Einleitung
"Was ist eine Nation?" fragte der französische
Religionswissenschaftler Ernest Renan (1823 - 1892) vor mehr als
einhundertundzwanzig Jahren.
Seine Antwort: "Eine Nation ist ein
geistiges Prinzip, das aus tiefgreifenden Verbindungen der
Geschichte resultiert, eine spirituelle Verbindung." Zweierlei sei
wichtig, um jene große Solidargemeinschaft zu begründen:
zum einen die Vergangenheit, der gemeinsame Besitz eines reichen
Erbes an Erinnerungen, zum anderen die Gegenwart, der Wunsch,
zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten: "Die Existenz
einer Nation ist ein Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt."
Renan stellte eine Gretchenfrage und beantwortete sie mit der Rückschau auf die Geschichte und deren Annahme in der Gegenwart. Beide Male geschieht dies subjektiv: als Sicht und als Wille, und beide Male ist die Einheit bereits vorgegeben. Für Gegenwart und Zukunft ist die Subjektivität als Appell verständlich. Doch gilt dies auch für die Geschichte? Renan lehnte es ab, sie objektiv zu bestimmen oder zu bewerten. Im Gegenteil, er verwarf frühere Definitionen der Nation, etwa anhand einer bestimmten Bodenbeschaffenheit, anhand der Rasse, Sprache, Interessen, Religion, Geographie oder militärischer Notwendigkeiten. Neu war die Behauptung einer Einheit, die in der Rückschau auf die Vergangenheit als gewordene empfunden wurde.
Was fangen die Deutschen heute mit Renan an? Seine Aussagen einfach zu übernehmen macht verlegen, denn es fehlt die subjektive Gewissheit und Sicherheit: über die Vergangenheit und für den Appell in der Gegenwart. Wenn etwa Politiker versichern, sie seien stolz darauf, Deutsche zu sein, so ist dies eher eine Minderheitsmeinung. Der Deutsche Bundestag hat mehrheitlich die historische Widmung des restaurierten Reichstagsgebäudes, "Dem Deutschen Volke", dadurch ergänzt (oder ihr widersprochen?), dass er in der Vorhalle einen Erdhaufen "der deutschen Bevölkerung" gewidmet hat, zu dem jeder Abgeordnete einen Eimer Heimaterde schütten sollte.
Wer als "Verfassungspatriot" (Dolf Sternberger) das Grundgesetz aufschlägt, findet in der Präambel zwar den Begriff "Deutsches Volk", danach aber ist die Rede von den "Deutschen in den Ländern", und die Staatsrechtslehre verweist auf den föderalistischen Staatsaufbau, nach dem es das Bundesvolk und 16 Landesvölker gibt. Immerhin schließt die Aufzählung der Staatsangehörigen in Artikel 116 GG auch die aus den ehemaligen Ostgebieten Geflohenen oder Vertriebenen "deutscher Volkszugehörigkeit" ein. Dieser Volksbegriff ist somit umfassender als der juristische.
Im Herbst 1989, vor dem Fall der Mauer, lautete nach dem Bekenntnis zur Demokratie ("Wir sind das Volk!") der zweite Sprechchor vieler DDR-Bürger: "Wir sind ein Volk!" Angehörige der westdeutschen politischen Elite protestierten damals gegen das Wort "Wiedervereinigung". Und Willy Brandt nahm mit seiner Äußerung, nun werde "zusammenwachsen, was zusammengehört", die Einheit der Nation jedenfalls nicht als Gegebenheit an. Verweisen Versicherungen, das deutsche Volk habe unbeschadet der politischen Teilung als solches weiter existiert, nur auf das Überdauern familiärer Beziehungen? Oder übertrugen sie die juristische Behauptung der Präambel des Grundgesetzes, mit ihm stellvertretend für "alle" Deutschen gehandelt zu haben, und ihre Fortsetzung durch die Hallsteindoktrin, welche die völkerrechtliche Anerkennung des zweiten deutschen Teilstaates lange verhinderte, auf die politische Wirklichkeit? Wer die Geschichte der deutschen Teilung schreibt, wird sie kaum als ruhmreiches Zeugnis für eine nationale Politik würdigen können. Er wird im Nationenvergleich davor zurückscheuen, etwa das aufrüttelnd-beharrliche "Noch ist Polen nicht verloren" als Maßstab zu verwenden.
