Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat schon vor wenigen Jahren mit seinem Buch zu den Schattenseiten der Globalisierung für Aufsehen gesorgt. Nun schaut er zurück: Was war die New Economy und warum ist sie Ende der 90er-Jahre so spektakulär in sich zusammengebrochen?
Stiglitz ist nicht nur Wirtschaftswissenschaftler; er war auch lange Jahre Vorsitzender des Sachverständigenrats für Wirtschaftsfragen unter US-Präsident Clinton, dann Vizepräsident und Chefvolkswirt der Weltbank. Sein Befund ist eindeutig: Das Gleichgewicht von Staat und Markt war aus der Balance geraten.
Die Praxis der Deregulierung und eine Ideologie, die dem Markt alles, dem Staat aber kaum etwas zutraut, waren nicht nur für die beispiellose Spekulationsblase verantwortlich, sondern auch für die nachfolgende Vernichtung von Unternehmenswerten und Arbeitsplätzen, für die Möglichkeit Einzelner, ihre maßlose Gier auf Kosten der Allgemeinheit zu befriedigen, und eben auch für die illegalen Praktiken von Managern, vor ihren Aktionären und der Öffentlichkeit durch "kreative Buchführung" den wahren Unternehmenswert zu verschleiern.
Wie kam es zu diesem "irrationalen Überschwang" (Greenspan)? An erster Stelle macht Stiglitz die Deregulierungsmanie für die Geschehnisse verantwortlich. Er ist kein grundsätzlicher Gegner der Deregulierung, beharrt aber darauf, dass es in vielen Bereichen zur Sicherung des Wettbewerbs gesetzlicher Regelungen bedarf. An zweiter Stelle waren es die Banken, die für die Aktienblase verantwortlich waren. Sie haben durch frisierte Bewertungen und durch Beihilfe zu Finanzdelikten die Spekulationen wider besseres Wissen weiter angeheizt. Auch die fehlerhafte Politik der US-Notenbank habe zu dieser Entwicklung mit beigetragen. Sie habe es versäumt, der Spekulationsblase rechtzeitig entgegenzusteuern.
Amerikanische "Doppelmoral"
Ein zweites Thema bei Stiglitz ist die Art und Weise, wie diese wirtschaftliche Grundideologie von Deregulierung und freien Märkten die außenwirtschaftlichen Beziehungen der USA prägten. Während die Vereinigten Staaten andere Länder drängten, ihre Märkte zu öffnen, blieb der amerikanische Markt selbst in vielen Bereichen abgeschottet. Stiglitz spricht von einer "Doppelmoral" amerikanischer Außenwirtschaftspolitik, die anderen Ländern Leistungen abverlange, die man selbst nicht zu erbringen bereit ist.
So bleibt für Stiglitz von der Globalisierung der fade Nachgeschmack, dass sie vornehmlich amerikanischen Interessen gedient hat. Die anfängliche Euphorie, Globalisierung nach amerikanischem Vorbild könne die Armutsschere zwischen Nord und Süd schließen, ist längst der Ernüchterung gewichen, dass die Kapitalströme wieder aus den Entwicklungsländern abwandern und dass Ansätze zur Demokratisierung vor allem in Südamerika durch falsche Globalisierungskonzepte zunichte gemacht worden sind. Gewinner der Globalisierung waren die Finanzinteressen der USA; Verlierer war die amerikanische Glaubwürdigkeit.
Der normative Horizont von Stiglitz ist an einem "neuen demokratischen Idealismus" orientiert, der zwischen Staat und Markt angesiedelt ist. Staatliche Reglementierung ist in vielen Bereichen notwendig, ebenso staatliche Finanzierung von Grundleistungen. Dazu bedarf es einer vernünftigen finanziellen Ausstattung des Staates. Stiglitz ruft in Erinnerung, dass Märkte Mittel, aber kein Selbstzweck sind. Als gravierendste Form des Marktversagens sieht er die Arbeitslosigkeit; folglich wird staatliche Wirtschaftspolitik nicht am Ziel der Inflationsbekämpfung, sondern der Vollbeschäftigung gemessen.
Der "neue demokratische Idealismus" ist in seinen Grundannahmen und Zielsetzungen den Ideen der europäischen Sozialdemokratie verpflichtet. Inwieweit er in dem stärker individualistisch geprägten Amerika Wurzeln schlagen kann, muss allerdings skeptisch beurteilt werden.
Die Bestandsaufnahme des Booms der 90er-Jahre ist informativ und flüssig geschrieben, vermeidet fachlichen Jargon und ist dem Ziel verpflichtet, die Menschen darüber aufzuklären, wie die grundlegenden Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft funktionieren. Der Blick hinter die Kulissen ist systematisch; der Leser profitiert von den profunden Kenntnissen des Autors. Das macht das Buch zu einem Glücksfall auch für die politische Bildung: engagiert, aber nicht parteiisch, fundiert, aber nicht detailversessen, systematisch, aber nicht abstrakt - ein Buch, dem nicht nur Leser zu wünschen sind, sondern auch ein wenig Wirkung dort, wo die Weichenstellungen für die Wirtschaft vorgenommen werden. Matthias Zimmer
Joseph E. Stiglitz
Die Roaring Nineties. Der entzauberte Boom.
Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt.
Siedler Verlag, Berlin 2004; 348 S., 24,- Euro