zu einem supranationalen wirtschaftlichen Denken zu bewältigen ist. "Frankreich gilt immer noch als protektionistisch, obwohl die Internationalisierung der französischen Unternehmen und die Öffnung ihrer Kapitalstruktur einen Wandel herbeigeführt haben. Umgekehrt gilt Deutschland als Hort des 'rheinischen Kapitalismus' mit dauerhaften Kapitalverflechtungen, während die jüngsten Steuerreformen die bereits spürbaren Veränderungen in diesem Beriech noch verstärken werden", heißt es im Abschlussbericht der Reflexionsgruppe. Dabei sind die Veränderungen auf beiden Seiten der Grenze in vollem Gange: So spielt zwar der Zentralstaat in Frankreich weiterhin die Hauptrolle, aber die Sozialpartner und die Gebietskörperschaften gewinnen allmählich an Gewicht. Und in Deutschland unterliegt die traditionell starke Selbstregulierung durch mächtige Verbände einem Wandel, der mehr Flexibilität in das System einziehen lässt.
Die Rahmenbedingungen einer globalisierten Handelswelt ändern sich - oder vielmehr werden sie erst geschaffen. Die WTO erfährt durch ihre lediglich mittelbare demokratische Legitimation in den letzten Jahren steigende Skepsis bis Ablehnung, die sich am sichtbarsten in Bewegungen wie Attac manifestiert. Aber auch die Enquete-Kommission des Bundestages forderte von der Welthandelsorganisation mehr Transparenz, länderübergreifende Diskussionsforen und die Einbindung von Nichtregierungsorganisationen. Die Gestaltung der Globalisierung kann sich aber darauf nicht beschränken. Die Internationalisierung der Märkte macht zumindest für die Unternehmen die Grenzen durchlässig - mit der Folge fortschreitender Unternehmensverflechtung und der Aufteilung wichtiger Weltmärkte an einige wenige. Unternehmerische Aktivitäten wachsen aus dem Geltungsbereich nationaler Rechtsordnungen hinaus - und in rechtsfreie Räume hinein. "Gemeinsame Grundsätze sollten vor allem bezüglich des Wettbewerbs gesucht werden. Jedes Land hat die Aufgabe, Monopolmacht von Unternehmen zu verhindern und auf diesem Gebiet mit anderen Staaten zusammen zu arbeiten. Eine Industriepolitik, die darauf abstellt, möglichst große nationale Konzerne zu schmieden, ist weder für die eigene Wirtschaft noch für die Weltwirtschaft auf Dauer von Vorteil", ist Johann Eekhoff überzeugt.
Der globale Markt bedarf einer politisch-rechtlichen Rahmensetzung - und bislang fehlt genau dieser. Natürlich wird der Ruf nach Regulierung vor allem in Krisenzeiten immer lauter. Aber es geht weder um staatliche Intervention noch um wirtschaftliches Eingreifen durch Protektionismus, denn ökonomische Grenzen sind dem Projekt Entgrenzung zu Genüge gesetzt. Die Auswirkungen der Globalisierung haben zu der Erkenntnis geführt, dass ohne globale Spielregeln das Projekt nicht funktionieren kann. Verhaltenskodizes für Unternehmen, weltweite soziale Standards, die Schaffung einer möglicherweise globalen Wirtschafts- und Sozialordnung erfordert nicht nur eine Vernetzung der Akteure, sondern auch ein hohes Maß an Kreativität. Denn die sozialen und regionalen Brüche, Polarisierungen und Ungleichheiten können nicht durch ein protektionistisches Rückdrehen an der globalisierten Welthandelsuhr geändert werden. Es geht darum, einen globalen ordnungspolitischen Rahmen zu schaffen, in dem Staaten, Wirtschaft und Zivilgesellschaft das Projekt grenzenloser Freihandel miteinander gestalten können.
Constanze Hacke arbeitet als freie Wirtschaftsjournalistin in Köln.