Verständigung über Begriffe
Die Ursache für eine solche Verwirrung der Aussagen liegt vor allem in der Begriffsverwendung. Nation und Volk sind nicht dasselbe. Der Jurist verwendet den Begriff "Volk" bei seiner Definition des Staates neben "Staatsgebiet" und "Staatsgewalt". Unter "Volk" bzw. "Staatsvolk" versteht er alle Menschen, die ein Gebiet bewohnen und der Staatsgewalt unterworfen sind. Sie können mit diesem Gebiet einem anderen Staat einverleibt werden, und sie können die Staatsgewalt selbst in Anspruch nehmen. Doch was geschieht, wenn sie aus diesem Gebiet vertrieben werden? Und wird, wenn das Volk die Staatsgewalt übernimmt, deren bisherige Struktur verändert, oder wird sie ungeachtet der Behauptung der "Volkssouveränität" beibehalten und dient dann dazu, eine neue Herrschaftsordnung zu legitimieren?
Dem Begriff "Nation" fehlt eine solche
Missverständlichkeit.
Mit ihm verbinden sich
Unabhängigkeit und Freiheit, und zwar sowohl die innere wie
die äußere. Die Nation ist das souveräne Volk.
Allerdings führt auch dies zu einer Ambivalenz: Wird die
Abgrenzung nach außen, die Unabhängigkeit von Fremden,
als primär angesehen, dann hat die Machtverteilung im Innern
des Staates nur sekundäre Bedeutung und äußert sich
als Forderung, sich nicht von außen in die inneren
Verhältnisse einzumischen. Umgekehrt kann der innerstaatliche
Machtkampf zwischen Bevölkerungsgruppen, ganz gleich, wie
diese bezeichnet werden, als Stände, Klassen oder Schichten,
dazu führen, dass die Unabhängigkeit nach außen
vernachlässigt wird.
Dies sind freilich nur die Perspektiven innerhalb einer Nation. Allgemein verwandt können sie für deren äußere Beziehungen eine übereinstimmende Begriffsbildung erzeugen, der die Gleichwertigkeit zugrunde liegt: internationale Ordnung, internationales Recht oder auch Nationalitätenfrage, bei der Minderheiten Anspruch auf Freiheit und Unabhängigkeit oder zumindest auf Gleichbehandlung innerhalb der Nationalstaaten erheben. Stellt eine Nation die Gleichheit anderer in Frage, erhebt sie einen Herrschaftsanspruch, so kann dieser, notfalls durch Krieg, zurückgewiesen oder eine übernationale Ordnung begründet werden. An die Stelle des Vertrags zwischen Rechtsgleichen tritt eine neue Herrschaftsordnung.
Heute ist das Wort "Nation" in Deutschland geradezu verpönt. Dies kann nach dem "tausendjährigen Reich" der Nationalsozialisten nicht überraschen. Verwunderlich bleibt jedoch, dass die Deutschen auch fast 60 Jahre nach dem Ende des "Dritten Reiches" ihre Unbefangenheit gegenüber der eigenen Geschichte nicht wiedergewonnen haben - obschon sich doch schon zwei Generationen darum bemüht haben. Dieser Prozess ist schwierig, vor allem, wenn er nicht vom Vorwurf des Tuns oder Unterlassens gegen den Zeitgenossen getrennt wird, wenn ein zweites Mal, nach dem Kriegsschuldvorwurf des Versailler Friedensvertrags, eine kollektive Schuld der Deutschen behauptet und aus ihr Individualschuld abgeleitet wird.
Wer Deutschland durchstreift, entdeckt eine Vielzahl von Gedenkstätten - zumeist einstige Konzentrationslager, in denen Juden, Sinti und Roma, Angehörige "minderwertiger" Völker vernichtet, aber auch die deutschen politischen Gegner misshandelt und ermordet wurden. Was ist die Botschaft dieser Mahnmale und Gedenkstätten? Die Täter von damals sind ganz überwiegend gestorben. Handelte es sich bei ihnen um die Angehörigen einer Generation, die in einer vielleicht exzeptionellen historischen Situation versagt haben, die ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind? Oder ist die ganze Generation, ja das deutsche Volk als überzeitliche Einheit, schuldig geworden? Den Schluss von der Individualpsychologie auf die Kollektivpsychologie zu ziehen, lag in der alten Bundesrepublik nahe - vor allem für die unbelastet gebliebenen jungen Deutschen. Doch kann sich niemand dem historischen Erbe entziehen. Die Bürde muss bewältigt werden.
Richard von Weizsäckers berühmte Rede über die
vom Nationalsozialismus befreiten Deutschen 1985 hilft nicht weiter
- selbst wenn die Wortverbindung von national und sozialistisch
aufgelöst würde. Sein
Versuch, die Deutschen nach vierzig Jahren mit dem Ergebnis der
Katastrophe von 1945 zu versöhnen, musste misslingen, weil
seine Interpretation des äußeren Geschehens historisch
anfechtbar
und Befreiung eben nicht schon
Herstellung der Freiheit ist.
Will der Deutsche Deutscher sein? Die Geschichte seit 1945 unter
diesem Aspekt zu befragen erscheint nicht unberechtigt. Das Werden
eines politischen Europas ist objektiv gesehen nicht der
Zusammenschluss Gleichberechtigter gewesen. Der westdeutsche
Teilstaat hat die Wiederaufnahme in den Kreis der Nachbarstaaten
begehrt, und diese waren auf seine Wirtschaftskraft angewiesen.
Doch war subjektiv die Politik der Bonner Republik von
Selbstzweifeln geplagt, von dem Wunsch etwa, selbst keine weit
tragenden Entscheidungen treffen zu müssen, um vor der
eigenen, eben der nationalen Verantwortung fliehen zu können.
Für Renan war klar, wer Franzose war - aber hat dies jemals auch für den Deutschen gegolten? Renan hatte mit seiner subjektiven Definition der Nation nichts anderes getan, als deren Bejahung der Nation für die Zukunft, das Plebiszit, auf die Vergangenheit zu übertragen. Mit seiner Kritik an den objektiven Kriterien seiner Zeit verschleierte er, dass er die Nation als solche, als Einheit, tatsächlich als gegeben ansah: Sie war der historisch gewordene Staat, der Staat in seiner reinsten Abstraktion - ohne Bezugnahme auf seine Struktur, insbesondere auf die Organisation der Staatsgewalt, und ohne die Festlegung auf ein Gebiet. Doch alle von ihm verworfenen objektiven Kriterien waren Elemente der historischen Einheitsstiftung, und sie blieben es auch für die Zukunft. Dem Plebiszit konnten auch diejenigen zustimmen, die Elsass-Lothringen zurückgewinnen oder das linke Rheinufer als natürliche Grenze erobern wollten, die Anhänger der Wiederherstellung des Königtums oder des Kaisertums und die Republikaner. Auf die Einheit des Staates sollten die politischen Kräfte zentriert werden.
Renans Orientierung der Nation am Staat erleichtert es den
Deutschen, sich über ihn zu verständigen.
Schließlich war ihnen eine solche Orientierung schon mit dem
"Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation" vorgegeben. Jenes
"alte Reich" erhob den Anspruch, das weströmische Imperium
fortzusetzen, und stand als "heiliges" in der Tradition Kaiser
Konstantins, der das Christentum zur Staatsreligion erhoben hatte.
Die Deutschen waren danach das auf diese Staatszwecke bezogene
Trägervolk.
Dieses bestand aus "Stämmen"
, die der Kaiser auf den imperialen
Anspruch verpflichtete und damit zu einigen suchte. Der Einheit des
Reichs stand aber die Vielfalt gegenüber. Das 1922 zur
Nationalhymne erklärte Deutschlandlied von 1841 spricht daher
nicht von Einheit, sondern von "Einigkeit". Sicherlich konnte diese
im Deutschen Bund und sogar noch im "Zweiten Reich", das ein
erbliches Kaisertum
geschaffen hatte, als politisches
Ziel angesehen werden. Die 1918 geschaffene Republik beseitigte den
fürstlichen Anachronismus, behielt aber die
föderalistische Grundstruktur bei. Sie restaurierte den Staat
und machte die politischen Parteien zu neuen Herrschern. Das
"Dritte Reich" beseitigte sie, ohne dass es selbst das Reich neu
gegliedert hätte. Nach 1945 schufen die Siegermächte
Institutionen politischer Selbstverwaltung. Im Westen wurden diese
mit dem Bund als Zentralgewalt zur Bundesrepublik Deutschland
vereinigt. Die DDR verkörperte den Einheitsstaat. Sie schaffte
1952 die Länder ab - bis sie bei der Wiedervereinigung
Auferstehung feierten.
Der Vergleich mit Renan lässt die Merkwürdigkeit der deutschen Entwicklung scharf hervortreten: Der politische Zusammenbruch von 1918 hatte zwar den Weg zu einer wahren nationalen Einheit freigemacht, er wurde aber dennoch nicht beschritten. Bedurfte es dazu erst des Diktators? Und warum ist die politische Entscheidung der Sieger des Zweiten Weltkriegs nicht nach Aufhebung der deutschen Teilung rückgängig gemacht worden? Das "reiche Erbe der deutschen Geschichte" steht zur kritischen Überprüfung an.
Zum Selbstverständnis der Deutschen
Schon vor dem Untergang des "alten Reichs" war dieses nicht mehr
von der "teutschen Nation" angenommen worden. Friedrich der
Große fand als Rebell gegen das Reich Anerkennung,
und dem Gebilde blieb nur Spott und
Verachtung.
Goethe und Schiller fragten 1796 in
den "Zahmen Xenien": "Deutschland? Aber wo liegt es?/ Ich
weiß das Land nicht zu finden,/ Wo das gelehrte beginnt,/
hört das politische auf." Die Klassiker endeten mit der
resignierenden Feststellung: "Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet
es, Deutsche vergebens." Doch mittelbar, über die Literatur,
war es immerhin möglich. Goethe (im "Egmont") und Schiller
(vor allem mit dem "Wilhelm Tell" und der "Jungfrau von Orleans")
schufen Bestandteile eines Nationalbewusstseins. Die
Charakterisierung der Deutschen als Volk der Denker und der
Gelehrten und seine objektive Distanz zur Politik machten Schule.
Goethe beschrieb in "Hermann und Dorothea" (1798) das Idyll des
unpolitischen Deutschen, und Spitzweg malte es mehr als zwei
Generationen später.
Ernst Moritz Arndt erweiterte im Anschluss an Johann Gottfried
Herder den Volksbegriff um dieemotionale, demokratische Komponente.
Er führte 1814 die Sprache und als emotionale Werte
Zuverlässigkeit, Treue, Liebe, aber auch Mut an. Seiner
Beschreibung des deutschen Charakters fügte er den Zorn auf
"welschen Tand" und auf den "Franzmann" hinzu. Er tat dies
während des "Befreiungskriegs". Indessen taugt jener nicht
dazu, zum nationalen Freiheitskrieg erhoben zu werden, war er doch
nur ein preußischer "Befreiungskrieg", kein deutscher;
dagegen stand die staatliche Struktur Deutschlands. In der
Vielvölkerschlacht vor Leipzig kämpften Truppen der
Rheinbundstaaten auf Napoleons Seite - was das Überlaufen der
Sachsen und Württemberger freilich nicht verhinderte. Der
preußische Volkskrieg
gegen Napeolon I. und die Franzosen
erfolgte in Übereinstimmung mit der beibehaltenen
Herrschaftsordnung der Monarchie und des Adels.
Die mit Napoleon verbündeten
Rheinbundfürsten, die immerhin ein Drittel seiner
Russlandarmee gestellt hatten, vollzogen nach Österreichs
Beitritt zur preußisch-russischen Koalition den politischen
Schwenk und retteten damit ihre Herrschaft. Noch mehr: Der
Rheinbund diente dem Deutschen Bund von 1815 als politisches
Modell.
Verband sich der süddeutsche Konstitutionalismus im
Vormärz mit der Freiheitsidee? Der Verfassungsstaat war ein
Mittel der Staatsbildung, das neben den klassischen Mitteln
dynastische Kontinuität,
Verwaltung, Armee und Strafrecht
durch die Gewährung von Mitbestimmungs- und Freiheitsrechten
für die Untertanen ein rechtliches Gegengewicht zu den
Standesherren, den Mediatisierten, schuf. Die Revolution von
1848/49 knüpfte an ihn an - und scheiterte an Preußen,
dessen König die ihm angebotene Kaiserkrone ablehnte.
Das Verhältnis zu Frankreich war für die Deutschen
stets bedeutungsvoll - und zwiespältig. Frankreich bot
politisch Verfolgten Asyl und galt als Exportland für
Umstürze. Stets revolutionsbereit und -willig taugte es als
politisches Vorbild wenig, nachdem die Revolution in der Herrschaft
Napoleons und später in der Restauration der Bourbonen geendet
war - ganz abgesehen davon, dass der deutsche Hang nach "Ruhe und
Ordnung" als Reaktion auf die Schrecken des
Dreißigjährigen Kriegs, aber auch auf die
Verwüstungen der Pfalz durch den "Sonnenkönig" und die
fast zwanzig Jahre währenden napoleonischen Kriege
verständlich war. Frankreich blieb eine unberechenbare
Bedrohung. Als seine Intellektuellen erneut die Rheingrenze als
"natürliche Grenze" einforderten, entstand ein deutsches
Nationalbewusstsein, von dem die "Wacht am Rhein" und das
Deutschlandlied zeugen.
Letzteres übernahm das "alte
Reich" als ungefähre geographische Einheit: "von der Maas bis
an die Memel, von der Etsch bis an den Belt". Es war der Bereich
der deutschen Kulturnation, der gegen Frankreich geschützt
werden sollte.
War der Deutsche "Der Untertan", wie ihn Heinrich Manns
berühmter Roman 1914 beschrieb? Der "Soldatenkönig"
Friedrich Wilhelm I. hatte seine Untertanen geprügelt und dies
mit der Aufforderung begleitet, sie sollten ihn lieben. Mit dem
Zuruf "Hunde, wollt Ihr ewig leben" hatte Friedrich der Große
seine Grenadiere bei Kunersdorf in den Tod gejagt. Doch ist das
Verhältnis der Preußen zur Obrigkeit vielschichtiger.
Diese war zur Beschützerin der Glaubensfreiheit geworden und
wurde durch einen "aufgeklärten Absolutismus" geprägt.
Das "Räsonniert, aber gehorcht"
markierte zunächst die Grenze,
die der premier serviteur de l'état zog. Doch war der
Bürger bereit, mit Kants kategorischem Imperativ, mit der
Bereitschaft des Individuums, sein Interesse dem Gemeinwohl
unterzuordnen,
der Staatsgewalt entgegenzukommen.
Dabei blieb es, obschon der preußische König nach dem
Wiener Kongress sein Verfassungsversprechen nicht erfüllte.
Der Staat honorierte dies mit der Gewährung der
Gewerbefreiheit, und er sorgte für die Arbeiter mit der
Sozialgesetzgebung. Beides waren wesentliche Schritte zur
Nationsbildung.
Wie überall war der Krieg auch in Deutschland ein Mittel
zur Einheitsstiftung.
Dies gilt für den Krieg von
1813/14 als Kampf gegen die Fremdherrschaft und den Krieg von
1870/71 als Fortsetzung, denn er wehrte Frankreichs Anspruch auf
Einmischung in die deutschen Verhältnisse ab. Als
Einigungskrieg, der die süddeutschen Fürsten zur Aufgabe
ihrer Souveränitätsideologie zwang und von ihrer
Rheinbundmentalität löste, war er ein Schritt der
deutschen Kulturnation zur Staatsnation, und dies auch noch in
anderer Hinsicht: als Wiedergutmachung des von Ludwig XIV.
begangenen historischen Unrechts, denn das Elsass gehörte zur
deutschen Kulturnation. Nur prägte nicht sie das Reich,
sondern der preußische Militarismus - wie die Ereignisse in
Zabern und das eine Generation währende Ausnahmerecht für
das "Reichsland" zeigten.
Der Erste Weltkrieg förderte im Deutschen Reich die Einheit, aber auch die Konzentration der Macht. Insofern gab es keinen Unterschied zum Zweiten Weltkrieg, der den Charakter des Volkskriegs als Vernichtungskrieg offenlegte. Der Kampf mit der Sowjetunion übertrug den deutschen Bürgerkrieg, den Kampf gegen die inneren Feinde, die als Kommunisten Gegner der Nation waren, auf den äußeren Feind. Hitler bediente sich der Protestbewegung gegen den Versailler Frieden und verband sie mit der Rasseideologie, welche die Unterdrückung und Ausrottung "minderwertiger" Rassen und Völker legitimieren sollte. Der Antisemitismus mündete im Holocaust. Die drakonische Erzwingung des Durchhaltens und die bevorstehende militärische Niederlage zerstörten den Anspruch des "Führers", das nationale Interesse Deutschlands zu repräsentieren - wie nicht zuletzt das Attentat vom 20. Juli 1944 zeigte.
Im historischen Rückblick ist die Bilanz negativ. Die
deutsche Kulturnation ist nicht Staatsnation geworden. Dem stand
geographisch die Option für "Kleindeutschland" entgegen,
zunächst 1848/49 und sodann 1866/71. Und es fehlte stets die
Freiheit , eindeutig in der Zeit des Deutschen Bundes.
1848 scheiterte die Nationsbildung an der Monarchie. Es bedurfte im
Kaiserreich einer langen Zeit, bis die Verwirklichung des
Rechtsstaates ein Mehr an Freiheit bedeutete. 1918 brachte die
Revolution einen bloßen Herrschaftswechsel, den weder Volk
noch Elite annahmen. Die "goldenen Jahre" der Weimarer Republik
waren nur die hypertrophe Blüte des Individualismus als
Reaktion auf den Obrigkeitsstaat. Das "Dritte Reich" bedeutete mit
seiner Freiheitsfeindlichkeit, mit der Zwangsemigration seiner
Kulturträger und dem Widerruf der jüdischen Assimilation,
mit der Gewaltherrschaft und den Konzentrationslagern, mit seiner
Vernichtung "minderwertiger" Völker und der ganzen
Primitivität seines rassischen Herrschaftsanspruchs das
vorläufige Ende der deutschen Kulturnation.
Die Kulturnation zu erneuern und aus ihr die deutsche
Staatsnation zu begründen, ist nach 1945 erneut gescheitert:
mit der Abtrennung Deutsch-Österreichs, dem Verlust der
Ostgebiete und der deutschen Teilung, der Errichtung zweier
konträrer Herrschaftssysteme. Die auf Befehl der westlichen
Siegermächte errichtete Bundesrepublik schuf sich ein
föderalistisch-parlamentarisch-bürokratisches
Herrschaftssystem, welches das Volk von politischen
Grundentscheidungen ausschloss
und mit der Übertragung der
Kulturhoheit auf die Länder Deutschland in die Zeit vor der
Reichsgründung (1871) und der Weimarer Republik (1919)
zurückversetzte. Die Aufhebung der deutschen Teilung im
Oktober 1990 hat zwar die äußere Einheit wieder
hergestellt, indem sie den westlichen Teilstaat um den
östlichen erweitert hat. Doch ist die föderalistische
Barriere auf dem Weg zurück zur deutschen Kulturnation
geblieben. Es ist mühsamer geworden, ihn zu gehen.
Was tun?
Die bedingungslose Kapitulation von 1945 hat dennoch den Weg vorgezeichnet: Die Deutschen können seitdem die Vergangenheit weder annehmen noch über sie hinwegsehen und in Geschichtslosigkeit fliehen. In der Generationenabfolge nach 1945 konnte diese als Verdrängung selbst erlebter Vergangenheit praktiziert und sodann der Vätergeneration vorgeworfen werden. Nunmehr könnte sie das Bewusstsein einer neuen Generation, etwa der Zwanzig- bis Dreißigjährigen, wiedergeben. Die deutsche Geschichte lässt sich nicht durch den Vergleich mit anderen Völkern umgehen, auch wenn über deren Entwicklung Grillparzers Wort "Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität" steht und die Nationalgeschichte demnach stets als eine nur in Einzelheiten abweichende Verbrecher- und Verbrechensgeschichte (mit dem "Schurkenstaat" als Vergleichskategorie?) aufzufassen wäre.
Die Deutschen sind der Geschichte gegenüber offen, denn sie
haben den Prozess ihres Werdens zur Staatsnation noch nicht
abgeschlossen.
Sie sind auch dem Vergleich mit
anderen Völkern gegenüber offen; der
Bewertungsmaßstab ist der Anspruch an die Nation. Die
deutsche Kulturnation gibt den Maßstab für diese
Auseinandersetzung vor, die ohne Vorbedingung, ohne Konzession an
den jetzigen oder an einen früheren Zeitgeist zu erfolgen hat.
Geschichte ist Vergangenheit, "wie sie wirklich gewesen ist"
. Sie ist die Geschichte der
Herrscher, der eigenen wie der fremden, und sie ist ebenso die
Geschichte der Beherrschten, der Untertanen und der Opfer der
Herrschaft. Beide Aspekte gehören zusammen. Es geht um
Legitimation von Herrschaft und um ihre Ausübung, um
Verantwortung für das politisch Geschehene, das Tun und Lassen
in bestimmten entscheidenden Situationen.
Die Historiker stehen vor wichtigen Aufgaben. Können sie
überhaupt erfüllt werden? Die Bestandsaufnahme ist
schwierig. Es gibt eine Überfülle von geschichtlichen
Arbeiten, doch sind sie nur allzu häufig Fragestellungen des
Zeitgeistes verpflichtet, während erhebliche Lücken in
der Forschung bei Grundfragen und deren Aufbereitung bestehen.
Zudem hat sich der Adressatenkreis vergrößert, und die
Medien haben einen anderen Erwartungshorizont geschaffen. Es geht
nicht mehr nur um Geschichtsschreibung, sondern um kollektive
Erinnerung: Die Vergangenheit soll unmittelbar nachvollzogen, soll
erlebt werden. Essoll eine Brücke zu den früheren
Zeitgenossen und deren Verhältnis zum kollektiven
Geschehengeschlagen werden. Doch erschwert die Barriere des
Kulturföderalismus die historische Analyse, denn die heutigen
Länder entsprechen nicht den früheren und werden weder
der RollePreußens noch der Österreichs und schon gar
nicht dem Reich gerecht. Zum Gebot der Wahrheit tritt die Forderung
nach gerechter Würdigung. Sie ist für die Zeit des
Nationalsozialismus besonders dringlich. Der Jurist sollteüber
die Recht- oder Unrechtmäßigkeit des"Dritten Reichs"
urteilen.
Es bleibt die Hoffnung, dass der Bundespräsident als
vergleichsweise machtloser Nachfahre des "aufgeklärten
Absolutismus", als selbstloser Berater das gelehrte, unpolitische
Deutschland aktiviert.
Sicherlich ist der
Bundespräsident kein Geschichtslehrer. Selbst mittelbar
einzuwirken, die Richtung der wissenschaftlichen Arbeit oder gar
deren Ergebnis vorzugeben, ist ihm versagt, ohne dass er damit
freilich aus der wissenschaftlichen Diskussion ausgeschlossen
werden sollte. Seine Aufgabe ist es, die Hindernisse aus dem Weg zu
räumen, die der Freiheit der Wissenschaft entgegenstehen, und
für den unmittelbaren Zugang des Bürgers zur Kultur, zu
Wissenschaft und Kunst zu sorgen. Der Bundespräsident ist der
unentbehrliche organisatorische Helfer. Er nutzt seine
Autorität, um die bereits vorhandenen Kräfte - und sie
stehen in ausreichendem Maße zur Verfügung - zu
bündeln und die wissenschaftliche Arbeit für den
Bürger überschaubar zu machen.
Dabei kann er kraft der
Autorität seines Amtes die Grenzen der deutschen Geschichte
weit ziehen. Er ist weder an die bestehenden Staatsgrenzen, noch an
die Staatsräson gebunden. Er kann daher weiter als die
politische Gegenwart greifen und auch Österreich und
Preußen, die verlorenen Ostgebiete, die Vertreibungsgebiete
und die Zwangsemigrationen der beiden letzten Jahrhunderte
einschließen, ohne sich damit
dem Vorwurf des Revanchismus auszusetzen. Und er kann ebenfalls
kraft seiner Stellung dafür sorgen, dass die Ereignisse und
die Eliten der deutschen Geschichte auch in den Blick der anderen
Nationen geraten.
Doch das Amt gestattet noch mehr: Der Bundespräsident kann unmittelbar zur Bewahrung des kulturellen Erbes eingreifen. Gewissermaßen als Wächter über den Umgang mit der Vergangenheit obliegt es ihm, für die Verwaltung des deutschen Kulturbesitzes zu sorgen. Entsprechendes gilt für die Gegenwart: Die Gründung einer "Deutschen Nationalakademie" ist überfällig. Schließlich ist der Bundespräsident auch für die Außenrepräsentanz der deutschen Kulturnation zuständig, und dies schließt, etwa beim schwierigen Thema der so genannten Beutekunst, den Schutz eines Kernbereichs der Kultur jenseits des politisch Verhandelbaren und Verfügbaren ein.
Die Aufgabe ist groß. Sie wartet darauf, erfüllt zu werden. Das Amt des Bundespräsidenten harrt seiner nationalen Sinngebung. Der Bundespräsident muss nur die bestehenden Freiräume im Bereich der Freiheit der Wissenschaft und der Kunst nutzen und gestalten. All dies dient dazu - und dies ist seine zutiefst politische Aufgabe -, das deutsche Volk wieder Kulturnation werden zu lassen. Dann kann es über seine Geschichte befinden und über deren Annahme das Plebiszit abgeben, eine Staatsnation sein zu wollen.